Die Wurzeln lang ziehen

Maria Topali schreibt über ihre Familie, pontische Identität und die Kleinasiatische Katastrophe – Interview mit Raphael Irmer

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In Maria Topalis Buch geht es um die Kleinasiatische Katastrophe von 1922 und ihre Folgen sowie die Familiengeschichte der Autorin. Der Text widmet sich aber auch allgemeineren Themen wie der Rolle der Frau, Bildung und Tabuthemen in der griechischen Gesellschaft. Diesen Thematiken nähert sich die Autorin aber nicht nur mit einem historisch-biografischen Essay, sondern auch durch einen Lyrik-Teil.

Die Autorin Maria Topali nahm sich die Zeit, mehrere Fragen zu beantworten, die ihr der Neogräzist und Journalist Raphael Irmer zu ihrem Buch gestellt hat.

bedruckter Vorsatz
Die Wurzeln lang ziehen: bedruckter Vorsatz

Was ist genuin pontisch?

Typisch pontisch ist für mich als erstes natürlich die Sprache. Aber auch die Musik – davon kann ich allerdings nicht erzählen, die kann man nur erleben. Die Küche, also Gerichte, Essen und Geschmack. Und Gebirge. Auf jeden Fall auch Weiblichkeit. Denn, obwohl es sehr wichtige männliche Personen gibt, ist der Pontos für mich ein weiblicher Schoß, etwas Warmes wie eine heiße Quelle.

Sie sind in Thessaloniki aufgewachsen. Welche Rolle spielten Ihre pontischen Wurzeln?

Die Mehrheit der Pontos-Griechen zog nach Thessaloniki und nach Nordgriechenland. Sie machen dort nicht die stärkste Bevölkerungsgruppe aus, sind aber sehr dominant. Es gibt in Nordgriechenland heute ganze Dörfer, in denen ausschließlich Pontos-Griechen leben – und in Thessaloniki ganze Wohnviertel. Das bedeutete auch für mich als Kind in den 60er Jahren, dass ich nicht zu den Ausnahmen gehörte. Meine pontischen Wurzeln waren nichts Besonderes. Pontos-Griechen gab es in meiner Klasse, meiner Schule, in der Nachbarschaft, in den Geschäften, überall. Deswegen dachte ich darüber wahrscheinlich auch nie viel nach, als ich in Thessaloniki aufwuchs. Weil man sich unter diesen Umständen nicht als Randgruppe oder Fremdkörper in der Gesellschaft empfindet. Die Frage der Identität in jungen Jahren ist schwierig. Ich habe schon sehr früh gewusst, dass ich sozusagen gemischt bin, also eine doppelte Identität habe, weil ich einen „griechischen“ Vater und eine „pontische“ Mutter habe und mit ihnen aufgewachsen bin. Man weiß also schon sehr früh: Es gibt nicht nur eine Wahrheit, sondern mehrere. Für Menschen wie mich ist diese Kompliziertheit etwas Natürliches – von Anfang an.

Haben Sie Ihre pontische Heimat schon einmal selbst bereist?

Ich war noch nicht dort, aber ich denke sehr oft darüber nach, sie zu besuchen. Das ist für mich sehr gefühlsbeladen, durch die Erzählungen der Anderen und meine eigene Phantasie habe ich starke Empfindungen. Es muss aber etwas passieren, das mich dorthin „einlädt“. Ich kann die Initiative schlecht selbst ergreifen. Vielleicht, weil das für meine Familie eine Geschichte mit einem besonders harten Ende, einem riesigen Trauma ist. Vielleicht habe ich davon ein bisschen was geerbt. Aber das kann sich ändern, ich will da offenbleiben.

Welche Rolle spielen Tabuthemen wie die Säuglingsmorde die in der griechischen Gesellschaft?

Die Säuglingsmorde sind überhaupt nicht das einzige Tabuthema in der heutigen griechischen Gesellschaft. Ich denke hier zum Beispiel auch an die jüdische Vergangenheit von Städten wie Thessaloniki, die jahrzehntelang im Verborgenen blieb. Auch die Säuglingsmorde sind keine Ausnahme, wie ich bei meinen Recherchen mit Erstaunen feststellte. Das heißt, sie sind auch in der Geschichte anderer Vertriebener immer wieder zu finden. Wir erleben in Griechenland, glaube ich, zurzeit eine Phase der Aufklärung über mehrere „schwierige“ Themen, darunter z.B. den Holocaust der griechischen Juden oder die Gräueltaten der griechischen Armee in Kleinasien während des Feldzugs 1921/22. Die neue griechische Literatur, Wissenschaft und Reportagen bringen diese Themen allmählich in den öffentlichen Diskurs.

Welche Kritik haben Sie an den patriarchalen Strukturen der griechischen Gesellschaft?

Es geht mir dabei sowohl um die Frauen in der alten pontischen Gesellschaft, die in mittelalterlichen Umständen lebten, als auch um die Frauen in der heutigen griechischen Gesellschaft. Vergleicht man das zeitgenössische Griechenland mit den anderen EU-Staaten, so stellt man auch fest, dass das Land besonders schlechte Leistungen hinsichtlich der Gleichberechtigung der Frau aufweist. Es hängt wohl damit zusammen, dass unsere Tradition stark orientalisch beeinflusst ist.

Welche Bedeutung hat Bildung und Kultur für Sie persönlich?

Ich bin immer in dem Glauben aufgewachsen, dass man sich durch Bildung retten kann. Bildung war für mich immer der Weg zum Glück, zur Freiheit, zum Licht. Fast wie eine Religion.

Ihrer Autobiographie haben Sie einige Gedichte angefügt. Welchen Bezug haben die zu den pontischen Themen?

Diese Gedichte sind von 1999 bis heute entstanden – beziehungsweise veröffentlicht worden. Nicht bei allen, aber bei mehreren Gedichten, spielt die Problematik der pontischen Herkunft und Sprache, des Frauseins und des Übersommerns als Kind auf dem Berg eine große Rolle. Vielleicht sollte man sogar den autobiographischen Text als Ergänzung zu den Gedichten verstehen, nicht umgekehrt.

Inwiefern ist die Publikation ein Produkt mehrerer?

Glücklicherweise spreche ich Deutsch, so dass ich bei der Übersetzung behilflich sein konnte. Aber das war wirklich keine leichte Aufgabe für beide Übersetzerinnen, sowohl für Doris Wille als auch für Birgit Hildebrandt. Durch meine Deutschkenntnisse weiß ich ihre wunderbare Arbeit zu schätzen. Im Griechischen gab zum Beispiel Originalquellen und Dialekte. Das Buch ist eine Leistung von mehreren Personen, eine enge Zusammenarbeit, die sehr gut geklappt hat. Außerdem sind wir davon ausgegangen, dass der deutschsprachige Durchschnittsleser die historischen Hintergründe der Kleinasiatischen Katastrophe nicht (ausreichend) kennt. Deshalb sah die Verlegerin, Monika Lustig, die Notwendigkeit einer historischen Einordnung, sozusagen einer „Umarmung“ meiner Gedichte und des autobiographischen Essays. Der Journalist Mirco Heinemann, ebenfalls mit pontischen Wurzeln, hat den historischen Rahmen sehr gut bewerkstelligt.

Gibt es Fragen, die nach Ihren Recherchen noch unbeantwortet geblieben sind oder haben sich sogar neue Fragen ergeben?

Ich liebe Geschichten. Als Kind und Jugendliche habe ich immer gerne und aufmerksam zugehört. Ich habe alten Menschen gelauscht, deren Erzählungen andere langweilig fanden, weil mich diese Geschichten immer faszinierten. Wenn du denselben Menschen zu einer vergangenen Sache mehrfach befragst, kriegst du nie dieselbe Antwort, sondern immer eine andere Version, einen anderen Blickwinkel. In diesem Sinne finde ich, dass wir weniger nach Antworten suchen sollten und mehr nach neuen Fragen und Möglichkeiten, um Menschen zu Wort kommen zu lassen. Als Lyrikerin interessiert mich die Fragestellung mehr als Antworten. Ein gutes Gedicht gibt keine klaren Antworten, sondern stellt stattdessen gute und offene Fragen.

Interview: Raphael Irmer. Redaktion: A. Tsingas.

Buch aufgeklappt

 

Das Buch
Die Wurzeln lang ziehen – Eine pontische Spurensuche nach der Kleinasiatischen Katastrophe
Aus dem Griechischen von Doris Wille und Birgit Hildebrandt
Edition CONVERSO, Karlsruhe 2023
Hardcover, Fadenheftung, bedruckter Vorsatz, Lesebändchen
ISBN 9783949558115
Preis: € 24 [D], 24,70 € [A]

 

 

 

top-1, Maria Topali
© Marilena Stafylidou

Die Autorin
Maria Topali wurde in Thessaloniki geboren und lebt in Athen. Sie studierte Jura in Athen und in Frankfurt/Main. Sie schreibt Lyrik und Theaterstücke sowie Rezensionen und Literaturkritik in Zeitungen und Zeitschriften, und übersetzt Literatur aus dem Deutschen.

 

 

top-2, Mirko Heinemann
© privat/diablog

Historische Einordnung
Mirko Heinemann wurde in Thessaloniki geboren. Er studierte Publizistik an der Freien Universität Berlin und arbeitet als freier Journalist in Berlin. 2019 erschien sein Buch „Die letzten Byzantiner“, eine Reportage auf den Spuren seiner pontosgriechischen Familie.

 

 

top-3, Doris Wille
© privat

Die Übersetzerinnen

Doris Wille wurde in Warburg geboren und lebt auf der griechischen Insel Kefalonia. Sie studierte Germanistik und Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin. Seit 1998 arbeitet sie als selbstständige Übersetzerin und Dolmetscherin.

 

top-4, Birgit Hildebrand
© Edition Converso

Birgit Hildebrand wurde in Regensburg geboren und lebt in Berlin. Sie studierte Philologie in Tübingen und München und lehrte viele Jahre als DAAD-Lektorin an der Deutschen Abteilung der Aristoteles-Universität in Thessaloniki. Seit 1989 übersetzt sie zeitgenössische Literatur.

 

 

top-5, Monika Lustig
© Edition Converso

Die Herausgeberin
Monika Lustig wurde in Karlsruhe geboren. Sie studierte Philosophie und Germanistik in Heidelberg und hat dann auf den Inseln Elba, Sardinien und Sizilien gelebt, in der Emilia-Romagna und der Toskana. 2018 gründete sie den Verlag Edition CONVERSO und lebt heute im Schwarzwald, immer das Mittelmeer vor Augen.

 

Raphael Irmer
© privat

Raphael Irmer wurde in Wolfenbüttel geboren. Er studierte Neogräzistik und Byzantinistik an der Universität Hamburg. Seit 2022 lebt er in Magdeburg und absolviert dort ein Volontariat bei der Tageszeitung „Volksstimme“.

 

 

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in diablog.eu
Edition Converso und Doris Wille hier und hier
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Der Verlag
Erklärtes Ziel der Edition Converso ist es, aus sämtlichen Regionen rings ums Mittelmeer, Adria inklusive, und den dort gesprochenen Sprachen, die wie das Meeresgetier schwerlich an künstlichen Grenzen Halt machen, Belletristik, erzählendes Sachbuch, aber auch Lyrik zu bergen, zu übersetzen, zu veröffentlichen – stets in schöner, handwerklich geschliffener Gestaltung, Ästhetik conditio sine qua non.
Wie das Logo der Meeresgöttin Amphitrite mit dem Dreizack in der Hand verrät, ist das Licht der Edition Converso, aufklärerisch gleißend, auf die Kehrseite der Dinge gerichtet, um eingefahrene, stereotypisierte Sehweisen aufzubrechen. So wie diese: Nicht etwa Poseidon, nein, Amphitrite war die Herrscherin über die Meere. Das Machtsymbol wurde ihr mit Mannesbegehren gewaltsam entwendet.

Redaktion: A. Tsingas. Fotos: Marilena Stafylidou, diablog, Doris Wille, Edition Converso, A. Tsingas.

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