Onkel Avraam bleibt für immer hier – Roman von Elena Chouzouri

10. Mai 2023 in Athen: Vorstellung der deutschen Übersetzung

Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: Ελληνικά (Griechisch)

Buchvorstellung am Mittwoch, 10. Mai 2023, 19.00 Uhr im Goethe-Institut Athen (Omirou 14-16, 106 72 Athen) in Zusammenarbeit mit dem Verlag der Griechenland Zeitung. Historische Einordnung des Romans von Prof. Hagen Fleischer, Gespräch mit der Autorin Elena Chouzouri und anschließende Diskussion.

Im März 1943, vor 80 Jahren, begann die Deportation von fast 60.000 griechischen Juden in deutsche Vernichtungslager. Drei Viertel von ihnen stammten aus Thessaloniki, nur wenige von ihnen überlebten. Zu diesem Anlass hat der Verlag der Griechenland Zeitung (GZ) das Buch „Onkel Avraam bleibt für immer hier“ von Elena Chouzouri in der deutschen Übersetzung von Michaela Prinzinger veröffentlicht. Die GZ-Herausgeber Jan Hübel und Robert Stadler sprachen mit der Autorin über ihr Buch.

Doppelcover
Die deutsche und die griechische Ausgabe

Auf der Suche nach der Wahrheit

Wir haben Ihnen Roman „Onkel Avraam bleibt für immer hier“ gerade in unserem Verlag auf Deutsch herausgebracht. Worum geht es im Buch?

Für Alisa waren ein Manuskript mit alten Jahresangaben und drei Fotos, die sie von ihrer Großmutter Luna geerbt hat, der Anlass, von Tel Aviv aus, wo sie lebt und studiert, nach Thessaloniki zu reisen. Sie ist auf der Suche nach den Geheimnissen, die sich hinter diesen Fotos und Jahreszahlen verbergen.
Im Mittelpunkt ihrer Entdeckungen steht die schicksalhafte Liebesaffäre Lunas mit Pavlos, der im griechischen Widerstand gegen die Deutschen kämpft. Es ist sein „ketzerischer“ Weg, Luna vor dem Holocaust, der an 45.000 Juden Thessalonikis verübt wurde, zu retten.
Meine Geschichte behandelt die jüdische Gemeinde der Stadt, das Leid, das der Familie ihrer Großmutter von den deutschen Besatzern zugefügt wurde, bis hin zum März 1943, als die ersten Todeszüge nach Auschwitz abfuhren. Gleichzeitig offenbart sich für Alisa auch, wie glücklich die Familie ihrer Großmutter vor 1941 war, selbst dann, als in Thessaloniki bereits antisemitische und nationalsozialistische Organisationen ihr Unwesen trieben. Einer der schlimmsten antisemitischen Akte war dabei die Brandschatzung des jüdischen Campell-Viertels 1931.

Bruch mit dem Schweigen

Wie kamen Sie auf die Idee, über den Holocaust an den Juden von Thessaloniki zu schreiben?

Als mir klar wurde, dass in Thessaloniki so viele Jahre nach dem Holocaust ein merkwürdiges Schweigen darüber herrschte. Es schien, als ob einige Leute kein Interesse daran hätten, dass dieses schreckliche Ereignis ans Tageslicht kommt, als ob sie die Jahrhunderte alte Anwesenheit sephardischer Juden in der Stadt verschweigen wollten. Ich war darüber sehr aufgebracht und begann, genauso wie Alisa, nach den wahren Ereignissen zu suchen.

Wie waren die Reaktionen in Griechenland, als das Buch veröffentlicht wurde?

Positiv. Die Menschen haben, wie sie mir sagten, etwas über den Holocaust gelernt, aber auch über die langjährige Präsenz der Juden in Thessaloniki, über ihre Geschichte, über das, was sie durchmachen mussten und mit welchen Schwierigkeiten die Wenigen, die aus Auschwitz in ihre Stadt zurückgekehrt waren, konfrontiert wurden. Das ist übrigens ein weiteres und sehr trauriges Kapitel, das im Roman behandelt wird.

Präsenz seit der Römerzeit

In diesem Jahr, konkret war es der März, jährt sich der Beginn der Deportationen der Juden Thessalonikis in die Vernichtungslager der Nazis zum 80. Mal. Ist die Geschichte der griechischen Juden Ihrer Meinung nach ausreichend wissenschaftlich erforscht oder gibt es noch große Lücken?

Bis zum Jahr 2000 herrschte allgemeines Schweigen zu diesem Thema, insbesondere was die Juden Thessalonikis betrifft, die seit 1492 in der Stadt lebten. Zuvor waren sie aus Spanien vertrieben worden, das Osmanische Reich hatte sie mit offenen Armen aufgenommen. Die Präsenz von Juden in Thessaloniki geht aber bis auf die Römerzeit zurück, wie die entsprechenden Briefe und Besuche des Apostels Paulus belegen.

Ab dem Jahr 2000 ändern sich die Dinge jedoch langsam aber sicher. Griechische Historiker, hauptsächlich jüdischer Herkunft, wie Rena Molho, Jakov Simbi, Rika Benveniste, Odette Varon-Vassard, Leon Nar, Yorgos Liolos oder Frangiski Ambatzopoulou, erforschen und studieren die Geschichte des griechischen Judentums, in erster Linie von Thessaloniki, und veröffentlichen äußerst aufschlussreiche Studien. Einen wichtigen Mosaikstein steuert das 2004 erschienen Buch des international bekannten britischen Historikers jüdischer Herkunft Mark Mazower bei. Sein Titel: „Salonica. City of Ghosts” (Thessaloniki. Stadt der Geister). Gleichzeitig wird eine ganze Reihe von Zeugnissen Holocaust-Überlebender oder ihrer Nachkommen veröffentlicht, die dieses dunkle Kapitel der Menschheit noch weiter erhellen. Sicherlich gibt es noch Lücken in der Forschung, aber ich glaube, dass der Schleier des Schweigens gelüftet wurde, und auch, dass das im Bau befindliche Holocaust-Museum in Thessaloniki viel zur Bereicherung unseres Wissens beitragen wird.

Beteiligung am Widerstand

Eines der Themen, die Sie in Ihrem Roman ansprechen, ist die Teilnahme griechischer Juden am Widerstand gegen die deutschen Invasoren. Wie erklärt es sich, dass dieses Thema in Griechenland kaum und im Ausland gar nicht bekannt ist?

Ich denke, es hat mit dem allgemeinen Schweigen zu tun, das, wie schon erwähnt, bis zum Jahr 2000 zu den griechischen Juden und dem, was sie während der deutschen Besatzung bzw. unter dem Naziregime erlitten haben, herrschte. Je stärker diese verschwiegenen Facetten ans Tageslicht kommen, desto deutlicher zeichnet sich ein Bild der Wirklichkeit ab. Ein Teil davon war die Beteiligung griechischer Juden am – wie wir es in Griechenland nennen – Nationalen Widerstand. Sie leisteten in den Reihen der Griechischen Befreiungsarmee ELAS einen wichtigen Beitrag. Wenn ich mich recht erinnere, hatte das Jüdische Museum Athen 2014 eine Ausstellung mit Fotos und Material des jüdischen Widerstands organisiert. Diese Ausstellung war von einer ausführlichen Präsentation über das Mitwirken griechischer Juden in der ELAS durch den Historiker Iason Chandrinos begleitet. Gezeigt wurde sie auch im Jüdischen Museum von Thessaloniki, wo sie dann auch meine fiktive Heldin Alisa besucht.

In Griechenland treten immer wieder neonazistische und antisemitische Parteien und Organisationen auf. Kürzlich hat das griechische Parlament die Teilnahme einer Neonazi-Partei an den Parlamentswahlen unterbunden. Wie soll man Ihrer Meinung nach mit diesem Phänomen umgehen?

Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass wir nicht alles über einen Kamm scheren sollten. Die griechischen Neonazi-Parteien der Gegenwart sind nicht nur antisemitisch, sondern ganz allgemein rassistisch und homophob. Antisemitismus – Antijudentum – ist in unserem Land nichts Neues und taucht leider bei einer Vielzahl von Parteien und Gruppierungen unterschiedlichster politischer Provenienz auf.
Ich will damit sagen, dass man antijüdische Stereotypen und Antipathie gegenüber Juden sowohl im rechten als auch im linken Lager findet. Letztere bringen leider oft die aktuelle Politik des Staates Israel gegenüber den Palästinensern mit dem Holocaust und der historischen Präsenz der Juden in Griechenland durcheinander. Der Hauptgrund dafür war, zumindest bis vor ein paar Jahren, Unwissenheit. Diese Unwissenheit ist allmählich, wie ich bereits anmerkte, mit der Veröffentlichung von Studien, Zeugenaussagen, im Zuge von Gedenkfeiern und auch mithilfe literarischer Bearbeitungen und der damit verbundenen Dokumentationen, die im Fernsehen ausgestrahlt werden, gewichen. Natürlich sind noch andere Maßnahmen, vor allem in der Schulbildung, erforderlich. Gerade hier muss man dazu beitragen, das Wissen zu vergrößern und antijüdische Stereotype abzubauen.
Nicht zu vergessen ist, dass die christliche Kirche – aller Konfessionen – bei der Schaffung dieser Stereotypen eine fundamentale Rolle spielt und folglich Verantwortung trägt. Es läuft einem kalt den Rücken runter, wenn man hört, was in den Liturgien der orthodoxen Karwoche über das jüdische Volk gesagt wird; dass es „in seiner Gesamtheit“ Jesus auslöschte. Und gleichzeitig verschweigt man den wesentlichen Punkt: dass Jesus ein Jude war, genauso wie seine Jünger, wie der Apostel Paulus, dessen jüdischer Name Saul war. Auf diese Art und Weise hat die Kirche über Jahrhunderte die Seelen der Gläubigen mit Hass- und Rachegefühlen vergiftet.

Zum Titel des Buches

In Ihrem Roman spielt der sozialistische, internationalistische, jüdische Führer der berühmten „Föderation“, Avraam Benaroya, keine Hauptrolle. Was hat Sie dazu veranlasst, ihn im Titel Ihres Romans so prominent zu erwähnen?

Der Titel hat eine dreifache symbolische Bedeutung. Die erste verweist auf die Bibel, an den Stammvater des jüdischen Volkes, und ich würde sagen von uns allen: Abraham. Die zweite ist eine Ehrbezeugung für Avraam Benaroya, den Gründer der Sozialistischen Arbeiterföderation, den großen Idealisten und Kämpfer, der bis ins hohe Alter den Ideen des Sozialismus, der sozialen Gerechtigkeit und der Solidarität verpflichtet war, und der bei den großen Streiks des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts in Thessaloniki und anderen Städten Makedoniens an vorderster Front mitwirkte. Im Roman sind seine Aktivitäten die Rechtfertigung für Alisa, nach Thessaloniki zu gehen, da sie über das Leben von Avraam Benaroya für ihren Master-Abschluss arbeitet. Die dritte Bedeutung des Titels ist, dass die Geschichte der Juden Thessalonikis – trotz des Schweigens, der Vorurteile und der Stereotypen – immer mit der Geschichte der Stadt, mit der Geschichte Griechenlands verknüpft sein wird. Onkel Abraham wird also für immer dort bleiben!

DE-Cover

Das Buch
Elena Chouzouri, Onkel Avraam bleibt für immer hier
Übersetzt aus dem Griechischen von Michaela Prinzinger
Verlag der Griechenland Zeitung, Athen 2023
212 Seiten, gebunden, Hardcover
ISBN: 978-3-99021-047-5, 19,80 Euro.
Infos und Bestellungen auf www.griechenland.net oder unter der Tel.-Nr. +30 210 6560989

Elena Chouzouri

Elena Chouzouri hat bislang sechs Gedichtbände, mehrere Monografien zu Personen und Themen der griechischen Literatur sowie zahlreiche Romane veröffentlicht. „Onkel Avraam bleibt für immer hier“ (Patakis, 2016) wurde 2017 mit dem Prosa-Preis der Zeitschrift Klepsydra ausgezeichnet. Ihre Romane wurden ins Deutsche, Bulgarische, Serbische und Türkische übersetzt.
Chouzouri blickt auf eine lange journalistische Tätigkeit im Bereich Kultur, Literatur und Buchkritik zurück.

MP von Goudousaki

Michaela Prinzinger, geboren in Wien, lebt und arbeitet sie als Autorin und Literaturübersetzerin in Berlin (D) und Leiden (NL). Zu den von ihr übertragenen AutorInnen gehören Petros Markaris, Ioanna Karystiani und Rhea Galanaki. 2014 gründete sie mit KollegInnen das zweisprachige Portal für Kommunikation und Kulturaustausch www.diablog.eu. 2015 wurde sie mit dem österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung ausgezeichnet.

mehr
Elena Chouzouri in diablog.eu hier
Michaela Prinzinger hier und hier
Griechenland Zeitung hier
Hagen Fleischer hier

Interview: Jan Hübel und Robert Stadler. Fotos: GZ, Patakis, diablog.eu. Redaktion: A. Tsingas.

Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: Ελληνικά (Griechisch)

1 Gedanke zu „Onkel Avraam bleibt für immer hier – Roman von Elena Chouzouri“

  1. Manchmal dauert es schmerzhaft lange bis die Taten und die, die mitgewirkt haben, in der Länder der deutschen Besatzung im 2.Weltkrieg ans Licht kommen und das ist unausweichlich. Dank an Rena Molho und Elena Chouzouri und all die anderen.
    Rainer Schnautz

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