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27. Januar: Internationaler Holocaust-Gedenktag. diablog.eu bringt einen Ausschnitt aus Elena Chouzouris Roman „Onkel Abraham wohnt für immer hier“ in der Übersetzung von Michaela Prinzinger. Darin geht es um die junge Israelin Aliza aus Tel Aviv, die sich auf die Suche der geheimnisvollen Geschichte ihrer Großmutter Luna macht, die in Thessaloniki aufgewachsen war. Für interessierte Verlage steht ein längerer übersetzter Ausschnitt zur Verfügung.
Im Roman „Onkel Abraham wohnt für immer hier“ von Elena Chouzouri geht es um eine im deutschsprachigen Raum unbekannte Seite des Holocaust. Genauer gesagt, um das Schicksal der griechischen Juden sephardischer Herkunft in Thessaloniki im Jahr 1943. Die Sepharden lebten seit 1492 in Thessaloniki, nachdem sie von der Iberischen Halbinsel vertrieben worden waren. Daraufhin ließen sie sich in Thessaloniki nieder, in einer Stadt, die knapp 30 Jahre zuvor von den Byzantinern ans Osmanische Reich gefallen war. Viele Jahrhunderte lang, bis zum Anschluss dieser uralten Hafenstadt an das griechische Königreich im Jahr 1912, bildeten die Thessalonicher Juden die Mehrheit aller in der Stadt lebenden Nationalitäten. Nicht zufällig und auch wegen der starken emotionalen Bindung der jüdischen Bevölkerung an die Stadt nannt man Thessaloniki „Jerusalem des Balkans“.
Als die deutsche Armee im April 1941 in Thessaloniki einmarschierte, lebten dort mehr als 50.000 Juden. 1943 wurden im Rahmen der sogenannten „Endlösung“ 45.000 Juden Thessalonikis in den Todeszügen nach Auschwitz deportiert. Retten konnten sich nur die jüdischen Partisanen, die in den griechisch-mazedonischen Bergen gegen die deutschen Besatzer kämpften, sowie einige wenige, die sich in Wohnungen von christlichen Mitbürgern versteckten. 1945 kehrten etwa 1.500 Überlebende aus Auschwitz zurück.
Der Roman von Elena Chouzouri handelt von der Geschichte einer mittelständischen jüdischen Familie aus Thessaloniki. Herr Jacob, ein Tuchhändler mit europäischer, insbesondere französischer Bildung und von religiöser Toleranz geprägt, sein Sohn Albertos sowie seine hübsche rothaarige Tochter Luna spielen darin die Hauptrollen.
Im ersten Teil mit dem Titel „DAVOR“ erfährt man vom glücklichen Leben der Familie, aber auch generell der jüdischen Gemeinde in den dreißiger Jahren. Diese Zeit wurde durch ein Pogrom im Jahr 1931 überschattet, als antisemitische Faschisten das ärmliche jüdische Viertel Campbell angriffen und niederbrannten, wobei zahlreiche unschuldige Opfer zu Tode kamen. Damals entsteht auch die Freundschaft zwischen Albertos, seinem Cousin Markos und Pavlos, einem Christen. Außerdem kommt es zur ersten, schicksalhaften Begegnung zwischen Pavlos und Luna. Während sich nach Hitlers Machtergreifung im Jahr 1933 das Unheil über den Juden in Deutschland zusammenbraut, beginnt zwischen Pavlos und Luna eine große Liebesgeschichte. Am Abend des 31. August 1939 schwören sich die beiden ewige Treue. Im Morgengrauen zum 1. September 1939 marschieren die Deutschen in Polen ein und der Zweite Weltkrieg beginnt.
Im zweiten Teil mit dem Titel „DAMALS“ fokussiert der Roman auf die Zeit ab 1941, nachdem die Deutschen im April in die Stadt einmarschiert sind, bis hin zur Deportation der Familie, aber auch zur unerwarteten Rettung Lunas. Wie Filmszenen verfolgen die Leser*innen Raub und Plünderung des jüdischen Vermögens durch die Besatzungsmacht, an den Häuserwänden lesen sie die von den Nazis an die Juden gerichteten Befehle, beobachten ihre Umsiedlung in verschiedene Ghettos und begleiten sie schließlich auf ihrem langen Marsch zu den Todeszügen. Doch Pavlos, Markos und Albertos gelingt es, aus dem besetzten Thessaloniki zu fliehen, und sie schließen sich im Paiko-Gebirge den Partisanen an. Nach der Evakuierung des Ghettos, in dem Luna mit ihrer Familie lebt, befindet sich die Familie schon auf dem Marsch durch die Stadt hin zu den Todeszügen. Da hechten Pavlos, Markos und Albertos blitzschnell in die Menschenmenge, packen Luna und entführen sie auf den Paiko.
Wie diese alte Geschichte schließlich ans Licht kommt und sich Luna 1946 in Palästina und später nach 1948 in Israel wiederfindet, erfahren wir im dritten Teil des Romans mit dem Titel „DANACH“. Darin werden wir aus der fernen Vergangenheit in die nahe Gegenwart, genauer ins Jahr 2012 versetzt. Bindeglied ist Aliza, Lunas Enkelin, Doktorandin im Fach Geschichte an der Universität Tel Aviv, die von ihrer Großmutter nach deren Tod drei Fotos, einen Stadtplan von Thessaloniki aus dem Jahr 1930, einige sephardische Kochrezepte und ein Notizblatt mit Jahreszahlen geerbt hat. Die Aufnahmen bewegen Aliza tief, da ihre Mutter nie etwas über die Herkunft und Vergangenheit der Großmutter erzählt hat. Besonders rätselhaft sind Fotografien, die Luna als christliche Braut und als Mutter eines Sohnes zeigen. Diese Seite der Familiegeschichte wurde totgeschwiegen oder nur in Vorwürfen angedeutet. So beschließt sie, Thessaloniki zu besuchen, um das Geheimnis ihrer Großmutter zu lüften und auch ihre eigenen Wurzeln aufzuspüren. Als Vorwand dafür dient ihre Forschungsarbeit über Leben und Werk von Abraham Benaroya, mit dem Großmutter Luna entfernt verwandt war. Er war ein berühmter jüdischer Sozialist und Generalsekretär des sozialistischen Arbeiterbundes, der sogenannten „Föderation“.
Aliza geht durch die Straßen des heutigen Thessaloniki, sie ist auf der Suche nach Luna und nach sich selbst, sie stellt Fragen, entdeckt schließlich die Ursprünge ihrer Identität und vervollständigt das Puzzle der tragischen Familienerinnerung, wobei sie auch das Schicksal von Pavlos und von Lunas Sohn aufdeckt.
Es ist ein polyphoner, vielfältiger und diachron aufgebauter Roman über kollektive Identitäten, über die Erinnerung und vor allem über die Versöhnung und die Akzeptanz unserer ererbten Vergangenheit, die unsere Gegenwart und nicht zuletzt unsere persönlichen, familiären Beziehungen bestimmt. Es ist ein Roman über den Holocaust der Juden aus der Stadt Thessaloniki, die sich bis heute nicht völlig mit den Geistern, die sie bevölkerten, ausgesöhnt hat.
Zur Autorin:
Elena Chouzouri, in Thessaloniki geboren, lebt als Autorin, Literaturkritikerin und Publizistin für Presse, Funk und Fernsehen in Athen. Neben Lyrikbänden, Essays und Sachbüchern hat sie zwischen 2004 und 2013 drei Romane herausgebracht. Ihre Romane wurde ins Deutsche, Serbische, Türkische und Bulgarische übersetzt. Sie waren für den griechischen Staatspreis für Literatur (2004) sowie für den BALKANIKA-Preis 2006 nomiert und standen 2013 auf der Shortlist der Literaturpreise der Zeitschrift „O Anagnostis“. 2016 erschien ihr bislang letztes Buch „Onkel Abraham wohnt für immer hier“.
DAVOR
Als Aliza ein Versprechen gibt und einen Traum hat
Aliza wollte nach gegenüber. Unmerklich trat sie auf den Fahrradweg. Erst als eine Klingel schrillte, wich sie zurück. Hinter ihr war die malvenfarbene Septembersonne schon im Thermaischen Golf versunken. In ein paar Minuten würde sich die Stadt Thessaloniki der dunklen Welt der Schatten überlassen. Unwillkürlich fröstelte Aliza. Was suchte sie in dieser Welt? Was suchte sie in dieser Stadt der Schatten? Doch sie konnte nicht länger darüber nachdenken, da sie ihr Ziel erreicht hatte, das Denkmal lag genau gegenüber. Wir sehen, wie Aliza die Fahrbahn des Boulevards überquert, der – kaum zufällig – Odos Nikis heißt, Siegesstraße. Sie ist nur noch einen Atemzug vom Denkmal entfernt, auf das sich langsam Schatten senken, viele Schatten. Sie kommen von dem Platz, der – einer Ironie gleich – Plateia Eleftherias heißt, Platz der Freiheit. Aliza gelingt es kaum, sich in ihren Anblick zu vertiefen, da sie genau in diesem Augenblick erkennt… Ja, was genau? Nein, es sind keine vertrauten, geliebten, trauernden Schatten, sondern andere, bizarre Schatten aus Fleisch und Blut. Können Schatten überhaupt aus Fleisch und Blut sein? Kurze Zeit später würden diese bizarren Schatten, ein Dutzend höchstens, mit den malvenfarbenen Nuancen der Abendsonne verschmolzen sein. Aliza verharrt steif, ja verdutzt an ihrem Platz. Einer der Schatten nähert sich ihr. Laufend. Können Schatten laufen? Anstatt eine Antwort zu finden, prägt sich Aliza nur das jungenhafte Gesicht ein, dessen Züge von äußerster Wut verzerrt sind, und vor allem den Blick. Es ist der Blick eines wilden, rachedurstigen Tiers, es ist ein Blick, der vor Anspannung pausenlos flackert, der sich nicht fokussieren kann, sich in keinen anderen Blick versenken kann, doch für wenige Sekundenbruchteile jäh aufblitzend dem überraschten, ihrem wie vom Donner gerührten, erstaunten Blick begegnet. Als Aliza gleich darauf ihre Fassung wiedererlangt, wird sie sich dem Denkmal nähern, davor stehen bleiben. Dann sieht sie es, dann begreift sie es. Zwei Tage widmeten die Zeitungen der Stadt, aber auch die zentrale Athener Presse und ihre digitalen Nachfahren dem Ereignis eine kleine Spalte, berichteten über die Schändung des Holocaustmahnmals durch unbekannte Täter in Thessaloniki und veröffentlichten die darauffolgende Protestnote des griechischen Zentralrats der Juden. Trotz ihrer gewiss noch unzureichenden Griechischkenntnisse gelingt es Aliza, die Nachricht hörend, sehend, lesend in sich aufzunehmen und das Gefühl immer wieder aufzufrischen, das die Hinterlassenschaften der unbekannten Schatten auf dem Denkmal in ihr hervorgerufen haben. Und was war das für ein Gefühl? Angst. Eine ihr bis dahin unbekannte, ja tief verwurzelte, geradezu eine Urangst.
Am selben Abend hat die vor erst zwei Tagen in Thessaloniki eingetroffene siebenundzwanzigjährige Doktorandin am Fachbereich Geschichte der Universität von Tel Aviv, die wir hier Aliza nennen und deren Nachname Cohen, Molho, Natan, Pardo oder Abrabanel sein könnte, folgenden Traum:
Es ist nach Mitternacht, eine zweifelhafte, äußerst romanhafte Stunde zwischen tiefer Nacht und Tag, welcher versucht, die Nacht lautlos zu verdrängen, es ist die Stunde, die es den Lebenden gestattet, mit der Welt in Kontakt zu treten, die gierig auf sie wartet. Aliza, mit offenbar geschlossenen Augen, aber durchaus imstande, das Unsichtbare zu sehen, merkt, wie sich die Tür ihres Hotelzimmers lautlos wie in Träumen und Romanen öffnet, und sie erblickt die beiden Frauen, fast schwebend treten sie ein, und als sie sich Aliza nähern, erkennt sie sie, doch, ja, es sind Oma Luna und Oma Rehina, aber wie kommen sie hierher in mein Zimmer in Thessaloniki, ein Jahr schon ist Oma Luna tot, und Oma Rehina schon zwei, aber bevor Aliza sich dem von Träumen Gebotenen widersetzen kann, sind Oma Luna und Oma Rehina schon an ihrem Bett und zwingen die Schlafende, sich zu fragen, was denn Oma Luna da anhat und wie jung sie noch ist, nicht mal Zwanzig schätze ich sie, und ja, selbst im Dämmerlicht meines Traums ist es recht deutlich zu erkennen, Oma Luna trägt Uniform und auf ihrem Haar, auf ihrem hübschen Rotschopf eine schiffchenförmige Militärmütze, aber wann war Oma Luna beim Militär, ich war zwei ganze Jahre dort und mein Bruder drei, und dann reichte es uns, doch ihr nicht, obwohl in Träumen alles möglich ist, und da, bitte sehr, Oma Luna hübsch, jung und in Militäruniform kommt immer näher, hat Oma Rehina hinter sich gelassen, die allerdings von einem Licht, von dem ich nicht sagen kann, wo es herkommt, umflossen wird, draußen ist es noch dunkel, aber Oma Rehina wird von diesem weißen Licht erleuchtet, vollkommen umhüllt, daher kann ich sie besser erkennen, auch sie ist jung, aber so traurig, ach, Oma Rehina, warum bist du immer traurig, warum blicken sich deine großen braunen Augen unruhig um, wovor hast du Angst, Oma Rehina, wovor, doch anstelle einer Antwort setzt sie sich in den Sessel gegenüber, und während sich dieses entrückte weiße Licht auf den Arm von Oma Rehina richtet, von der Handfläche bis zum Ellenbogen, kann Aliza im Traum die sechs Ziffern erkennen, ja, es sind dieselben Ziffern, erinnert sie sich immer noch im selben Traum, die ich und mein Bruder damals zum ersten Mal gesehen haben, wann eigentlich, fünf muss ich gewesen sein und er kaum sieben, Sommer war’s, ein sehr heißer Sommer wie fast alle in Tel Aviv, am Strand waren wir, ich und mein Bruder plantschten durch die Wellen, bespritzten einander, bauten Burgen mit unseren Eimerchen, schrieben unsere ersten Wörter in den Sand, als Oma Rehina, die unter dem großen Sonnenschirm saß und uns mit ihren großen brauen Augen ansah, die Hitze nicht länger ertrug und ihre Ärmel hochrollte, bis dahin hatten wir die Arme von Oma Rehina im Leben noch nie nackt gesehen, immer trug sie langärmelige Sachen, mein Bruder erkannte als erster die sechs bläulichen, schaurig und vermodert wirkenden Ziffern, und ich rannte zu ihr hin und, wir waren ja noch klein, wir wussten von nichts, woher auch, und da riefen wir alle beide, Oma Rehina hat sich Zahlen auf den Arm gemalt, Oma Rehina hat sich den Arm tätowiert, und zeigten mit den Fingern auf sie, sag uns die Ziffern, Oma Rehina, sag sie uns, dann schreiben wir sie in den Sand, und dann – war es damals oder jetzt oder immer schon – liefen Tränen aus Oma Rehinas Augen, lautlose Tränen, Oma Rehina weint nicht richtig, ihr Gesicht bleibt unbeweglich, ihr Blick starrt in die Ferne, doch die Tränen laufen und laufen, bis sie sich im weißen Dämmerlicht auflösen, bis sich auch Oma Rehina darin auflöst, eins wird mit dem weißen Licht, als nehme das weiße Licht sie mit und verschwinde mit ihr aus Alizas Traum. Im Traum bleibt nur Oma Luna zurück, noch immer in Militäruniform und mit ihrem schönen, vollen Rotschopf, und da, jetzt fängt sie an, jenes der schlafenden Nichte vertraute nostalgische Lied zu singen in jener uralten, aber unvergessenen Sprache, über eine geliebte Stadt, die nicht verschwand, über eine Liebe, die nicht erlosch, über ein Leben, das nicht endete.
Text: Elena Chouzouri. Auszug aus dem Roman „Onkel Abraham wohnt für immer hier“, erschienen im Verlag Patakis 2016. Übersetzung: Michaela Prinzinger. Fotos: Archiv der Israelitischen Gemeinde Thessaloniki.
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