Sommersaison auf Paros

Ein schöner Ort von Ellen Katja Jaeckel

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Unsere Autorin Ellen Katja Jaeckel hat sich Gedanken über eine bestimmte Spezies gemacht, die nahezu ausgestorben schien: Der griechische “Kamaki”. Wie es zu seiner Wiederbelebung kam und welche Schönheiten die Insel Paros birgt, erfahren Sie in der neuen Reise-Serie von diablog.eu, mit Originalillustrationen von unserem Zeichner Yorgos Konstantinou. Näheres zur Autorin lesen Sie in unserem “Who is who“.

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©Yorgos Konstantinou

 

Steckbrief Paros

Die in der Mitte der Kykladen liegende Insel Paros hat heute ca. 14.000 Einwohner, ein Drittel lebt in der Inselhauptstadt Parikiá. Hier steht eine der interessantesten Kirchen Griechenlands, die „Panagia ekatontapyliani – die hunderttürige Muttergotteskirche“. Seit der Antike ist die Insel für ihren glitzernden, weißen Marmor bekannt – noch heute kann man die riesigen Marmorstollen in Marathi bewundern.

Einige der berühmtesten Bauwerke und Skulpturen der Antike sind aus parischem Marmor gemeißelt – u.a. die Athener Akropolis, der Apollo-Tempel auf Delos, der Poseidontempel in Sounio und die Venus von Milo. Auch das Vlacherna-Kloster in Istanbul und venezianische Paläste wurden aus dem kristallinen Material geschaffen. Im Inselinnern liegt der hübsche, blumengeschmückte Ort Lévkes, in dem lange Zeit Schriftsteller und Übersetzer aus der ganzen Welt zum Arbeiten in das vom EKEMEL betriebene Übersetzerhaus zusammenkamen.

Schließlich hat Paros eine lange lyrische Tradition als Heimat des Dichters Archilochos (geb. um 650 v.Chr.). Von Lévkes kann man auf alten byzantinischen Pfaden wandern, besonders schön ist das im April und Mai.

Vom kleinen Flugplatz bestehen Verbindungen nach Athen. Gewöhnlich erfolgt die Anreise über den Seeweg. Paros ist ein idealer Ausgangspunkt für Inselhüpfer.

 

Paros liegt am Schnittpunkt vieler Kykladen-Inseln – und hat zum Bedauern der zahlreichen im Tourismus beschäftigten Bewohner und Saisonarbeiter keinen internationalen Flughafen. Aber der mangelnde Luftverkehr wird durch einen betriebsamen Hafen ausgeglichen. Tatsächlich ist Paros eine der am besten zu erreichenden Kykladeninseln, ein echter Knotenpunkt, an dem mehrmals täglich die großen Fähren und Tragflügelboote aus Piräus und Santorin Halt machen, aber auch jene zu den Nachbarinseln Naxos und Ios, ganz zu schweigen von den kleinen Fährverbindungen zur Schwesterinsel Antiparos.

In guten Zeiten – vor der Krise – und zur Hochsaison, also zwischen Mitte Juli und Ende August, waren das an die zwanzig ankommende Schiffe täglich. Ein idealer Arbeitsplatz für Giannis, der seit fünfzehn Jahren jeweils von Mai bis Ende September als Kamáki auf Paros seinen Lebensunterhalt bestreitet.

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©Ellen Katja Jaeckel

Das griechische Wort Kamáki meint nicht nur den unerschöpflichen Aufreißer, der mittlerweile ein wenig in die Jahre gekommen ist, also die griechische Variante des Papagallo vom Strand in Rimini: Braungebrannt, mit Goldkettchen behängt und einem weit geöffneten Hemd, das den Blick freigibt auf eine behaarte und muskulöse Brust. Hier darf Mann noch Mann sein und muss sich nicht den aus Nordeuropa herüber schwappenden modischen Erscheinungen wie der Totalrasur und/oder Ganzkörpertätowierung beugen.

Der griechische Kamaki kennt nicht die Alltagsnöte seines nordeuropäischen Geschlechtsgenossen, dessen rotgepunktete Haut die Spuren verzweifelter Versuche der Nass- und Wachsrasur im täglichen Kampf gegen die nachwachsenden Stoppel tragen. Die Geburtsstunde dieses Herzensbrechers lag nach dem Sturz der Militärjunta 1974, seine Hoch-Zeit erlebt er in den 80ern an den Stränden zwischen Rhodos und Korfu. Seine (oftmals gefügigen) Opfer: blonde, kleinen sexuellen Abenteuern nicht abgeneigte junge Damen aus dem Norden Europas, die die Früchte der 68er Revolution auskosten. Aber es gibt nicht mehr viele von ihnen, in den späten Achtzigern machte die Angst vor AIDS selbst ausgefuchste Kamakia über Nacht zum treuen Ehemann, und die nachfolgende Generation erprobte lieber die längst nicht mehr prüden einheimischen Mädchen.

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©Ellen Katja Jaeckel

Die zweite Bedeutung von Kamaki, wörtlich „Harpune“, ist geschlechtsübergreifend, wird fast immer im Plural benutzt und bezeichnet Giannis‘ Beruf des „Touristeneinsammlers“ am Hafen. Und das passiert so: Schon bevor sich die große Schiffsklappe öffnet und ihre Ladung ausspeit – Mütter mit Kinderwägen, Motorradfahrer, ein paar amerikanische Backpacker mit dem dicken „Go Europe“ in der Hand, Popen mit prall gefüllten Plastiktüten und wenige Familien, die auf einen Pauschalurlaub verzichten haben und stattdessen von Insel und zu Insel hüpfen, umständlich beladen mit Isomatten, Schlafsäcken, Sandspielzeug und aufblasbaren Krokodilen, haben die Kamakia Stellung bezogen.

Das dürfen sie seit ein paar Jahren nur noch außerhalb des eigentlichen Hafengeländes, um den offenbaren Anschein einer aufdringlichen Herde zu mildern. Und zwar nur diejenigen, die ordnungsgemäß ihre Steuern abführen und sozialversichert sind. Die Kontrollen der Steuerbehörden sind schärfer geworden. So harrt das verbliebene Dutzend Kamakia von Paros zusammengepfercht wie die Schafe hinter einer Abriegelung aus, und kaum strömen die ankommenden Touristen an ihnen vorbei, da blöken sie alle aufeinander in allen Sprachen, vergilbte Broschüren, Hochglanzprospekte und selbstgebastelte Schilder hochhaltend: rooms, rooms, rooms, domatia, domatia, das „rooms“ hört sich eher wie ein polterndes Rumms an, Zimmer, chambres, camere… Neuerdings wurde das Angebot um ein paar slawische Wortfetzen erweitert.

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Und bleibt ein Neuankömmling tatsächlich stehen, so umzingelt ihn schnell ein halbes Dutzend Kamakia und preist ihm die jeweiligen Herbergen in den höchsten Tönen an, wirbelt ihm die Prospekte vor der Nase und winkt mit günstigen Preisen. Seit fünfzehn Jahren steht Giannis im Auftrag eines Hotelmanagers am Hafen von Paros, das erste Schiff kommt morgens um sechs Uhr, das letzte verlässt Paros in der Nacht. Der Hotelmanager hat gleich drei Häuser im Angebot in unterschiedlichen Kategorien. Giannis chauffiert die angelockte Kundschaft, zeigt die verschiedenen Übernachtungsmöglichkeiten und erhält pro zahlendem Gast eine kleine Provision zusätzlich zum sozialversicherungspflichtigen Mindestlohn.

In der Nebensaison hilft Giannis bei Reparaturarbeiten und Besorgungen. Die meiste Zeit aber verbringt Giannis mit Warten zwischen den Schiffen. Mit seinen Kollegen, zugleich Konkurrenten, pflegt er ein freundschaftliches Verhältnis. Eine Art Ehrenkodex verbietet es, dem anderen die Kundschaft abzuwerben. Der Hotelmanager kann sich auf Giannis verlassen, noch nie hat er den Dienst verschlafen, und kam das Schiff auch mit noch so viel Verspätung. Geduld, Zuverlässigkeit, ein gutes Auftreten – das sind die Voraussetzungen, die die Kamakia mitbringen müssen. Sie sind es schließlich, die den ersten Kontakt zur Kundschaft herstellen, stets ein freundliches Wort auf den Lippen, diese am Ende des Aufenthaltes auch wieder zum Schiff zurückbringen, Insidertipps geben- und manchmal auch mehr.

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©Ellen Katja Jaeckel

So war es auch mit Giannis vor vierzehn Jahren, als er noch am Campingplatz Koula arbeitete und sich die hübsche Cécile aus dem belgischen Lüttich angelte. Cécile beschloss kurzerhand, ihrer verregneten flachen Heimat den Rücken zu kehren, lernte in kurzer Zeit die neugriechische Sprache und sorgt seither als Kindergärtnerin und als Französisch-Nachhilfelehrerin in den langen Wintermonaten, wenn Giannis nur ein klägliches Arbeitslosengeld bleibt, das unter dem Satz von Harz IV liegt, für das gemeinsame Auskommen.

Nach zehn Jahren Zugehörigkeit als frankophone Erzieherin in einem Privatkindergarten im gutsituierten Athener Vorort Filothei hat Cécile ein bescheidenes Monatsgehalt von 600 Euro erreicht, und auch sie wird seit zehn Jahren nur mit Saisonverträgen jeweils von September bis Mitte Juni abgespeist, ohne zu wissen, ob zum Herbst eine Weiterbeschäftigung erfolgt. In den Sommermonaten bezieht auch sie Arbeitslosengeld, das reicht gerade mal für die Miete der winzigen Einzimmerwohnung auf Paros.

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Ihre mehrsprachigen Zöglinge aus der Athener Mittel-und Oberschicht der ersten Generation sind zu einem Großteil auf das Französische Gymnasium von Athen gewechselt und nicht wenige von ihnen streben eine internationale Karriere an. Zu manchen pflegt Cécile weiterhin Kontakt, erteilt Privatstunden und hilft bei Bewerbungen auf Französisch. Ihre Schüler werden aller Voraussicht den umgekehrten Weg einschlagen, ihre Heimat verlassen und nach besseren Arbeitsmöglichkeiten im Ausland Ausschau halten.

Etwa ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung Griechenlands lebt von ungewissen Saisonverträgen, vor allem im Tourismus. Abhängig vom Einsatzort läuft ein Saisonvertrag über drei bis sieben Monate. Es ist ein logistisches und wirtschaftlich ungewisses Mammutunterfangen: auf welcher Insel werden in der nächsten Saison wie viele Ärzte, Krankenschwestern, Müllarbeiter, Rezeptionisten, Kellner, Barkeeper, Polizisten, Friseure und Taxifahrer benötigt?

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©Ellen Katja Jaeckel

Die Liste der vom Tourismus direkt und indirekt abhängigen Jobs ist lang, die Gehälter niedrig und die Aussichten auf Weiterbeschäftigung in der nächsten Saison nicht nur leistungsabhängig. Es fehlt an einer übergreifend koordinierenden Behörde. So wurschtelt sich jede Präfektur, jeder Bürgermeister, jeder Hotel- und Tavernenbesitzer selbst durch, meldet Wünsche an bei der nächsten zuständigen Behörde und greift im letzten Moment, wenn das Buchungsverhalten der Touristen erkennbar ist, auf die eigene Familie, Bekannte, Freunde und Empfehlungen zurück. Stellenausschreibungen in der Privatwirtschaft sind die Ausnahme, die meisten Beschäftigten sind fachfremd, und es herrscht das Prinzip learning on the job.

Giannis hatte nach der Schule und dem Militärdienst als Schiffsjunge auf den großen Frachtern der Welt angeheuert, viele Jahre, in der er die Heimat nicht sah, die Einsamkeit kennenlernte und hart herangenommen wurde. Das Meer hat ihn bis heute nicht losgelassen, doch heute betrachtet er es lieber vom Hafen in Parikia aus- als Kamaki auch diesen Sommer lang.

Entnommen aus: Griechische Einladung in die Ägäis, herausgegeben von Andreas Deffner. Frankfurt/Main, Größenwahn Verlag. Fotos: Ellen Katja Jaeckel. Illustration: Yorgos Konstantinou, www.imagistan.com.

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