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“Gute Nachricht aus Griechenland”: So lautet der Untertitel einer Kritik in der FAZ zu Thanassis Lambrous zweisprachigem Gedichtband “Labyrinth”. Der deutsche Lyriker Durs Grünbein hat einen Essay über seine Dichterfreundschaft mit dem griechischen Kollegen verfasst und ein Gedicht beigesteuert. Das Wort findet hier wieder zu seinem Recht, das poetische Bild zu seiner Ausgewogenheit. Lassen Sie sich verzaubern vom Klang der beiden Sprachen. Näheres zum Autor finden Sie im “Who ist who” von diablog.eu.

LEBENSWEG
Das Meer hat mich genährt
und der Wind, der auf seinem Rücken daherritt
mit silbernen Rossen und Salzhauch,
der rote Fächer der sinkenden Sonne weit im Norden,
wenn das Zeitrad im Sturze sich drehte,
die jähen Wendungen Gottes,
der in der einen Hand Welten wie Spielzeug zerquetscht,
während die andre junge Welten
aufs neue gebiert
im nie endenden Spiele.
Die geduldige Erde, die Urwahrsagerin hat mich genährt,
die Äpfel der Hesperiden und die vier Wurzelstöcke,
der Wind, das Wasser, die Erde, das Feuer,
der Schlaf und sein Bruder, der Tod
und die unzähligen Tode (Metamorphosen?) mitten im Leben,
die uns einüben auf die große Reise, die letzte,
die einzige ohne Anlaufadresse,
die uns dahinträgt, ohne dass wir es begreifen,
in einem schmalen Nachen zum anderen Ufer,
wo zu uns dringen wie linde Winde
von gegenüber Stimmen, Lachen und Lieder.
Die Wolken, die Wechselfacetten des Unendlichen,
haben mich genährt und die Liebe,
das Uralphabet des Kosmos, das wir stammelnd herbeten,
nach den ersten Buchstaben schon verstummend,
der Wirbel der Erscheinungen hat mich genährt,
in den ich freiwillig stürzte,
vielleicht ihre Wurzel, die Quelle, den Aufgang des Anfangs
doch zu ergreifen,
von wo aus in einem Atemzug
wie gebündeltes Licht die Welt ihren Banden entrann.
Das tagelange Schweigen hat mich genährt
und die Kraft, die danach aufsteigt wie aus tiefem Brunnen,
die ferne Geliebte hat mich genährt,
die Blüten der Zitronen und Apfelsinen,
wenn sie am Frühlingsanfang ihr Halleluja anstimmen
und aufleuchtend im Abendwind zerspringen
in einem Garten mit einsamen Pfaden, die sich verzweigen,
verschmelzen, sich wieder trennen
und weit drüben Stufe um Stufe verblassen.

Das Labyrinth der Einsamkeit hat mich genährt
und die neun Einsamkeiten aus ehernem Guss,
die einen luftleichten Widerhall finden,
wenn sie dich hochschnellen lassen wie eine Zypresse,
die Asche, die nichts ist
als der Fingerabdruck der Zeit
und der Nachgeschmack, der von den meisten Dingen verbleibt,
alle Momente haben mich genährt,
vor allem die dunklen,
wenn dein Selbst drauf und dran ist,
wie Sand dir durch die Finger zu gleiten.
Die Gleichnisse Jesu haben mich genährt,
weiße Kiesel in Bergbächen,
die sich am Himmel ergießen hinab auf die Sterne,
die feurige Predigt und die Vier Edlen Wahrheiten,
der Achtfache Pfad
und die acht Millionen Götter des Shinto,
ausreichend viele, um dich auf dem Weg zu begleiten
und mit deinem Schatten verschmelzen.
Die Worte Homers haben mich genährt
und die ganze vergessene Erkenntnis,
Priamos, Ajax, Odysseus,
Ödipus, Antigone, Ismene,
der Berg Tabor und die Verklärung,
der brennende Dornbusch und der Blitzstrahl der Gottheit
und der Atem der Erde, der Goldregen wird und Gestirne.
Die zärtlichen Brüste der Nacht haben mich genährt,
die Hymnen und die neun Musen,
das Lachen des gekreuzigten Dionysos,
als er nackt den letzten Rundreigen tanzte
in einem winzigen Zimmer im Herzen Turins,
die schweigend geschnittene Ähre hat mich genährt
und Panselinos, der Abend für Abend hervortritt,
mächtig leuchtend mit Gold über dem Heiligen Berg.

Der Himmel widergespiegelt in einer Zisterne,
das Erdbeben, das seinen Rachen aufreißt,
die kleine Blume am Abgrund,
die Umdrehungen des Kreislaufs,
die dich feinmahlen wie die Steine der Mühle,
das wölfische Hetzen in der Großstadt,
die harmonischen Klänge der Sphären,
wenn sie dahinrollen auf dem weichen Samtmantel des Weltalls,
die Dreschtennen aus Marmor,
der leere Blick, mit dem die Toten uns ansehn,
ernst und verwundert mit Liebe und Nachsicht,
die Erde, auf der wir gehen, hat mich genährt
und der verborgene Zusammenhang all dieser Dinge.
Mit freundlicher Genehmigung entnommen aus: Thanassis Lambrou: Labyrinth. Gedichte, Griechisch-Deutsch. Elfenbein Verlag 2014. Übersetzung aus dem Griechischen: Herbert Speckner. www.elfenbein-verlag.de. Fotos: ©diablog.eu
Der Elfenbein-Verlag wurde 1996 von zwei Germanistikstudenten gegründet. Heute, nach 19 Jahren, sind 130 Bücher lieferbar, die allesamt mit Liebe und Sorgfalt gemacht sind. Von seinem Verlag kann er allerdings nicht leben, wie uns Ingo Držečnik erzählt. Sein berufliches Standbein ist ein Job in der Erwachsenenbildung, der Verlag bildet das Spielbein, das ihm erlaubt, seiner Leidenschaft zu frönen. Schon bald erhielten die Projekte des Elfenbein-Verlags tolle Kritiken und Anerkennung. 2001 wurden zum ersten Mal griechische Autoren – Alexander Adamopoulos und Odysseas Elytis (eine Neuausgabe des Werks „Gepriesen Sei“) – ins Programm genommen.
Die sogenannten „kleinen“ Literaturen leben, so meint auch Držečnik, vom Engagement der Übersetzer, insbesondere nachdem Institutionen wie das Nationale Griechische Buchzentrum und das Internationale Übersetzerzentrum EKEMEL als Erste dem Rotstift zum Opfer fielen. Die Literatur hat es von allen Kultursparten am schwersten, in einer anderen Kultur anzukommen. Daher ist eine staatliche Förderung von Übersetzungen unabdingbar. In Griechenland hat dieses Instrument leider nie wirklich funktioniert, von der derzeitigen Situation ganz zu schweigen. Ingo Držečnik hat für seine Bücher nie einen Cent erhalten, obwohl er zu seiner großen Überraschung vor zwei, drei Jahren seinen Namen auf einer Liste von geförderten Verlagen fand.
Laut Držečnik kann die Finanzierung einer peripheren Literatur durch einen Kleinverlag nur so funktionieren, dass die Übersetzungen vorliegen, so dass nur noch die Druck-, Lektorats- und Satzkosten bleiben, die durch den Verkauf abgedeckt werden müssen. Mittlerweile ist im Elfenbein-Verlag die „Kleine griechische Bibliothek“ entstanden, in der auch der von Durs Grünbein mit einem Nachwort versehene Lyrik-Band von Thanassis Lambrou erschienen ist. Solches „Mentoring“ fungiere als Türöffner für das Feuilleton, erklärt Držečnik. Nicht zufällig schlug der FAZ-Rezensent, wie er selbst schreibt, das Büchlein von hinten auf.
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