Der Marsch der unbewaffneten Brigade

„Der Schnee des Agrafa-Gebirges“, Roman von Panagiotis Chatzimoysiadis

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Vierundsiebzig Jahre nach dem (offiziellen) Ende des griechischen Bürgerkriegs bereitet er den heutigen Griechen immer noch Unbehagen. Die damalige Spaltung der Nation hat unauslöschliche Narben hinterlassen. Auch heute scheinen die beiden gegnerischen Fraktionen keine gemeinsame Basis zu finden. Panagiotis Chatzimoysiadis lässt seinen Roman in dieser Zeit spielen, stellvertretend für die unaufhaltsamen und stillen Gefechte, die – nicht unbedingt blutig – weiterhin um uns herum geführt werden.

Die griechische Ausgabe

Zum Buch
Panagiotis Chatzimoysiadis behält die historischen Ereignisse des unbarmherzigen Bürgerkriegs (s. weiter unten den historischen Kontext und die Ereignisse um den Marsch der unbewaffneten Brigade) und die persönlichen Geschichten der beteiligten Individuen gleichermaßen im Auge. Das Leben der Landbevölkerung außerhalb des Krieges wird als ebenso hart und steinig beschrieben wie der Krieg, der oft wie eine natürliche Erweiterung des harten Alltagslebens erscheint . Gedämpft, aber mit beeindruckender literarischer Präzision in Rhythmus, visuellem Detail und Komposition, versetzt er uns in den emotionalen Zustand seiner Protagonisten (denen wenig Heldenhaftes anhaftet), wir sind wie sie verletzt, müde, unterkühlt und ausgehungert, verzweifelt (oder auch glücklich) und Opfer absurder Befehle.

Jedes Kapitel ist im Wesentlichen eine eigenständige Geschichte um eine zentrale Person, die eine andere Phase des Marsches beleuchtet. In der Erzählung „Die Funkgeräte“ ist es der sechzehnjährige Kyriakos Siatras, der den Tod seines Vaters rächen will, in „Winterolympiade“ Charalambis Souroutsis, der eine Reueerklärung unterschrieben hat, in „Säuberungen“ Apostolis (P)ouliopoulos, der unsterblich in Theanoula verliebt ist, in „Nur Sotiris“ die vergewaltigte Sotiria, die ihrem brutalen Vater zu entfliehen versucht, in „Brandopfer“ Avraam Polychronidis, der bereits zuvor einige blutige Erfahrungen hatte, und in „Noch mehr Tod“ Georgios Georgiadis, der mit weit aufgerissenen Augen umfallen wird. Die modulare Form des Bandes setzt sich schließlich zu einem großen Ganzen zusammen.

Giorgos Gousias, Kampfname von Giorgos Vontitsos, 1915-1979
© booksjournal.gr

Dem selbstlosen Mut dieser Personen, ihrer Selbstaufopferung – selbst wenn sie erkennen, dass sie verraten wurden –, stellt der Autor Gousias, den Kommandanten der „Unbewaffneten Brigade“ und Generalmajor der DSE gegenüber, dessen Ehrgeiz, in der kommunistischen Partei aufzusteigen, ihn obsessiv dazu verleitet, dieses selbstmörderische Unterfangen ohne Rücksicht auf Verluste durchzuziehen. Immer wieder verweist der Autor auf das menschenverachtende Verhalten von Gousias, der sich nur um sein eigenes Wohlergehen kümmert und nicht zögert, Kameraden ins Verderben zu schicken, um seine eigene Haut zu retten.

„Der Schnee des Agrafa-Gebirges“ ist ein vielschichtiges und zutiefst menschliches Buch, das ein tragisches und absurdes Ereignis (wobei es keine größere Absurdität gibt als einen brudermörderischen Bürgerkrieg) nutzt, um über das menschliche Schicksal zu schreiben, zum Nachdenken anzuregen und eine Antikriegsbotschaft zu vermitteln.

Die Vorbereitung
Der Autor hat die Ereignisse im Verlauf des Marsches der unbewaffneten Brigade eingehend recherchiert. Auf der Route hat er Orte und Ortschaften besucht und Interviews geführt. 15 Jahre lag das Projekt mehr oder weniger in der Schublade. 2019 hat er den Erzählband dann innerhalb von zwei Monaten zu Papier gebracht und Ende 2021 veröffentlichen können.


Der Auszug
Erzählung/Kapitel 1: Die Funkgeräte

Bis zum Mittag ließ er das Vieh weiden, am frühen Nachmittag brachte er es in den Pferch. Er verteilte Gras, sorgte für frisches Wasser und melkte die Mutterschafe. Als er damit fertig war, zog er das Viehgatter hinter sich zu, pfiff den Hund zu sich und nahm den anderen Pfad. Heute Abend würde er nicht ins Dorf zurückkehren, nicht nach Hause gehen. Fünf, sechs, sieben Monate, vielleicht ein Jahr lang, so lange es eben bräuchte, würde er woanders sein; dort, wo er schon von Anfang an hätte sein sollen. Sein jüngerer Bruder war mit der Schule fertig, ab morgen könnte er ihn im Pferch ersetzen.
Es wurde langsam dunkel, als er in Vracha ankam. Noch außerhalb des Dorfes ging er den Hang hinauf, wo die Feldlager waren. Er kannte sich hier einigermaßen aus – vor vier Jahren hatte er Vorräte und Nachrichten von seinem Vater dorthin gebracht. Aber damals hatte es hier keine Hütten und Unterstände, keine Lauf- und Schützengräben gegeben. Er erkundigte sich, wo er sich melden sollte. Kyriakos Siatras, Sohn von Giannakos und Sophoula, sechzehn Jahre alt, gab er einem Offizier gegenüber an, den er ausfindig machte. Viele Tage lang hatte er sich einen Kopf gemacht, bis er seinen Plan schließlich umsetzte. Er meldete sich bei den Partisanen, zusammen mit seinem Hund Aris.
In dieser Nacht schlief er gut. Die meisten von ihnen waren in Häusern und Scheunen des Dorfes untergekommen, nur wenige in Schlafsälen. Sein Schlafsaal war ein verlassener Lagerraum, in der Mitte geteilt: Männer auf der einen, Frauen auf der anderen Seite. Auf dieser Seite lagen dreißig Männer auf der Erde mit nur etwas Stroh als Bettlager. Dezember im Agrafa-Gebirge; nicht einen Ofen gab es, sie sollten lernen, dem Frost zu trotzen. Im Traum sieht er seinen Vater so, wie er ihn zum letzten Mal gesehen hatte: fünf Kugeln im Bauch, eine oben in der Brust und Aris klagend neben ihm. Er nimmt ihn in die Arme, der tote Mann öffnet die Augen, schaut ihn an und lächelt. „Ich werde dich rächen, Vater“, sagte er im Schlaf immer wieder. „Mach das, mein Sohn“, hörte er ihn antworten. „Du hast meinen Segen.“
Am nächsten Morgen wurde er früh geweckt. Der ganze Schlafsaal war auf den Beinen. Aris kam zu ihm und wedelte mit dem Schwanz. Der Berghang war wie ein Ameisenhaufen, von überall kamen Partisanen zusammen. Der neue Tag begann an der Feldküche mit einem Stück Kommissbrot und etwas Bergtee. Kyriakos setzte sich allein auf einen Stein, tauchte sein Brot in den Tee und sah sich um. Hier, in einem der Feldlager von Vracha, tat sich für ihn eine neue Welt auf. Und er, der in seinem Leben nichts als Schafe, Winterpferche, Kühe und Weiden kannte, freute sich sehr, jetzt dazuzugehören. Er trank seinen Tee aus und stand auf. Die anderen machten sich auf den Weg zurück in die Unterkünfte. Aus der Ferne rief jemand seinen Namen. „Das bin ich“, antwortete er. Ihm wurde befohlen, sich sofort im Hauptquartier zu melden.
Das Hauptquartier war ein großes, beschlagnahmtes Haus unterhalb der Feldlager, am Rande des Dorfes; zweistöckig, umzäunt und mit Hof, hob es sich von den anderen Bauten ab. Am Eingang trat ein Wachsoldat gegen Aris. „Unser Kommandant will keine Viecher zwischen den Füßen haben.“ Kyriakos trat ein, in der Ecke brannte ein Bollerofen, das Fenster vor Hitze beschlagen. Der Kommandant saß am Schreibtisch, beugte sich über eine Karte und machte sich Notizen. Kyriakos stand neben der Tür, den Kopf respektvoll und überrascht gesenkt. Wer hätte gedacht, dass er ihn hier als Befehlshaber eines ganzen Lagers wiedersehen würde.
Fünf Tage lang hatten sie ihn in ihrem Pferch versteckt; sein Nachname war Gousias, er wollte aber mit Genosse Giorgis angesprochen werden. Seine Gruppe war in einen Hinterhalt geraten und gezwungen, sich zurückzuziehen; die Armee nahm die Verfolgung auf. Sieben seiner Männer wurden dabei getötet, er selbst machte sich in einer Höhle klein, um zu entkommen. Er flehte Familie Siatras an, Mitleid mit ihm zu haben; krank und hungrig, wie er war, nahmen sie ihn mit und versteckten ihn in der Scheune. Mit Milch, Käse und Fleisch kam er wieder auf die Beine und war schließlich völlig genesen. Aber auch als er weg war, schickten sie ihm weiterhin Lebensmittel, Wolle und Schafsfelle und informierten ihn über die Bewegungen des Feindes. Wenn der sich näherte, verbrannten sie im Kamin Dieselöl und ließen schwarzen Rauch aufsteigen. Genau deswegen verdächtigten jedoch die Sourlides, paramilitärische Kollaborateure der Armee, seinen Vater: Warum verbrannte er mitten im August Dieselöl? Einen halben Tag lang ließen sie ihn an einem Nussbaum vor dem Pferch hängen, um von ihm Informationen zu Kontaktpersonen, Verstecken, Standorten und Verbindungswegen zu bekommen. Wie sehr sie ihn auch marterten, verraten hat er nichts. Am Ende brachten sie ihn um.
Kyriakos ließ jetzt diese Ereignisse unerwähnt – Anerkennung wollte er sich nur durch Leistung erarbeiten. So war er erzogen worden. Mit sieben Jahren hütete er bereits die ganze Herde, mit dreizehn war er schon allein für den Pferch verantwortlich. Er sei von hier, gab er an, aus den umliegenden Dörfern. Sie brauchten Wehrfähige für den Volkskampf, denn die Sourlides marschieren auf, zerstören Häuser, schänden Mädchen, töten Menschen. Es sei nicht in Ordnung, dass andere kämpften, während er Schafe und Rinder weiden ließ, als ob nichts wäre.
Der Kommandant stand auf, ging zum Fenster und schaute hinaus. Wenn sich tausend oder gar tausendzweihundert Rekruten und weitere dreihundert, die ihm aus der Ebene versprochen worden waren, hier versammeln, könnten diese insgesamt tausenddreihundert oder besser noch tausendfünfhundert Leute innerhalb kürzester Zeit aufbrechen; vom Agrafa-Gebirge in die Ebene von Farsala und von dort über das Pieria-Gebirge ins Freie Griechenland. Zehn, zwölf Sprünge nach vorn, sprich Nachtmärsche, direkt vor der Nase des Feindes, über Berge und durch Seen. So schwer es auch aussah: Wenn alle zu einem Körper, einer Seele würden, könnten sie es schaffen. Sie sollten den Befehlen gehorchen, den Mund geschlossen, Augen und Ohren aber offen halten, denn die feindlichen Agenten strecken ihre Fangarme in alle Richtungen aus; Kyriakos solle nicht denken, dass es hier an ihnen mangele, sie würden sich nur besser tarnen. Was immer er höre oder sehe, müsse er sofort seinem Zugführer oder Hauptmann melden – nun gehöre er dem ersten Zug der dritten Kompanie an – und wenn es etwas Ernstes sei, müsse er unverzüglich zu ihm kommen und Bericht erstatten.
Kyriakos salutierte und wandte sich zum Gehen. Heiße Milch, Kaffee, Eier, Brot und Wurst – das war das Frühstück des Kommandanten. Eine Genossin brachte es gerade auf einem Tablett herein. Da dachte er an seinen Vater: Die Kinder durften zuerst essen, und wenn etwas übrig war, aß er dann auch. Von dem, was Gousias ihm erzählte, blieb später nur der Geruch der gebratenen Wurst in seinem Gedächtnis hängen, wie auch der klare Blick und das Haar des Mädchens – geflochten zu einem Zopf wie seine Mutter ihn trug. Er zog die Tür hinter sich zu und eilte hinaus. Die anderen hatten sich auf der Freifläche vor den Lagerhallen zur Morgenbesprechung versammelt. Er sah sich um und machte seine Gruppe aus.
Sein Zug bestand nur aus dreizehn Mann, acht Männern und fünf Frauen. Seine Kompanie war ebenfalls unterbesetzt: sechsundfünfzig Mann insgesamt, dreißig Männer und der Rest Frauen. Beim Appell trat er vor. Sieben weitere Personen wurden an diesem Tag aufgenommen, aber sein Name wurde lauter als der der anderen vorgelesen. Nun gehörte auch er offiziell zur Demokratischen Armee Griechenlands; als er in Reih und Glied zurücktrat, hatte er das Gefühl, einige Zentimeter gewachsen zu sein.
Der Politkommissar erzählte ihnen von der Eroberung Metsovos, dem Streik der Tabakarbeiter in Kavala, Xanthi, Serres und Saloniki; aber in Kyriakos΄ Kopf spielten sich siegreiche Kämpfe in Volos, Farsala und Karpenisi ab sowie Säuberungsaktionen gegen die paramilitärischen Gruppen von Sourlas, Velentzas, Vourlakis und Tsantoulas.
Bis zum Mittag gab es Training und Ausbildung. Marsch- und Kampfformation, die Rolle der Verbindungsleute und erste Hilfe bei Erfrierungen und Verletzungen. Danach war Mittagspause, er nahm seinen Blechnapf und wartete in der Schlange; Schiffszwieback und angeblich Hühnersuppe, aber so sehr er auch suchte, er konnte nicht den kleinsten Hühnerknochen finden. Er setzte sich zu zwei anderen, die er aus seinem Zug kannte. Sie beugten sich ständig vor und sprachen seltsam miteinander, alles, was er hörte, war inzi, inzi, inzi, inzi, aber er achtete nicht weiter darauf. An ihm ging Gousias΄ Adjutantin mit einem zugedeckten Tablett vorbei – zu gern hätte er gewusst, was der Kommandant heute zu Mittag essen würde. Zum zweiten Mal an diesem Tag konnte er ihren Zopf bewundern. Er aß auf und ging.
Eineinhalb Stunden Mittagruhe in den Unterkünften und am Nachmittag wieder Training; einige Macchiasträucher am Hang gegenüber sollten der Feind sein. Jeder Zug hatte nur ein Gewehr und in seinem trug er es. Er lief damit voraus und die anderen folgten ihm, jeder mit einem trockenen Ast in Händen. Sie riefen „Nieder mit den Monarchofaschisten!“ und starteten den finalen Angriff. In fünf Minuten hatten sie den ganzen Hügel eingenommen, ohne einen einzigen Verlust zu erleiden. Einige reagierten ihre Wut sogar an der Macchia ab; sie stürzten sich auf die Sträucher, zermalmten sie, trampelten sie nieder, rissen sie aus dem Boden. Dann blieben sie auf dem Gipfel stehen, um Luft zu holen. Eine einzige zusammenhängende regenschwere, schwarze Wolke erstreckte sich von Vrachia bis Neraida und Klisto.
Der Tag würde kommen, an dem das Land von Nebel und Schlamm befreit wäre, ein Sonnenstrahl erhellte Kyriakos‘ Geist. Beim Abstieg hallte der ganze Berghang vom Partisanenlied wider:

Der Olymp donnert, die Giona blitzt,
das Agrafa-Gebirge grollt, das ganze Land bebt.
Zu den Waffen, zu den Waffen, auf zum Kampf
für unsre höchst kostbare Freiheit.

In dieser Nacht regnete es viel. Ab und zu ging er zur Tür und schaute raus. Wachdienst im Schlafsaal, das war die Aufgabe, die ihm zugewiesen worden war. Er stupste die Schnarcher, damit sie sich zur Seite drehen, deckte die Abgedeckten zu, damit sie nicht in der Kälte froren; einmal beruhigte er sogar jemanden, der Albträume hatte, ein Kind, das nach seiner Mutter rief; er hielt seine Hand, bis es wieder einschlief. Dann weckte er die nächsten Außenwachen. Nach zwei Uhr wurde es ruhiger und er zog sich in seine Ecke zurück, legte sich seine Bettdecke um und gab sich alle Mühe, die Augen offen zu halten. Er zitterte vor Kälte.
Vielleicht war es die Müdigkeit… Ihm war, als höre er ein Flüstern und Keuchen. Kyriakos versuchte aufzustehen, es gelang ihm aber nicht; der Geruch von Gebratenem lähmte seinen Geist. Die Augen fielen ihm zu. Es war Ostersonntag und in ihrem Hof wurde ein Lamm am Spieß gebraten. Seine Mutter brachte Essen, sein Vater trank Wein, seine Brüder spielten Verstecken und er weinte um Amalitsa, das aufgespießte Lamm. Seitdem sie gestern geschlachtet wurde, hatte er keinen Bissen in den Mund genommen, aber als dann der Tisch gedeckt wurde, konnte er nicht mehr, nahm ein kleines Stück und aß es, dann ein zweites und auch ein drittes. Jetzt hatte er Amalitsa vor Augen. Sein Vater hielt das Messer, um sie zu schlachten, sie zerrte am Seil, öffnete den Mund, aber blökte nicht wie sonst, sondern jaulte wie ein getretener Hund. Er wachte schweißgebadet auf, sein Bauch tat weh, ihm war speiübel. Aus dem Zimmer nebenan, dem seines Vaters und seiner Mutter, hörte er ein Flüstern und Keuchen. Er ging hinaus, der Schnee bedeckte den Hof; er hielt sich an einem Balken fest und erbrach alles, was er gegessen hatte. Er hob den Kopf, der Schnee vor ihm sah aus wie Amalitsas Schafspelz.
Eine Hand rüttelte kräftig an seiner Schulter – wie sehr hätte er sich gewünscht, es wäre die seines Vaters. Er weckte ihn vor dem Morgengrauen, damit sie zusammen zum Pferch gehen. Kyriakos beklagte sich zwar, aber es gefiel ihm, neben Vater herzugehen und den Sonnenaufgang zwischen den Tannen und Buchen zu betrachten. Er öffnete die Augen. Die Wachhabende der Frauenunterkunft drängte ihn aufzustehen. Das offizielle Weckzeichen war schon vorbei, aber in Kyriakos΄ Schlafsaal schliefen alle noch tief und fest. Beim Morgenappell wurde das gemeldet.
Wie ein Axthieb fiel Gousias΄ Blick auf ihn. Die Kämpfer der Demokratischen Armee kennen weder Müdigkeit, noch Hunger oder Schlafmangel – Küchendienst sollte seine Strafe sein. Kyriakos senkte den Kopf und trat in Reih und Glied zurück. Zehn Tage lang hatte er morgens und nachmittags Ausbildung, mittags Küchendienst. Aber er gab nicht auf, auch wenn er kein richtiges Gewehr mehr tragen durfte. Er nahm an der Ausbildung teil, aß zu Mittag, schrubbte die Kessel und erstürmte am Nachmittag mit einem Ast den Gipfel des gegenüberliegenden Hügels. Spätabends kam er zurück und bekam dann die schweinsledernen Tsarouchi-Schuhe kaum von den Füßen, aber er beschwerte sich nicht. Das hatte er von seinem Vater gelernt. Als er einmal nachmittags mit einem Lamm zu wenig zum Pferch zurückkam, schickte ihn sein Vater wieder raus, um danach zu suchen. Die ganze Nacht hindurch durchkämmte er zusammen mit Aris Berge und Täler nach der Amalitsa. Zwölf Jahre alt, hörte er den Ruf einer Eule und zitterte wie Espenlaub. Im Morgengrauen fand er sie schlafend an der Wurzel einer Tanne. Er rollte sich neben ihr zusammen, um sich etwas auszuruhen – und schlief sofort ein. Am späten Vormittag kehrte er zurück; das Gesicht seines Vaters erhellte sich, als er ihn sah.
Als die Strafe abgegolten war, schob er wieder Wache im Schlafsaal; in dieser Nacht machte er kein Auge zu. Er ging im Lagerraum auf und ab und summte vor sich hin; wenn er müde wurde, trat er hinaus in die Kälte, um wieder wach zu werden. Als es im Saal still wurde, war erneut das Flüstern und Keuchen zu hören. Diesmal wusste er, dass er nicht träumte. Im hinteren Teil des Schlafsaals waren zwei Körper miteinander verschmolzen, lagen übereinander. Er ging näher ran, um besser sehen zu können. Das waren diese sonderbaren Kameraden, die ständig inzi, inzi sagten. Jetzt lagen sie in inniger Umarmung auf der Matratze, rieben sich aneinander und seufzten. Er kehrte um und ging. In der Reihe daneben hatte sich jemand aufgerichtet und schaute den beiden zu. Kyriakos ging zu ihm und machte ihm ein Zeichen, sich wieder hinzulegen. Der lächelte, seine Zähne blitzten in der Dunkelheit auf; dann ließ er sich wieder ins Stroh fallen, um weiterzuschlafen.
Eigentlich müsste er sie melden, aber etwas hielt ihn davon ab. Manche Dinge hält man besser geheim, das wusste er aus seinem Dorf. Schuldbeladene Geheimnisse entstanden im dichten Wald, auf den steilen Bergrücken und in abgelegenen Schluchten; und dort gehörten sie auch hin, sie waren nicht für die Augen, Ohren oder Münder anderer bestimmt. Frühmorgens musste er sie wecken, sie durften nicht zusammen auf einer Matratze gesehen werden. Beim Mittagessen setzten sie sich neben ihn und vermieden es, über die Nacht zu sprechen. Sie unterhielten sich über die Ausbildung, die Kälte in den Unterkünften und über ihre Geheimsprache; dieses inzi, inzi, das sie untereinander sprachen, war eine kindische Marotte. Sie waren nicht einmal fünfzehn, sechzehn Jahre alt; vor jede Silbe setzten sie ein inzi, damit die anderen sie nicht verstehen konnten. Auch ihm gefiel das: inziDie inziSes inziEs inziSen inziWür inziDe inziNicht inziMal inziDein inziHund inziA inziRis inziFres inziSen. Einige drehten sich zu ihm um und schauten ihn neugierig an, seine beiden neuen Freunde gaben ihm durch ein Zeichen zu verstehen, er solle seine Stimme senken. Er aber machte genauso laut weiter und lachte – vor wem sollte er schon Angst haben?
Kyriakos stand auf, um zu den Unterkünften zu gehen. Aris lief ihm fröhlich hinterher. Nach so vielen Tagen konnte er sich endlich zur Mittagszeit ausruhen. Am Nachmittag marschierten sie los. Von Vracha zur Kapelle der St. Anna, sieben Kilometer hin, sieben Kilometer zurück. Die Rekruten marschierten geordnet, die Verbindungsleute waren erfolgreich, die Anweisungen wurden weitergeleitet, die Offiziere wirkten zufrieden. Auf dem Rückweg stimmten sie ein Lied an.


Der Autor
Panagiotis Chatzimoysiadis wurde 1970 in der Siedlung Dytiko der Präfektur Pella/Zetralmakedonien geboren, wo er auch heute noch lebt. Er arbeitet als Philologe in der Gymnasialstufe. Sein literarisches Werk umfasst drei Erzählsammlungen mit Kurzgeschichten, eine Novelle und vier Romane.
Sein Roman „Exoda Nosileias“ (Hospitalisierungskosten) wurde 2011 mit dem Staatlichen Sonderpreis für Literatur für ein Werk mit sensiblem sozialem Thema ausgezeichnet. Seine Erzählsammlung „To chioni ton Agrafon“ (Der Schnee des Agrafa-Gebirges) erhielt 2022 den Romanpreis der renommierten Literaturzeitschrift „O anagnostis“ (Der Leser).

::: zu P. Chatzimoysiadis, Kritiken zu diesem Buch und Interviews hier (auf EL) // Seine Werke und zahlreiche Buchkritiken hier (auf EL) // Zu diesem Buch mit Zusammenfassung und 38 (!) ausführlichen Buchkritiken hier (auf EL) // Forschungsdokumentation mit Berichten von Überlebenden des Marsches siehe YouTube hier (16m16s, auf EL)

Die griechische Ausgabe
Panagiotis Chatzimoysiadis, To chioni ton Agrafon (Der Schnee des Agrafa-Gebirges)
Kichli, Athen 2021
Paperback, 160 Seiten
ISBN: 978-618-5461-32-4 hier

Eine deutsche Ausgabe gibt es bislang nicht.


Der historische Kontext

1_Der griechische Bürgerkrieg 1946-1949

Prof. Dr. Nicole Immig, Justus-Liebig-Universität Gießen, Lehrstuhl für Südosteuropäische Geschichte; aus: „Nikos Kavvadias | Felix Leopold“, Die drei Gedichtbände des griechischen Seemannsdichters, zweisprachige Edition, hier // in diablog.eu hier

Als sich die deutschen Besatzer im April 1944 aus Griechenland zurückzogen, hinterließen sie ein geplündertes, zerstörtes und verletztes Land. Mit dem Wegfall des gemeinsamen Widerstands gegen die deutschen Besatzer erhielten jedoch nun auch die politischen Gegensätze zwischen Kommunisten, Royalisten und konservativen Kräften, die bereits vor dem Krieg die Gesellschaft spalteten, neue Dynamiken. Diese stürzten das Land im Anschluss an die Verheerungen der deutschen Besatzung in einen Bürgerkrieg, der die politischen Fronten verhärtete und radikalisierte. Schätzungen zufolge forderte dieser Bürgerkrieg bis zu seinem Ende im Jahre 1949 mindestens weitere 85.000 Tote, darunter auch zahlreiche Opfer politischer Exekutionen. Nach der Kapitulation der kommunistischen Verbände landeten etwa 20.000 Menschen in Regierungsgefängnissen oder wurden auf Inseln verbannt. Etwa 80-100.000 gingen ins politische Exil in sozialistische oder kommunistische Staaten, darunter Russland, Polen, die Tschechoslowakei, aber auch die DDR.
Viele Griechinnen und Griechen sind heute noch der Ansicht, dass dieser Bürgerkrieg weitaus gravierendere Folgen für Griechenland hatte als der 2. Weltkrieg. Denn hatte die deutsche Besatzung die Menschen auch körperlich und seelisch traumatisiert, so einte sie doch der gemeinsame Widerstand gegen die Besatzer. Der Bürgerkrieg jedoch spaltete die griechische Gesellschaft in zwei unversöhnliche ideologische Lager, die sich häufig quer durch Familien und Freundschaften zogen. Da die Deutschen während der Besatzungszeit vor allem aus royalistischen und national-konservativen Kreisen Kollaborateure rekrutiert und Linksliberale wie Demokraten sich meist dem kommunistischen Widerstand angeschlossen hatten, reduzierte sich in dem politisch-ideologisch aufgeladenen Konflikt zwischen „Rechten“ und „Linken“ bzw. Faschisten und Kommunisten die politische Debatte in den Folgejahren auf grob vereinfachte Feindbilder, auf simple Darstellung und historiographische Schwarz-Weiß-Malerei, durch die sich jedoch komplizierte ethnische, soziale und wirtschaftliche Gemengelagen kaum beschreiben lassen.
Das Ende des Bürgerkriegs 1949 und die Wiedereinführung eines demokratischen parlamentarischen Systems in Griechenland führten nicht dazu, dass sich diese Feindbilder auflösten. Sie dienten den nun folgenden konservativen Regierungen vielmehr häufig dazu, eigene politische Interessen durchzusetzen, die sich nur schwer mit den Grundsätzen einer funktionierenden Demokratie deckten. Die 1950er und 1960er Jahre beinhalteten zwar für weite Teile eine Verbesserung und Modernisierung der Lebensumstände, häufig insbesondere durch den Zuzug in die großen Städte Athen und Thessaloniki und durch gesamtwirtschaftliche Investitionen im Rahmen des Marshall- Plans. Für viele hingegen bedeuteten diese Jahre weiterhin politische Verfolgung und Beobachtung durch einen strengen politischen Antikommunismus und ein starres Klientelsystem, das vor allem durch Misstrauen und Korruption geprägt war und von dem nur einige wenige profitierten.
Viele junge Griechinnen und Griechen verließen in diesen Jahren aufgrund der weiterhin herrschenden Armut in weiten agrarisch geprägten Teilen des Landes, aber auch aus politischen Gründen erneut das Land in Richtung Australien, USA und Kanada. Insbesondere aus den ländlichen Gegenden Nord-Griechenlands gingen nach dem deutsch-griechischen Anwerbevertrag 1962 zahlreiche junge Menschen auch in die Arbeitsmigration in die Bundesrepublik Deutschland.
Die angespannte wirtschaftliche Lage, anhaltende innenpolitische Spannungen, die umstrittene Rolle des griechischen Königshauses und der Monarchie, aber auch die internationale Lage mit dem schwelenden Zypernkonflikt seit den 1950er Jahren ließen das Land nicht zur Ruhe kommen. Ein gewaltsamer Putsch durch eine kleine Gruppe rechtsgerichteter Militärs in der Nacht auf den 21. April 1967 setzte dem Streben zahlreicher politischer Gruppierungen nach einer echten sozialen und demokratischen Grundordnung schließlich ein jähes Ende. Die Generäle, die durch eine gewaltsame und brutale Militärdiktatur versuchten, das Land zu regieren, hatten keine klare politische Ideologie oder Agenda. Ihnen fehlte zudem eine breite politische Basis in der Bevölkerung. Sie konnten sich aber auf einen effektiv agierenden Sicherheitsapparat stützen, der ihnen durch Terror, Einschüchterung, systematische Beobachtung, Verfolgung und Folter politischer Oppositioneller bis 1974 die Macht sicherte. Die Jahre der griechischen Militärjunta haben sich tief in das kollektive Gedächtnis der Bevölkerung eingeschrieben, und die Rückkehr zu demokratischen Strukturen vollzog sich nur langsam.

 

Titelblatt vom 6. März 1948, das den Untergang der Banditenkolonne“ bekanntgibt
© greekhistoryrepository

2_Der Marsch der unbewaffneten Brigade, Februar-März 1948

Giorgos Margaritis, Istoria tou ellinikou emfyliou polemou 1946-1949 (Geschichte des griechischen Bürgerkriegs 1946-1949), Vibliorama, Athen 2001-2002, Band 1, Seiten 482-487, hier (auf EL)

Der Marsch der unbewaffneten Brigade wurde von der kommunistischen Demokratischen Armee Griechenlands (DSE) im Februar 1948 durchgeführt. Ziel war, etwa 1.300 junge Rekruten in die von der DSE kontrollierten Gebiete des Gramos-Gebirges (das sogenannte Freie Griechenland) zu bringen. Dort sollten sie ausgebildet und bewaffnet werden, um die Reihen des DSE aufzufüllen. Die Rekruten stammten hauptsächlich aus den (Zwangs-)Anwerbungen im Dezember 1947 und Januar 1948. Sie wurden als „Brigade der Unbewaffneten Rumeliens“ bekannt, waren von einer bewaffneten Eskorte begleitet und standen unter dem Befehl des ehrgeizigen wie skrupellosen DSE-Generalmajors G. Gousias.
Die Kolonne startete Mitte Februar 1948 und nahm eine andere Route als die bisherigen. Es ging vom Berg Othris über die thessalische Ebene, den Karla-See, die Berge Kissavos, Olymp und Pieria bis zum Gramos-Gebirge, wo die Kolonne am 25. März 1948 ankam. Die Brigade stand von Anfang an unter der Beobachtung der Regierungstruppen, die während des gesamten Marsches versuchten, sie aufzulösen. Sehr widrige Wetterbedingungen taten das ihrige. Ohne Verpflegung und nach zahlreichen Gefechten kamen nur etwas mehr als 300 Rekruten am Gramos an. Die Verluste an Toten, Verwundeten, Gefangengenommenen und Deserteuren machten drei Viertel ihrer anfänglichen Zahl aus.

Text Erzählung: Panagiotis Chatzimoysiadis. Übersetzung: A. Tsingas. Lektorat: A. Gravert. Auszug mit freundlicher Genehmigung des Verlags Kichli. Buchvorstellung: A. Tsingas. Fotos: Verlag Kichli, booksjournal.gr, greekhistoryrepository. Beitragsbild: Dimitris Letsios.

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