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In Stuttgart leben derzeit ca. 15 000 und in der Region 45 000 Griechen. 1960 kamen die ersten als Arbeitskräfte mit Sonderzügen aus Thessaloniki dort an: Die deutsche Wirtschaft boomte. Die Migranten brachten natürlich auch ihre Musik mit. Simon Steiner ist einigen Spuren in Stuttgart und Umgebung nachgegangen.
Ein populäres griechisches Musik-Genre ist der Rembetiko. Er wurde von der osmanischen klassischen Musik, der städtischen Volksmusik (der unteren sozialen Schichten des griechischsprachigen östlichen Mittelmeerraums) und der europäischen Musik beeinflusst. Rembetiko ist letztendlich eine urbane Volksmusik, die im 20. Jahrhundert in Griechenland entstand. Ihr Markenzeichen sind orientalisch klingende Tonleitern und der 9/8-Takt.
::: Zur Schreibweise: Rembetiko, Rebetiko, Rempetiko – aber nicht Rebetico!
2022 und 2023 gedenkt Griechenland der Kleinasiatischen Katastrophe 1922: Dem Massaker von Smyrna (Izmir), als die Osmanen als Folge griechischer Expansionspolitik die Stadt in Brand setzten. Viele Griechen wurden in ihrer kleinasiatischen Heimat ermordet. Der anschließende Bevölkerungsaustausch spülte über 1,2 Millionen christliche Flüchtlinge aus Kleinasien in das griechische Mutterland. Nicht wenige Griechen in Stuttgart sind Nachkommen dieser Vertriebenen. Flucht und Vertreibung aus „Mikra Asia“ bilden den historischen Hintergrund dieses griechischen Musik-Genres.
Rembetiko spielte sich an zwei historischen Orten ab: In dem teke, einem Haschischlokal in den 30er Jahren in Piräus und im Café Aman in Smyrni bzw. Konstantinopel. (vgl. hier) 1936 verbot die Militärdiktatur unter Metaxas diese Musik, ließ Instrumente zertrümmern und Musiker verhaften. Die subversive Energie und politische Kraft des Genres drückt sich in Gefängnis- und Protestliedern gegen Polizei und Schallplattenproduzenten aus. Wirtschaftliche Not zwang nicht wenige Rembeten, die Rembetiko-Musiker, in die USA zu migrieren. Umso erstaunlicher: Der Rembetiko gehört seit 2017 zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit.
Die Anfänge in Stuttgart – Gastarbeiter aus Griechenland
Viele griechische Gastarbeiter und deren Nachkommen exportierten den Rembetiko nach Stuttgart. Sie trugen dieses Musik-Genre im Gepäck und in ihrer Seele. Ein Baglamas, der kleine Bruder der Bouzouki, ist so zierlich, dass er locker in einen Reisekoffer passte. Im verrauchten Pireus in der Hasenbergstraße im Stuttgarter Westen zelebrierten die Hellenen in den 60er und 70er Jahren die Klänge ihrer Heimat. Dort trafen sich Clubchefs und Fußballspieler vom VfB und den Kickers. Nur wenige Gäste der Taverne konnten wissen, welche Töne durch den Raum schwebten. Ballett-Direktor John Cranko und die Stars seines Ensembles tanzten auf den Tischen.
::: John Cranko hier
Der Journalist und Stadtvagabund der „Stuttgarter Nachrichten“ Joe Bauer schrieb an den Autor: „Tatsache ist: Damals wusste fast niemand unter uns Kartoffeln etwas über den Rembetiko. Der Griechen-Blues war nahezu unbekannt. War halt Griechen-Musik, und die wurde wie alle anderen Stile über Klischees definiert. War vermutlich alles Sirtaki – Tellerwerfen u. ä.“ Neue, stilvolle Tavernen bauen den Rembetiko in ihr Live-Programm ein und vermischen Haschischlieder mit Schlagern und Volksmusik. Nur Griechen oder Insider verstehen die derben und traurigen Rembetiko-Texte und können es von anderer Volksmusik unterscheiden.
::: Bericht von Joe Bauer zu einem griechischen Wirt hier
Rembetiko live!
Achtung: Rembetiko ist rar! „Rembetiko gibt’s nicht mehr“, wissen angeblich die meisten befragten Griechen. Nicht wenige Stuttgarter Griechen bevorzugen Tanz- und Trachtenvereine. Aber: In Stuttgart weht in Tavernen, Clubs und Theater, im Radio, auf Tonträgern, im Kino, in Büchern und auf Konzerten tatsächlich ein Hauch von Rembetiko.
In Maria Petsanis Taverne Diogenes in der Silberburgstraße greifen, wenn es samstags brechend voll ist, Griechen manchmal zu ihren typischen Instrumenten, spielen Rembetiko und andere griechische Volksmusik und dann bildet sich spontan ein kleiner Reigentanz. Ein wahrer Rembetiko-Kenner tanzt den improvisierten Solotanz Zeibekiko, zwei, drei Gäste gehen in die Knie und feuern den Tänzer klatschend und pfeifend an. Der gerät in Trance, schwebt und versinkt sinnbildlich in der Unterwelt, im Hades. Auf einmal ist sie ganz präsent: Die griechische Lebensfreude, gepaart mit griechischem Weltschmerz, der in vielen Rembetiko-Liedern lauert.
Maria betrieb mit ihrem kürzlich verstorbenen Mann Dimi von 1997 bis 2000 das Rembetico am Rosenbergplatz. Auf dem Tresen breitete Dimi damals seine Rembetiko-Mixkassetten aus. Er wusste alles über diesen Stil und erzählte gerne vom Can Can in Kornwestheim, einem Bouzouki-Club, in dem, als Ausdruck der Lebensfreude, Rosen und Teller flogen. Das Vergnügungslokal (Ende 80er bis Anfang 90er) ist Legende, denn dort spielte sich die Hölle ab, ein Hexenkessel muss das gewesen sein! Musik ist Spaßfaktor, hedonistisches Ventil. Die Menschen können sich ablenken und die Alltagssorgen vergessen.
Maria C., die heute in einem großen Supermarkt am Marienplatz arbeitet, war damals dabei: „Wir haben unser hart verdientes Geld rausgehauen, alles vergessen und gefeiert bis zum Umfallen, danach gings uns richtig gut!“ Neulich hat sie noch erzählt: „Ach, damals! Wir waren jung, haben alles gegeben, durchgemacht, sind aus den Bouzoukia, den Bouzouki-Musikclubs, direkt zur Arbeit gegangen. So viel erlebt!“ Und Adissa, die in der Küche im Jugendamt arbeitet und aus dem ehemaligen Jugoslawien kommt, erzählt: „In den Bouzouki-Läden haben sich alle Gastronomen getroffen, nach 12 Uhr, alle Wirte, all die Arbeiter, vom Bau, wir, die einfachen Leute, sind alles losgeworden, was sich die Woche über angestaut hatte! Nein, da waren aber keine Deutschen dabei, nur wir Arbeiter!“ Rembetiko, allein das Wort wirkt wie ein Magnet. Wirt Christos Stanis meint: „Das war ein Zirkus! Mein Vater war Teilhaber. Die vorherrschende Musik war aber eher Laiko und Dimotiko. Authentischen Rembetiko gab´s in Ausnahmefällen auf Wunsch, man sagt „auf Bestellung“, wofür man auch einen Geldschein zog.

Im DO RE MI (1991/92 bis 28.5.2011) am Rotebühlplatz ging es tief den Keller runter: Schrill elektrisch verstärkte Bouzoukis, schicke Frauen, tolle Typen, ein Meer aus Rosen, bunte Früchteplatten, angezündeter Whisky und zerschlagene Teller. Der Gründer des DO RE MI heißt Sokratis, er betreibt heute die Taverne Arigato in der Tübinger Straße. Sokratis holte einige Kracher in seine Lokale, „ja, natürlich, da waren auch ein paar echte Rembeten dabei!“, erinnert er sich vage. „Reutlingen/Tübingen“, sagt er, „da ist die Quelle!“ (*) Tatsächlich! Fast jeden Samstag bietet die Traube in Tübingen Rembetiko live, gespielt von ausgezeichneten Musikern wie Nikos Hatziliadis. Sogar der griechische Fernsehsender ET3 berichtete darüber. Nikos erzählt: „Ich habe ab 1977 bis 1984 Samstags im Bierkeller der Mensa in Tübingen gespielt.
(*) Simon Steiner schrieb das Standardwerk „Wie der Punk nach Stuttgart kam“. Auffallend viele Punk-Bands kamen aus dem Ballungsraum Stuttgart, überwiegend aus Reutlingen/Tübingen und Winnenden/Waiblingen. Beim Rembetiko ist es ähnlich. Beide Subkulturen verbreiteten sich eher im ländlichen Raum bzw. in der Region. |

Mit der Kompania Apo ta Perix gaben wir Konzerte in Jugend- und Konzert-Häusern, der Ochsen in Jettenburg war in den 90ern ein legendärer Treff und schließlich in der Traube, im Café Nepomuk und in Reutlingen im Kulturzentrum franz.K. „Wir waren mutig genug, Schlagermusik abzulehnen und hatten ein Publikum, das uns unterstützt“, erklärt Nikos Hatziliadis.
Das Varieté auf dem Killesberg in Stuttgart Feuerbach war in den 90ern ein Highlight. Die Bilder mit den großen Rembeten an der Wand und die bewaffneten kleinasiatischen Freischärler, die Zeibeken, mit Haschischpfeifen und Baglamas auf dem Schoß, zauberten die Besucher in vergangene Zeiten. „Plötzlich steht eine Frau auf einem Stuhl und breitet die Arme aus, verschnörkelt die Finger, sie deutet einen Tsifteteli, einen Bauchtanz, an und ihre Freunde summen ein langes, zischendes sss“, erinnert sich Aris. Der Stil war egal, ob Rembetiko, Dimotiko oder Laiko. Es geht immer um das Ganze, so ziemlich alles an griechischer Volksmusik wird vermischt.
Felix Leopold ist in Stuttgart aufgewachsen und lebt seit vielen Jahren in Thessaloniki. 1992 war er Gründungsmitglied des Quintetts Parea, das im Retsinadiko in Stuttgart-Feuerbach und im Arigato Rembetika und Balladen spielte. Auch als Solist kommt er oft nach Stuttgart und hat immer wieder ein paar Rembetika im Programm. Gerade erschien seine Übersetzung der drei Gedichtbände des griechischen Seemannsdichters Nikos Kavvadias, hier.
Im Gasthaus Brett, im Bohnenviertel, trat das Rembeten-Duo Lefta mehrmals auf und die Wirtin Woula flippte vor Begeisterung aus. Lefta spielt nur pure Rembetika und zeigt in Galerien und Theatern Bilder und Filme über die Geschichte des Genres. Lefta sind Klaus Pfeiffer, geboren in Brasilien und Simon Steiner aus Stuttgart. Sie spielen auf Baglamas, Tzouras und Bouzouki alte Lieder, die Schmerz und Leidenschaft, aber auch Liebe und Lebensfreude ausdrücken.
::: Lefta hier
Rembetiko ist allerdings mehr als (nur) hedonistische Unterhaltung: Für einen Auftritt in der Galerie Abtart suchte Steiner nach politischen Rembetika: Chaidari von Markos Vamvakaris handelt von dem KZ bei Athen, Saltadoros von Michalis Jenitsaris vom Widerstand gegen die NS-Herrschaft in Thessaloniki, To Juést (Το Γουέστ) von Piperakis erinnert an die griechischen Migrantenströme nach Amerika und Batis widmete seine Rembetika der Arbeiterschaft, den Heizern und Schwammtauchern, Frisören, Kellnern und Gefängnisinsassen. Wobei der Rembetiko nicht nur Spelunken, Gefängnissen und Straßen entsprang, sondern auch Lieder mit Humor, Charme und mitfühlendem Trost für eine durch Armut und Krieg ständig traumatisierte Bevölkerung umfasst.
Für die Auftritte von Lefta steuerte Alessandro Oertwig Visuals, also Dias bei, die das Publikum sehr positiv überraschten. Oertwig meinte dazu: „Ich habe versucht das «Vergangene» als Pop Art zu interpretieren. Waffen, Gewalt, Drogen und Sex sind eigentlich in dem Kontext negativ. Auch das Frauenthema. Es erschien mir die einzige valide Möglichkeit das nicht zu «mythisieren». Es soll leicht sein. Pop halt. Historische Grafik oder Fotos pur wären langweilig gewesen.“ Auf der Bühne wurden Lefta von Konstantinos Skopas und Vasilis Alexiadis aus Athen unterstützt, die vorübergehend in Stuttgart wohnten. „Spielt ihr auch Tsitsanis?“, fragte eine Irländerin im Gasthaus Brett. „Nein, aber Markos Vamvakaris, Giorgos Batis, Anestis Delias, alle aus der großen Epoche des Rembetiko, den 30er Jahren in Piräus“, war die Antwort. Jannis Kominis, Gastarbeitersohn, erinnert sich: „In den 90er Jahren gab es in Stuttgart „Rembetikes Vradies“, Rembetika-Abende, jeden Donnerstag im Inside Club in Stuttgart-Feuerbach, danach kamen weitere Tavernen und Bars hinzu. Die großen Konzerte in der Liederhalle mit Giorgos Dalaras und auch das tolle Konzert mit Eleftheria Arvanitaki – unvergesslich. Ich hatte eine griechische Freundin, der das Konzert nicht gefiel, und ich habe sofort mit ihr Schluss gemacht.“
Bis Winnenden drang der Rembetiko über zwei deutsch-griechische Brüder vor: Niko und Kosta Hatzis, in Deutschland geboren, der Vater Grieche, die Mutter Schwäbin. Sie gründeten die Greek Blues Band.
Evangelos Dimopoulos gehörte dazu, er spielte ab 1991 bei Megas Anatolikos, um 2000 mit Apo ta perix in der Traube, in Tübingen, und ab 2007 bei Drosostalides. „Viele Kompanias spielten bei Tanzveranstaltungen, kein schöner Sound … Ach, die Verstärkeranlagen, die Mikrofone, grelle elektrische Bouzouki … Aber sehr vielen gefällt genau das. Ist ja auch ein gutes Stück Heimat für uns Griechen“, teilte er mit.

Die Kompania Omega aus Esslingen war seit 1979 jahrelang „Gesicht und Seele Griechenlands“. Der Rembetiko gehörte selbstverständlich zu ihrem Repertoire, nicht nur die großen Hymnen aus Piräus sondern auch die orientalisch klingenden Café Aman-Lieder.
In den frühen 2000er Jahren tat sich der zypriotische Klangkünstler und Komponist Yannis Kyriakides mit dem The Ex-Gitarristen Andy Moor zusammen, um authentische Versionen von Rembetiko-Liedern aufzuführen. Fünf Jahre später hatten sie die Idee, zu diesem Repertoire zurückzukehren und die Stücke als elektroakustische Improvisationen aufzuführen. Das Ergebnis, die experimentelle CD „Rebetiko“, war atemberaubend (hier).
Im März 2023 gab dieser Andy Moor im Musiklokal Stromraum in Bad Cannstatt ein experimentelles Konzert, bei dem er seinem Walkman Rembetiko-Ausschnitte entlockte. Als ihm Veranstalter Eckhart Holzboog später in der Küche seinen Baglamas überreichte, drehte Moor durch: „Wow, zum ersten Mal das kleine Ding in der Hand!“ Er schrammelte sich in einen Rausch und die letzten Gäste tanzten sich in die Nacht.

Auf dem Sommerfest 2023 in Stuttgart-Vaihingen lud Petros Pantazis zu einer musikalischen Reise durch die Ägäis ein. „Ja, auch Rembetika waren dabei, natürlich!“, berichtete er per Telefon. In Stuttgart und Umgebung existiert allerdings keine ausgeprägte Rembetiko-Szene (genausowenig wie man in Athen eine deutsche HipHop-Szene finden kann).
Rembetiko medial – Tonträger, Bücher und Filme
Das Schallplatten-Label trikont warf 1982 das Doppelalbum „Fünf Griechen in der Hölle – und andere Rembetika Lieder“ auf den Markt. In der Lerche in der Königstraße hütete es das Regal „Weltmusik“ und erfreute sich unter deutschen Insidern großer Beliebtheit (hier). Die Doppel-CD „Rembetika (Songs Of The Greek Underground 1925-1947)“ veröffentlichte trikont 2001 (hier).

Die gelungene Compilation mit informativem Booklet versteckte sich im Zweitausendeins-Laden in der Charlottenstraße zwischen Flamenco, Fado und Tango.
Bis Mitte der 2000er Jahre konnte man sich in Cannstatt bei M&L records in der Seelbergstraße durch Rembetiko-Schallplatten und -CDs wühlen und Insidergespräche mit den Inhabern, zwei Brüdern, führen. Griechenlandurlauber fiel auf ihren mitgebrachten folkloristischen CDs der Rembetiko nicht sonderlich auf, denn das Genre fristete auf so mancher CD ein verborgenes Leben. Bei Tommes Records in der Olgastraße stapeln sich Schallplatten aus Griechenland und auch ein paar Rembetika-Scheiben sind dabei. „Die kaufen dann griechische Touristen, die hier Urlaub machen“, erklärt Tommes.
Als Musiklehrer und Autor gelang es mir, die Tonträger-Schätze der ersten Gastarbeitergeneration zu retten, denn ihre Kinder brachten sie in den Musikunterricht mit. In der Katharinenstraße 15 in Stuttgart-Mitte führte Jean Adaktylos bis 2004 den fachlich ausgezeichneten Buchladen Gr. Bücher – Musik – Video. Dort stapelten sich wahre Schätze an CDs, fast die komplette Reihe „Synthetes tou Rembetikou“ (Komponisten des Rembetiko) aus dem Kounadis-Archiv und auch das Buch zur Kleinasiatischen Katastrophe „Grüß mir die Erde, die uns beide geboren hat“ von Dido Sotiriu war dort zu bekommen. Eine weitere Anlaufstelle war 1998 bis 2005 der Buchladen alpha beta von Nikos Tampakis in Bad Cannstatt. 1990 erschien in der Literaturzeitschrift Lettre die „Rebetologia, eine monotone Schwätzerei in 24 Paragraphen“ von Elias Petropoulos. In der Württembergischen Landesbibliothek lieh sich der Autor Anfang 2000 die Doktorarbeit „Das Rebetiko“ von Eberhard Dietrich, 1987, und den Klassiker „Rembetika“, 1979, von Gail Holst aus. Weitere Fachbücher von Ioannis Zelepos: „Rebetiko – die Karriere einer Subkultur“ (2001) und Elias Petropoulos: „Rebetiko“ (2002) erschienen auf dem deutschen Buchmarkt, sind aber vergriffen. In dem hypnotischen Comicroman „Rembetiko“ von David Prudhomme finden vier Rembeten in verrufenen Hafentavernen Erlösung vor Elend und Repression. Das wunderschöne Buch stand ab 2009 in Stuttgarter Buchläden und begeistert bis heute nicht nur Musikfans.
Bereits 1983 schaffte der Kinofilm „Rembetiko“ von Costas Ferris den Durchbruch dieses raren Genres (Silberner Bär auf der Berlinale 1984; die Filmmusik ist von Stavros Xarchakos). Im Mittelpunkt steht die Geschichte der bekannten Rembetiko-Sängerin Marika Ninou. Kleine Programmkinos und der 1999 gegründete Argonauten Verein zeigten den tragischen Streifen voller Drogen, Vertreibung, Flucht, Gewalt und herzhafter Musik.
::: Zum Film Rembetiko auf Wikipedia hier
::: Der ganze Film mit EN-Untertiteln auf YouTube hier
Der Franko-Algerier Tony Gatlif verwebte in seinem Road-Movie „Djam“ Rembetiko mit einer Story über Heimat und Exil entlang der heutigen Flüchtlingsroute. Das Theater Rampe in der Filderstraße und die Deutsch-Griechische Gesellschaft Böblingen/Sindelfingen zeigten den Film 2022.
::: Djam hier
::: Theater Rampe hier
::: Deutsch-Griechische Gesellschaft Böblingen/Sindelfingen hier
Rembetiko Radio
Im Freien Radio für Stuttgart griff Alexander Kurz in den 90er Jahren das Thema Rembetiko auf und verwies auf die großen Rembetisses, die Sängerinnen des Rembetiko, Rita Abatzi und Roza Eskenazy. Christoph Wagner gestaltete 2005 für den SWR 2 eine Radiosendung, der Sender griff das Genre 2022 erneut auf. Viele Touristen und Gastarbeiter drehten an der Feinabstimmung ihrer Kurzwelle-Radios: Mit Fingerspitzengefühl konnte man die ERT (Elliniki Radiofonia Tileorasi, Staatliche Rundfunkanstalt Griechenlands) empfangen – und so drang zu bestimmten Stunden verzerrter und knisternder Rembetiko in die Stuttgarter Wohnzimmer.
::: Rita Abatzi hier
::: Roza Eskenazy hier
Rembetiko Nachwuchs: Die Bouzouki-Musikschule
Christos Sourantanopoulos, Leiter der Musikschule X.S.Music in der Sophienstraße lehrt u.a. auch Bouzouki. Seine Schüler kommen auf erstaunliche Erfolge, flink und fit spielen sie „mit links“ Rembetika und andere griechische Volksmusik. Instrumente wie Baglamas oder Bouzouki kann man in Stuttgart und Umgebung allerdings nicht kaufen. Sie werden direkt aus Griechenland mitgebracht.
::: X.S.Music hier
Mit seiner Kompania Laiko Sergiani, Spaziergang durch die Volksmusik, spielt er alle griechischen volkstümlichen Stile. Sein persönliches Lieblingsstück ist der Rembetiko „Pente magkes ston Perea“, Fünf Kerle in Piräus. Magkes, das waren die Vagabunden, Zocker, Typen, die echten Rembeten, die sich in der Halbwelt herumtrieben. Christos hat kein Problem damit, dass sich seine Schüler mit dieser Subkultur auseinander setzen. „Rembetiko ist Kulturgut, dafür kämpfe ich!“, teilt er mit und lehrt auch die leichteren Rembetika über Liebe, Spaß und Lebensfreude. „Wir lernen, üben und spielen alle Stile!“, betont er und freut sich, bald mit seinen Schülern und seiner Kompania ein lupenreines Rembetiko-Konzert spielen zu können. „Die deutsche Schülerin Simone liebt Rembetiko über alles!“, erzählt Christos. Sie ist im Internet auf die Rembetiko TV-Reihe „To minore tis avgis“ (Das Moll der Morgendämmerung) gestoßen. „Die Atmosphäre und natürlich die Musik haben mich dann dazu bewogen, meine Mandoline gegen ein dreisaitiges Bouzouki zu tauschen. Ich spiele Stücke von Markos Vamvakaris, möglichst schnörkellos, in einer Lage zu der ich selbst gut singen kann. Meine Instrumentensammlung ist seitdem um ein paar Baglamades, Tzourades und Bouzoukia gewachsen, deren Glanzstück: ein Bouzouki mit Motiv nach meinem eigenen Entwurf.“
::: Pente magkes ston Perea in einer zeitgenössischen Version hier
::: Die Serie To minore tis avgis hier
Savvas und Alex, beide 21, spielen sich in einen Geschwindigkeitsrausch, perfekt und brillant! Savvas schrieb per social media: „Ich spiele seit 2015 Bouzouki und bin einfach nur dankbar!“ Gymnasiastin Philina entschied sich in ihrer Projektprüfung für Rembetiko und landete einen Volltreffer! Note: eine glatte Eins!
Obwohl international viele junge Musiker Rembetiko elektronisch aufpeppen und das Genre mit anderen poppigen Stilen vermischen, bleibt Rembetiko folkloristisch und der Tradition verpflichtet, ein Volkslied eben, das gerne in der parea, der Clique, im kleinen Kreis, in der Taverne oder kleinen Theatern akustisch gespielt und gesungen wird, auch von der jüngeren Generation. Rembetiko bleibt rar, ein Geheimtipp, in dem sich Traurigkeit und Lebensfreude paaren! Mit etwas Glück landet man in einer Taverne und spürt nach Mitternacht eine gewisse Schwere! Das ist nicht nur der Wein, nein, das ist dann der Rembetiko …
::: Simon Steiner auf diablog.eu hier
::: Zu Rembetiko-Musik siehe auch seinen Artikel in der taz hier
Der Autor
Simon Steiner studierte an der PH Esslingen Deutsch und Geschichte. Er war Lehrer, u.a. für internationale Vorbereitungsklassen und Lehrerausbilder. Beim Jugendamt Stuttgart ist er heute noch im Bereich Sprachförderung tätig.
1976 überrumpelte ihn seine erste musikalische Liebe, Punk. 2017 erschien sein Buch „Wie der Punk nach Stuttgart kam“ (hier), ein sehr umfangreiches und 3,5 kg schweres Werk. Längst lebt er aber eine andere Undergroundmusik: Rembetiko. Als Musiker und freier Autor hat er sein zweites Standbein in Griechenland, wo er über die Musik seines Gastlandes schreibt.
::: Zu Simon Steiner ausführlicher hier
Das Interview
diablog.eu hat Simon Steiner einige Fragen zu seinem „griechischen“ Werdegang gestellt.
Wann hast du Rembetiko zum ersten Mal bewusst gehört?
1979 in Vagelis Taverna in Vasilika-Psaropouli (Nordeuböa) direkt am Meer und kurz darauf auch live in Vasilika. Da spielten junge Einheimische, mit denen ich noch heute befreundet bin. Auch die Schriftstellerin Dido Sotiriu (gestorben 2004; hier) ging „bei uns“ in Vasilika immer spazieren. Bei Vageli erkundigte ich mich nach ihr und ihrem Buch zur Kleinasiatischen Katastrophe und wollte von ihm auch alles über Rembetiko wissen. Zuhause in Stuttgart lieh ich mir in der Bibliothek Sotirius Bücher aus und der Rembetiko wurde Teil meines Lebens und sogar meines Musikunterrichts.
2000 kaufte ich in Athen eine Mini-Bouzouki, später einen Baglamas und eine Tzouras. Zum Geburtstag meiner Frau gründete ich mit Klaus Pfeiffer 2012 das Duo Lefta, hier.
Wir wurden für das renommierte Theater tri-bühne (hier) engagiert, also übten wir in 2 Monaten 12 Rembetika ein. Im Laufe der Jahre reicherten wir Rembetika experimentell mit elektronischen Effekten und fieldrecordings an, erfreuten uns an neuen, eigenen Arrangements und Riffs und mischten auch andere Stile wie Psychedelic, Punk und Jazz dazu. Aktuell trete ich mit meiner Frau auf, sie lernt Baglamas und spielt Percussions.
::: Dido Sotiriu/Sotiriou auf Deutsch: „Grüß mir die Erde, die uns beide geboren hat“, 1994; Neuauflage 2016 unter dem Titel „Lebewohl, Anatolien“; Edition Romiosini hier
Wann hat es bei dir Klick gemacht? Und vor allem: Warum hat es klick gemacht?
Klick gemacht hat es gleich 1978! Ich spürte sofort, dass die Rembetika Volkslieder sind und oftmals wie europäische Kindermelodien klingen, wenn auch etwas traurig und orientalisch, genau das gefiel mir. Sie erinnerten mich an meinen Vater Luis, er war Gründer und Leiter der Stuttgarter Musikschule und arrangierte Volksmusik. Reigentänze lernte ich schon als Kind bei meiner Mutter Lucie, sie war in den 60ern die Erfinderin der Rhythmisch-Musikalischen Früherziehung. Außerdem begeisterte mich die Verbindung von Geschichte und Musik, also die Erkenntnis, dass beim Rembetiko Geschichte als Träger der Musik funktioniert und dabei Schmerz und Leid – Flucht, Vertreibung und Migration –, aber auch Lebensfreude, Liebe und das subversive Herumvagabundieren ausdrückt. Eine innere Neigung zu Subversivem und Subkultur scheint mir sowieso eigen zu sein. 1981 schrieb ich meine Examensarbeit über Jugend und Subkultur – Die Punkbewegung. Meine Schwester DJ Elly nahm mich früh mit in die Schwulen- und Lesbenszene der Stuttgarter Subkultur. Da war ich noch ein Teenie. Schnell fand ich Einblick in die Stuttgarter Szene.
Wie bist du von der westlichen Musik auf den Rembetiko übergegangen, den du nun seit Jahrzehnten spielst? Was machst du noch parallel dazu?
Eigentlich komme ich – chronologisch gesehen – vom Blues, Jazz, Punk und New Wave; aber durch die Liebe zu Griechenland, das ich seit 1978 besuche und wo ich mit meiner Frau seit 2000 auch lebe, wollte ich auch „griechisch“ spielen und Zugang zu dieser Mentalität finden. Um zu verstehen, worum es in den Rembetiko-Texten überhaupt geht, lernte ich Griechisch!
Mein Lefta-Compagnon Klaus Pfeiffer spielt jetzt Bossa Nova und ich experimentiere und realisiere Rembetiko-basierte Sound-Collagen. In frei improvisierten Sessions im Stromkeller in Bad Cannstatt spiele ich immer noch Saxofon und auf der Klarinette kann ich mich mittlerweile im griechischen Epirus-Stil ausdrücken. Es vergeht keine Session, in der ich nicht meine Rembetikoliebe ausdrücke und die anderen dann auch aufspringen. In den letzten Jahren habe ich zahlreiche Rembetiko-Beiträge für Printmedien und elektronische Portale veröffentlicht – und treibe mich genüsslich im Forum www.rembetiko.gr herum.
::: Steiner-Artikel in diablog.eu hier
Was sind deine musikalischen Kontakte in Stuttgart?
Soll ich sie wirklich aufzählen? So viel willst du gar nicht wissen 🙂
Wir hatten einen Session-Keller am Güterbahnhof Stuttgart, den GBH. Der Maybachkeller Stuttgart, der MBK, war auch so ein Kontaktpool. Heute jamen wir im Stromraum in Cannstatt. Alle drei locations waren bzw. sind eher Rock-, Jazz-, Free- oder Elektronik-betont, aber ich ließ immer und überall meine Liebe zum Rembetiko einfließen. Heutzutage ist es relativ egal, wo du lebst, weil du die Studiomusikspuren über elektronische Medien einfach hin- und herschicken kannst. Musikalisch lassen sich so Griechenland und Stuttgart leicht miteinander verbinden, das geht digital. Bei mir sind die Mitbringsel aus Griechenland also nicht nur selbstgepflückter Oregano oder Olivenöl aus eigener Produktion, sondern auch Musik und field recordings!
::: zu Rembetiko-Experimenten hier
Was beschäftigt dich abseits des „Musizierens“?
Griechisch kochen, Griechenland, mein Fußballverein VfB und Stuttgarts Musikgeschichte der Neuzeit. Nach der Recherche „Wie der Punk nach Stuttgart kam“ wäre es nur konsequent, die Frage „Wie der Rembetiko nach Stuttgart kam“ aufzuarbeiten. Genau das mache ich zurzeit. Ich habe Kontakte zu vielen, die den Rembetiko nach Stuttgart brachten, zur hiesigen griechischen Musikszene sowie zu den Tavernen und anderen Veranstaltungsorten, die diese Musik förderten und fördern. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht Griechen über den Weg laufe und ich spüre blitzschnell, wer vom Rembetiko beseelt ist. Ich glaube, ich werde mich – wie mein Vater – später noch mehr der Neuen Musik zuwenden und ganz ehrlich: der schwäbischen und bayrischen Volksmusik. Da höre ich Parallelen zum Rembetiko und ich freue mich, dass alles eins ist.
Spannend! Für deine Unterfangen wünscht dir diablog.eu viel Erfolg!
Text: Simon Steiner. Aufbereitung, Lektorat und Interview: A. Tsingas. Fotos: Archiv Simon Steiner. Beitragsbild: Julia Rein.
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Alles hochinteressant was Du recherchiert hast und soviele Menschen daran teilhaben lässt. Man kann nur den Hut ziehen, ich freue mich solche Menschen wie Dich zu kennen. Noch habe ich nicht alles durch. Die Verweise werde ich nach und nach durchgehen und aufsaugen. Da steckt ja soviel Stuttgarter Geschichte drin, die von unseren griechischen Mitbürgern vermittelt wurde und wird.
Roland
Toll recherchierter Artikel in dem es ja nicht nur um Rembetiko, sondern auch um Geschichte allgemein und Stuttgart geht. Ich bin angemessen begeistert.
Wann folgt das Buch zum Thema 🙂
Barny
Man bekommt eine gute Vorstellung über Rebetiko um Stuttgart herum
und Lust, diese Musik kennenzulernen!
Nikos
Journalismus mit Herzblut und viel Seele – wie ich finde. Und auch dieser umfassende, fast wissenschaftsjournalistische Ansatz begeistert mich sehr.
Georg
Sehr schön! Auch wenn ich im letzten Jahrtausend noch nicht dabei war, aber Lefta kenne ich! 😉
Der crossover im Stromraum, auch mit deinen Einflüssen, und der Bossa von Alex und die Loops von Alé, das ist schon speziell!
Frank
Toll!! Richtig toll!!!
Felix
Poly kalo. Gut recherchiert.
Georg
Da hast ja wirklich alles reingepackt, was geht, sozusagen das kommende Buch en miniature mit Verweisen in alle Richtungen. Klasse! (Höre gerade deine Playlist auf der Mbk-Seite.)
Alex
Sehr schöner Blog, den ich sofort unter meinen Favoriten verlinkt habe. Musik, Essen, Respekt und Freundschaft muss mehr Platz in unserem Leben einnehmen.
Vielen herzlichen Dank für so viel Lob!