Die von.Karagianni-Straße in der nordgriechischen Stadt Kozani

Die griechische Abstammung des Stardirigenten Herbert von Karajan

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Straßennamen halten die Erinnerung an namhafte Personen wach. Paschalis Tounas, der uns wiederholt verborgene Schätze der griechischen Natur nähergebracht hat, begibt sich diesmal für diablog.eu auf urbane Spurensuche.

Heute ist Nikolaustag, die Stadt Kozani feiert ihren Schutzpatron. Die Gegend um die gleichnamige Kirche ist beflaggt, die Atmosphäre sehr feierlich. Die Mamatsios-Uhr auf dem Glockenturm steuert ihren rhythmischen Impuls zu den Festlichkeiten der Stadt bei. Die Kaffeemaschinen schnaufen vor sich hin, werden vorgeheizt, damit sie ohne Verzögerung das begehrte Getränk als warmen Schutz gegen den frostigen Wintermorgen liefern können. Das elektronische Thermometer der Apotheke gegenüber dem Café des altehrwürdigen Hotels zeigt minus 5 Grad Celsius an.

kirchturm
Mamatsios-Uhr auf dem Glockenturm, li. die Kirche Agios Nikolaos, re. das Rathaus von Kozani

Die ruhige Atmosphäre in dem von den ersten Sonnenstrahlen durchfluteten Erdgeschoss des Hotels wird durch das kontinuierliche Klicken der Kamera des Herrn an dem Tisch unterbrochen, der an der Glasfront steht, wo die Platia Nikis, also der Siegesplatz, in die Fußgängerzone mündet. Zufrieden, wie es scheint, mit dem Ergebnis der Aufnahme – er hatte ein ähnliches Foto vor vielen Jahren von derselben Stelle aus geschossen – legt er die Digitalkamera in ihr Etui zurück, stellt sie kurz auf den Tisch, taucht seinen Biskuit in den heißen Kaffee – eine köstliche Belohnung für die gelungene Momentaufnahme –, und lässt sie dann in der Ledertasche verschwinden, die offen auf dem Stuhl neben ihm steht. Gleich darauf befördert er routiniert wie ein Zauberer eine Zeitung, ein kleines Päckchen und eine Schachtel Karelia-Zigaretten aus der Tasche.

Er entfaltet die plakatgroße Zeitung, die nun fast an der Fensterscheibe klebt und vom Sonnenlicht transparent wird, er liest daraus vor, wissend, dass ihm niemand zuhört. Die Ruhe ist verflogen, nach der Heiligen Messe hat sich das Café innerhalb von Sekunden bis auf den letzten Platz gefüllt; Stimmengewirr, Gelächter und allgemeiner Lärm neben der dumpfen, monotonen Hintergrundmusik. „Der Stardirigent Herbert von Karajan kommt in unsere Stadt“, liest der Fotograf halblaut von der Titelseite der „Enosis“ ab, einer Wochenzeitung aus Kozani. Sie stammt aus dem Jahr 1962. Der junge, aber trotzdem erfahrene Kellner, der am Nebentisch bediente und in der Lage war, Informationen auch aus dem anhaltenden Stimmengewirr, das im Raum herrschte, herauszuhören, fragte: „Wer kommt?“ „Von Karajan“, antwortete der Gast. Der Kellner meinte daraufhin: „Ich wohne an der Kreuzung zweier „von“-Straßen: ΦΟΝ KOZANI (φον in griechischer Schrift) und FON.KARAGIANNI (in lateinischer Schrift mit einem Punkt dazwischen).

Der Zeitungsleser lachte und erklärte dem eloquenten jungen Mann, dass es nur ein einziges „von” gebe und deutsch sei, zum einen eine Präposition und zum anderen ein Adelsprädikat. In diesem Fall kommt Karagianni offensichtlich der Person Karajan aus dem Artikel sehr nah. Es handelt sich um den bekannten Dirigenten Herbert von Karajan, der wohl griechische Vorfahren hatte. Die Familie von Georgios Karagianni, geboren 1743 in Kozani, ließ sich um 1760 in Österreich nieder, wo sie sich in Handel, Kunst und Sprache profilierte.

„Junger Mann, was ist mit meinem Tee? Ist er unterwegs?“, tönte es von einem Nachbartisch. „Ich muss jetzt gehen, mein Herr! Ich danke Ihnen für die Information, wenn Sie Zeit haben, könnten wir uns morgen früh in aller Ruhe noch einmal unterhalten. Wohnen Sie in Kozani?“
„Ja, ich bin hier im Hotel untergebracht.“
„Perfekt! Also bis morgen früh, dann gibt es sicher mehr zu den Vons.“

Graffiti Katze
Graffiti gegenüber der Kirche Agios Nikolaos

Der Hotelgast ging am nächsten Tag die Wendeltreppe hinunter, gab den Schlüssel freundlich an der Rezeption ab und betrat das Café. Zu festlicher Musik hängten die Angestellten Weihnachtsschmuck und Lichterketten auf. Die erhoffte Ruhe würde es auch heute nicht geben. Und der junge Kellner, der an der Kreuzung der zwei von-Straßen wohnte, war nicht da. Der Gast erkundigte sich nach ihm und erhielt die Auskunft, dass er erst abends wieder Dienst hätte. Er habe seine Arbeitsstelle informiert, dass ein Rohr des Fernwärmesystems auf der Hauptstraße ΦΟΝ KOZANI geborsten sei und er zu Hause bleiben müsse, bis der Schaden dort behoben sei.

Der fotokunstbegeisterte Reisende verließ das Café für einen morgendlichen Spaziergang durch die Stadt. Seine untere Gesichtshälfte war von einem Schal verdeckt, der Rest dem kalten Wind ausgesetzt. Denn das Sonnenlicht war zwar intensiv, aber keineswegs warm. Der hochgeschlagene Kragen seines Mantels schützte seinen Nacken. Diesmal besuchte er Kozani in seiner Eigenschaft als Verleger im Auftrag eines Instituts, das die Musikgeschichte großer und kleiner Städte erforschte. Das Fotoprojekt, das derzeit im Gange war, könnte möglicherweise auf ein Filmprojekt hinauslaufen: Es ging um das Vorkommen des Namens von Karajan im griechisch- und im deutschsprachigen Raum. Auf Plätzen, in Straßen, an Statuen, Konservatorien und Festivals zu Ehren des großen Dirigenten. Für Städte könnten sich neue Aspekte ergeben und, warum nicht, auch eine europäische Kulturroute zu Ehren des großen Meisters.

Spontan fielen dem Verleger die Herbert-von-Karajan-Straße im Musikerviertel von Berlin ein, wo er Jahrzehnte die Berliner Philharmoniker leitete, der Herbert-von-Karajan-Platz in seiner Geburtsstadt Salzburg und die nach ihm benannte Straße in Anif, der grünen Ortschaft vor den Toren Salzburgs, wo sich seine Residenz und sein schlichtes Grabmal befinden, ein Wallfahrtsort für seiner Verehrer aus aller Welt. Eine Statue des Dirigenten steht im Garten seines Geburtshauses in Salzburg und am Herbert-von-Karajan-Platz, nur 200 Meter von Mozarts Geburtshaus entfernt, kann man dazu in Herbert’s Bar einen Drink genießen. In Limassol auf Zypern hat sich die Herbert-von-Karajan-Straße zu denen namhafter ausländischer Intellektueller und Künstler gesellt – von Louis Aragon, Henry Moore, Jean-Paul Sartre, Laurence Olivier bis zu Mstislaw Rostropowitsch und Pablo Casals. Seit den 1960er Jahren gibt es auch in der Stadt Kozani eine Straße, die seinen Namen trägt, genauer gesagt den der griechischen Familie, der er entstammt.

Der Spaziergang hatte als Ziel diese von-Karajan-Straße, als letzten Teil des geplanten fotografischen Puzzles. In der Zeitung hatte es geheißen: „Zu Ehren dieser Familie hat unsere Stadt vor Jahren eine Straße nach ihr benannt“. Er überquerte die Irini-Fußgängerzone mit den kahlen Kastanienbäumen in ihrer Mitte. In gleichen Moment ritzte weit oben lautlos ein Flugzeug eine weiße, wollfadenartige Furche in den blauen Himmel. Die Umrisse der Bäume wirken wie Einschnitte im grauen Pflaster. Er kam am Eleftherias- und am Tialiou-Platz vorbei und machte einen kurzen Halt vor dem Schaufenster des Cafés „Gallery“, um das Wandgemälde eines fliegenden Eisenbahnzuges zu bestaunen. Er ist vom örtlichen Lieblingsmaler Kostas Dios geschaffen worden, der die „Lok Nr. 721“ seines Lieblingsschriftstellers Dimitris Nollas künstlerisch umgesetzt hat. „Die Gäste des Cafés warten auf die Landung des Zuges, der sie abholen soll; genauso warteten vor zwei Jahrhunderten ihre Vorfahren auf die vorbeiziehenden Karawanen, die sie nach Wien und Bukarest brachten“, zu den großen Handelszentren, in denen sich die griechischen Kaufleute etabliert hatten. Er verließ den „Bahnhof“ des Cafés und ging auf die von-Kozani-Straße. Gleich am Anfang der Straße befand sich das Gebäude der Archäologischen Sammlung Kozani, die im stark umgebauten ehemaligen Herrenhaus Katsikas untergebracht war. Der Individualverkehr war eingestellt, um den Schaden am Fernwärmesystem zu beheben.

Straßenschilder
Die Straßenschilder VON KOZANI und VON.KARAGIANNI

Er stand an der Straßenecke, an der sich jetzt ein Blumenladen befindet. Die blauen Straßenschilder mit der weißen Großbuchstabenschrift sind an den Häuserwänden angebracht. Er suchte nach der Aufschrift VON KARAJAN, die als „φον Καραγιάν“ in der Zeitung stand. Schließlich fand er dort ΦΟΝ.ΚΑΡΑΓΙΑΝΝΗ (von.Karagianni) in griechischer Schrift und darunter gelb in lateinischen Lettern FON.KARAGHIANI – eine sehr fragwürdige Transkription. Er hatte das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt. Auf der gegenüberliegenden Seite stand auf dem Straßenschild in einem gewagten griechisch-lateinischen Schriftengemisch ΦΟΝ ΚΟΖΑΝΙ. Hatte das irgendeinen Bezug zur Familie von Karajan, oder ging es um etwas anderes? Wie schön wäre es, wenn unter dem Straßennamen einige Informationen stünden, z. B. zur Person, zu ihren Lebensdaten oder zum Ereignis, auf das sich der Name bezieht.

Statue mit Bäumen dahinter
Der Tialiou-Platz mit der Statue des Nikolaos Kasomoulis, Geschichtschreibers des Unabhängigkeitskrieges von 1821

Ohne die Fernwärmemonteure zu stören, überquerte ratlos die schmale, nur 200 Meter lange Straße. Nach den ersten 40 Metern, kurz vor der Kreuzung mit der Farmakis-Straße – Farmakis war ein westmakedonischer Anführer einer bewaffneten Schar und Mitglied des Geheimbundes Filiki Eteria, der ab 1814 die Befreiung der Griechen von den Osmanen anstrebte –, kam er ins Gespräch mit einer Bewohnerin des Mehrfamilienhauses Nummer 10, die gerade aus dem Gebäude getreten war. Der Verleger bezog sich auf den Zeitungsartikel und die dortige Schreibweise „φον Καραγιάν“ und fragte, ob die Straße jemals so geheißen habe. Sie sagte, sie lebe seit 1965 hier und meinte, die Straße habe immer schon ΦΟΝ ΚΑΡΑΓΙΑΝΝΗ (von Karagianni) geheißen. Er bedankte sich für diese Information und setzte seinen Weg fort. Er ging von der Farmakis- zur Papagiannis-Straße – Papagiannis war der Bürgermeister, der 1979 Herbert von Karajan eingeladen hatte, Kozani zu besuchen –, am Ende der Straße veränderte sich die Erscheinungsform des Straßenschildes, hier waren auch die Häuser älteren Datums. In diesem Teil der Straße war das blaue Schild im Laufe der Jahre verblasst, hier stand nur in griechischen Lettern ΦΟΝ ΚΑΡΑΓΙΑΝΝΗ (von Karagianni) in weißen, ebenfalls verblassten Kapitalbuchstaben.

Paste-up an Hauswand
Paste-up in der Farmaki-Straße

Der hartnäckige Verleger wollte trotzdem nicht aufgeben, sondern alle Möglichkeiten ausschöpfen und spielte gedanklich Szenarien durch, von denen er sich wünschte, sie wären wahr. Wurde die Straße zu Ehren der vier Generationen alten „von Karagianni“-Familie benannt oder nach einem bestimmten Mitglied? Wenn es sich um eine Hommage an die „Sippe“ handelte, hätte sie wahrscheinlich sprachlich präziser ausfallen müssen. Beispielsweise „Straße der von Karagianni“. Seine Gedanken kreisten um die Eventualität einer Straßenumbenennung. Die Straße war einst vielleicht zu Ehren des Dirigenten Herbert von Karajan so benannt worden, und wurde später – aus welchem Grund auch immer – in „von.Karagianni“ umbenannt.

Straßennamen sind Orte des kollektiven Gedächtnisses, sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene, und verwandeln das Wohnumfeld in einen fiktiven, oft auch politischen Rahmen, in dem sich Werte und mustergültiges Verhalten niederschlagen. Obwohl Straßennamen in der Regel unbeachtet bleiben, geben sie Spezialisten wie dem Verleger glücklicherweise auch weiterhin Rätsel auf. Im Übrigen ist der Name einer Straße, von symbolischer und historischer Bedeutung befreit, Werkzeug und Orientierungshilfe für Postboten und jede Art von Lieferanten. So dachte er sich: „Ich muss zum lokalen Postamt gehen.“

Etwas unentschlossen wechselte er von der von.Karagianni- in die Farmakis-Straße und dann in eine noch engere Straße, die eher an eine Gasse des historischen Kerns der Stadt erinnerte. Dann ging er rechts in die Tsodza-Straße, bog danach links ab und gelangte am Ende der Fußgängerzone in die Koventaron-Straße, benannt nach zwei Brüdern, Namensgebern auch der städtischen Bibliothek. Die Klänge der lokalen Musikkapelle Pandora begleiteten ihn, als er am imposanten Gebäude der Griechischen Nationalbank zu seiner Linken vorbeiging. Errichtet im byzantinischen Stil hat es einen eleganten, kobaltblauen Fries, während sein Dachgesims Kütahya-Fliesen zieren. Rechts gegenüber öffnet sich die neue und modern gehaltene zentrale Platia Nikis, der Siegesplatz, mit der alten Mamatsios-Uhr im Hintergrund.

Hausecke
Griechischen Nationalbank mit umlaufenden Kütahya-Fliesen

Jetzt bog er rechts in den Pavlou-Mela-Boulevard ein und dann links in die Ippokratous-Straße, wo sich der Taxistand befand. In der Nummer 9 war das Postamt. Er ging hinein, zog am Automaten ein Ticket und setzte sich in den Wartesaal. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die kleine elektronische Aufruftafel über den Schaltern. Als warte er auf die Ziehung der Lottozahlen, wünschte er sich innig, seine Nummer 038 würde ihm zu nützlichen Informationen für seine Nachforschungen verhelfen. Als es soweit war, ordnete der Postangestellte am Schalter noch einige Briefmarkenhefte. In den Sinn kam dem Verleger gleich die 5-Euro-Gedenkmünze, die Österreich zu Karajans 100. Geburtstag herausgegeben hatte. Er war der Meinung, dass Griechenland im Rahmen des Projekts, das er gerade in Angriff nahm, eine Gedenkbriefmarke herausgegeben könnte. Dieser Einfall und die Empfehlung des Angestellten, sein Anliegen bei der zentralen Postvertriebsstelle in der Konstantinoupoleos-Straße vorzubringen, ließ die Wartemarke mit der Nummer 038 wie ein Glückslos wirken.

Am Stand nahm er das erstbeste Taxi, stieg hinten ein, um mehr Platz zu haben, und bat den jungen Fahrer, ihn zur Postvertriebsstelle zu bringen. Es war fast Mittag, und er musste sich beeilen, um noch eingelassen zu werden. Der Taxifahrer wählte als schnellsten Weg die Stratilaton-Straße am Park gegenüber der Kirche des Agios Dimitrios. Der Verleger schien die Fahrt zu genießen. Sein aufwärts gerichteter Blick wanderte von rechts nach links und wieder zurück. Er suchte die tristen Wände der Mehrfamilienhäuser nach den unverwechselbaren blauen Straßenschildern ab. „Mikis-Theodorakis-Straße, Manos-Hadjidakis-Straße, alle Komponisten an einem Fleck“, sprach der Taxifahrer seine Gedanken laut aus, der die Regungen seines Gastes im Rückspiegel verfolgte. „Hier sind die Maria-Callas-, die Melina-Mercouri- und die Katina-Paxinou-Straße – und schon sind wir in der Konstantinoupoleos-Straße.“

Die Kirche des Agios Dimitrios
Die Kirche des Agios Dimitrios

Der Verleger bat den Taxifahrer zu warten. Er war sich mittlerweile sicher, dass diese Suche nichts Aufregendes mehr ans Licht bringen würde, also könnte sein Besuch nur kurz sein. Die eigentlich gläserne Eingangstür war mit Eisenplatten verkleidet und erinnerte eher an ein Gefängnistor. Ein Zusteller räumte gerade Exemplare einer christlichen Zeitschrift ein. Er versicherte dem Verleger, dass die fragliche Straße seit 35 Jahren, in denen er im Postdienst stehe, nicht anders geheißen habe. Der Verleger insistierte nicht, sondern bedankte sich und war, etwas enttäuscht, im Begriff wieder zu gehen. Da sprach ihn ein anderer Bediensteter an, der die Konversation mitbekommen hatte. Gelegentlich würde Post für den Empfänger „Herbert von Karajan, griechisch-deutscher Freundschaftsverein Kozani“ ankommen.

Dieser Verein sei besonders aktiv in der Karnevalszeit und speziell am Aschermittwoch. Dann würden deutsche und österreichische in Kozani ansässige Frauen und Mitglieder des Vereins in Trachten ihrer Herkunftsländer und mit musikalischer Begleitung den Brauch des Schlipsabschneidens praktizieren. Mit Scheren ausgestattet würden sie sich dann in das Büro des Stadtbürgermeisters drängen und ihm die Krawatte abschneiden. Von dieser unverhofften, aber wichtigen Information sehr angetan, bedankte sich der Besucher herzlich und kehrte gut gelaunt zum Taxi zurück. Der Taxifahrer bot ihm an, sich auf den Beifahrersitz zu setzen. Diesmal ging es zurück ins Hotel, in die Altstadt.

Der Fahrer spürte die Unruhe seines Gastes und berichtete, um ihn aufzulockern, dass es in den Straßen der beiden „Vons“ in der Nähe des Stadtzentrums eine Entwicklungsgesellschaft gebe. Der Verleger ließ ihn reden, unterbrach ihn nicht. Der Fahrer erzählte, er habe vor einiger Zeit zwei Gäste vom nahegelegenen Flughafen „Philippos“ nach Kozani befördert, zwei Ingenieure, die zu dieser Firma wollten. Während fast der ganzen Fahrt hätten sie sich intensiv über Straßennamen unterhalten und die Kriterien, nach denen und von wem diese vergeben werden. Dabei hätten sie natürlich auch über die von.Karagianni-Straße gesprochen, in der das Unternehmen angesiedelt ist. Dieser Punkt nach dem „von“ sei irritierend, könnte auch als Abkürzung eines Wortes durchgehen, das mit „von“ anfängt und durch den Punkt abgekürzt wird. „von Karagianni“ sagte ihnen nichts, dazu fiele ihnen nur der Maestro ein. Ein weiterer Musiker für Sie also, meinte der Taxifahrer zum Verleger. Der Verleger revanchierte sich für diese kleine Geschichte und erzählte dem Fahrer über seine Recherchen. Die Straßen waren zur Mittagszeit verstopft, es ging nur im Schneckentempo voran. Die beiden hatten also Zeit. So erzählte der Verleger dem Taxifahrer ein paar Dinge über Herbert von Karajan.

Graffiti Herz
Graffiti an der Kunsthalle Kozani im Park des Agios Dimitrios

Die besagte Straße war offenbar nach der Familie Karagianni benannt und Herbert von Karajan ein Sprössling der vierten Generation. Aber auch die drei vorangegangenen Generationen hatten bemerkenswerte Wissenschaftler und Künstler hervorgebracht. Der Germanist und Historiker Theodor von Karajan tauchte als Schützling des österreichischen Nationaldichters Franz Grillparzer in die Welt der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters ein und wurde 1866 Präsident der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften Wien. Sein ältester Sohn Max Theodor tat sich als klassischer Philologe und Hochschullehrer an der Universität Graz hervor. Dessen zwei Jahre jüngerer Bruder Ludwig Anton, Herberts Großvater, studierte Medizin und legte als Sanitätsrat der niederösterreichischen Landesregierung die Grundlagen für die gesundheitliche Reorganisation ganz Österreichs. Ludwig Antons Sohn Ernst, Herberts Vater, zeichnete sich als Chirurg aus. In seiner Jugend war er jedoch Klarinettist im Orchester des Salzburger Mozarteums und gab seinem Sohn Herbert die ersten musikalischen Impulse.

Der weltberühmte Dirigent bestand auf den Erbtitel „von“. Der sächsische Kurfürst Friedrich August III. hatte 1792 die Brüder Theodoros und Ioannis Karagianni aus Kozani für ihren Beitrag zur Entwicklung von lokalem Handel und Industrie in den erblichen Reichsadelsstand erhoben. Von der Aufhebung des Adels im Jahr 1919 war auch die (österreichische) Familie von Karajan betroffen, deren Familienname zu einem simplen „Karajan“ ohne vorangestelltes „von“ wurde. Herbert von Karajan wurde aber der Adelstitel als Künstlername zugestanden.

Der Verleger ging jetzt die Xenophon-Triantafyllidis-Straße entlang, benannt nach dem Professor für Neogräzistik an der K.k. Akademie für Orientalische Sprachen Wien (1854). In der Kirche des Agios Nikolaos zündete er eine Kerze an und bewunderte die beiden bronzenen Kerzenständer, die Mitte des 18. Jahrhunderts in Nürnberg bestellt worden waren. Danach ging er zurück zu seinem Hotel. An der Rezeption wurde ihm eine Nachricht des jungen Kellners übermittelt, den er am Vortag kennengelernt hatte. Er sollte ihn bitte in der Hotelbar aufsuchen. Dort fragte ihn der wissensdurstige junge Mann nach dem Stand der Nachforschungen zu den „von Karagianni“. Woher wusste der junge Mann über seine Bemühungen Bescheid? Es war so verblüffend wie einfach: Die Frau, mit der sich der Verleger an der Nr. 10 der von.Karagianni-Straße unterhalten hatte, war die Hauswirtin des Hotelangestellten. „Sie weiß“, fuhr er fort, „dass ich Geschichte studiert habe, und fragte mich, ob ich etwas über die Straße wüsste, in der wir wohnen.“

Blick in Strasse
Die von.Karagianni-Straßein mit Blick auf die Archäologische Sammlung

Der Verleger freute sich, das Interesse der Anwohner der Straße geweckt zu haben. Deshalb schlug er dem jungen Historiker vor, beim laufenden Fotoprojekt mitzumachen. Der Verlag, bei dem das Projekt lief, baute ein Netz von Mitarbeitern in Städten mit Bezug zu Herbert von Karajan auf. Berlin, Salzburg, Limassol – und eben Kozani. Der Kellner war natürlich begeistert und nahm das Angebot dankend an, denn er wollte gern sein Studium beruflich umsetzen und konnte es jetzt sogar mit seinem Hobby, der Fotografie, verbinden. Der junge Mann bat den Barkeeper, ihnen den guten Liastos-Wein aus Siatista zu servieren – „das Ambrosia, die flüssige Sonne“, wie Zoe Reininghaus, die Tochter von Max Theodor Karajan, diesen Wein bei ihrem Besuch von Kozani 1925 bezeichnet hatte. Der Verleger toastete „Auf die Gesundheit“, offensichtlich zufrieden mit der Wahl seines Mitarbeiters, der mit den Recherchen bereits begonnen hatte.

Text und Fotos: Paschalis Tounas. Übersetzung: A. Tsingas.

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