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Die Böotier sind keine Touristenströme gewohnt und sogar in Städten wie Thiva mit 25.000 Einwohnern den Besuchern gegenüber aufgeschlossen und zuvorkommend. Das gilt für die Bäckerei und das Restaurant bis hin zur Autowerkstatt (völlig unerwartet und klischeewidrig: extrem sauber und aufgeräumt) und ist ein weiteres Argument, um diesen touristisch weißen Fleck – keine 100 Autokilometer vom Moloch Athen entfernt – zu erkunden.

1_Das Tal der Musen
Mit den Musen fing es gleich am ersten Tag an. Unsere Gastgeberin aus dem Küstenort Alykí auf der nördlichen Seite des Golfs von Korinth nahm uns ins Landesinnere zu einer Weinverkostung im Weingut „Muses Estate“ mit. (1) Das Unternehmen der Familie Zacharias in Askra, dem Geburtsort des antiken Dichters Hesiod (2), befindet sich am Eingang des „Tals der Musen“ (3) und wurde 1946 gegründet. Die Veranstaltung begann auf den hauseigenen Weinbergen im Musental (4), das vom Gebirge Helikon (höchste Erhebung: 1748 m) flankiert wird. In der Antike galt es als Sitz der neun Musen – bis Apollon sie nach Delphi lotste. Am Helikon stauen sich die Wolken, die nach Süden zur Küste ziehen, und geben ihre Feuchtigkeit den Rebstöcken ab. Dieses Mikroklima ist ideal für das Wachstum der Weintrauben. Eine Errungenschaft der Familie Zacharias ist, die lokale und antike Rebsorte „Mouhtaro“ wieder zum Leben erweckt und diesen sortenreinen Rotwein in Griechenland wieder populär gemacht zu haben.
Die Verkostung (an die 20 Weine, an die 10 Destillate!) führten mit viel Esprit die drei lebhaften Zacharias-Brüder durch und wir Teilnehmer waren sehr angetan von all dem, was wir auch über die Gegend und ihre Besonderheiten erfuhren. In der Besuchergruppe waren auch sieben Personen aus dem Nachbardorf Thespies, dem antiken Thespiai. Was sagt uns dieser Name? Richtig: In der Schlacht bei den Thermopylen 480 v. Chr. kämpften neben den dreihundert Spartanern unter Leonidas auch siebenhundert Thespier unter Dimophilos (Demophilus). Die Geschichte hat sie mehr oder weniger unterschlagen, um das Opfer der Spartaner umso leuchtender erscheinen zu lassen. Obwohl es den Thespiern freigestellt war abzuziehen, beschlossen sie, die Spartaner nicht ihrem Schicksal zu überlassen. Sie hätten sich in ihre Stadt zurückziehen können, die im Fall einer Niederlage den Persern ausgeliefert wäre. So kam es auch: Der Perserkönig Xerxes ließ Thespiai auf seinem Weg durch Böotien niederbrennen.

Thespiai und Plataiai waren die zwei böotischen Stadtstaaten, die sich ihm nicht unterwarfen. Plataiai wurde deswegen zur „heiligen Stadt“ erklärt (warum Thespiai nicht, konnte ich nicht herausfinden), war somit unantastbar und durfte von keinem griechischen Stadtstaat angegriffen werden.
Der sehr agile Heimatverein der heutigen Thespier trägt den Namen des berühmten antiken Anführers Dimophilos und organisiert u.a. Wanderungen durch das Musental für Behinderte (5). Es war eine überaus angenehme Erfahrung, sich mit diesen Leuten auszutauschen.
(1) Muses Estate hier (2) Hesiod hier Seine Werke sind, neben der Ilias und Odyssee von Homer, die Hauptquellen für unser heutiges Wissen über die griechische Mythologie und Mythographie sowie das Alltagsleben seiner Zeit. Er gilt als Begründer des didaktischen Epos, des Lehrgedichts, das nach seiner Heimat Askra später von den Römern, besonders von Vergil, als Ascraeum carmen bezeichnet wurde. (3) Video zum Musental hier (2001, 2:25) Im Tal der Musen wurden bedeutende Denkmäler entdeckt, darunter ein Theater aus dem 3. vorchristlichen Jahrhundert, eine 96 m lange ionische Stoa, ein den Musen geweihter Tempel und Statuensockel. Zu Ehren der Musen wurden die „Mouseia“, also Musenfeste, abgehalten. (4) Siebenminütiger wissenschaftlicher Vortrag hier (2015, auf EL) mit Abbildungen zu Heiligtum und Theater im Musental. Die Abbildungen kann man auch unabhängig vom Vortrag durchklicken. (5) fb-Präsentation und Programm des Vereins (auf EL) hier |
2_ Kopais, der verschwundene See
Wenige Tage später machten wir uns auf dem Weg zu den Wasserfällen von Petra. In der Nähe dieser Ortschaft fand am 12. September 1829 die letzte Schlacht des griechischen Unabhängigkeitskampfes gegen die Osmanen statt. (1) Damals war es eine Engstelle zwischen dem Gebirge und dem Kopais-See, der später ausgetrocknet wurde. (2)
Heute schweift der Blick ungehindert über eine fruchtbare Ebene und viele der alten Schilderungen des Malaria-Sumpfgebiets als Verursacher von Krankheit, Armut und Elend erscheinen surreal und sehr weit weg.

Auf der letzten Etappe zu den Wasserfällen sahen wir mitten auf der Schotterstraße zwei junge Blindschleichen (Anguis fragilis), die weltvergessen und übermütig miteinander rauften. Es dauerte erstaunlich lang, bis sie Notiz von uns genommen hatten und recht gemächlich den Weg räumten.

Das Ende der Schlucht ist nur zu Fuß über einen Pfad zu erreichen. Das Laufen im Schatten der Felswände und der Laubbäume hatte etwas Entrücktes, das Licht brach sich in der Gischt der dünnen Wasserstrahlen. Die vielen Rastbänke und auch Mülltonnen sprachen aber davon, dass im Sommer viele Hitzegeplagte diesen Ort aufsuchen.
Auf dem Rückweg kamen wir unterhalb des Ortes Petra an der Destillerie der Familie Zacharias vorbei, die den Namen „Lost Lake Destillery“ trägt, weil sie am ehemaligen Ufer des Kopais-Sees liegt. Eins der Destillate heißt „The Last Battle“ zu Ehren des Standorts. Mich sprechen solche Reminiszenzen an. (3)
Unweigerlich kommt man an der Stadt Aliartos vorbei. Sie war Sitz der englischen Gesellschaft „Lake Copais Ltd.“, die im 19. Jahrhundert nach vielen gescheiterten Versuchen seit der Antike den Malaria-Sumpf endlich trockenlegte. (4) Im sogenannten Green Park wurden im großen Stil Wohnungen für Personal und Direktor gebaut (aber auch Speicher und landwirtschaftliche Nutzgebäude). Heute würden wir sagen: Es war eine Gated Community, eine abgeschirmte Wohnanlage. Sie existiert noch, wenn auch heruntergekommen, und macht die grüne Lunge der Stadt aus, hier finden im Sommer die Freiluftveranstaltungen statt.
(1) Die Schlacht von Petra hier (2) Die Faszination des Sees ist bis heute ungebrochen. So fand er als Austragungsort Eingang ins Videospiel „Assassin’s Creed Odyssey“; hier (3) Weine und Destillate der Familie Zacharias/Muses Estate bekommt man in Berlin-Schöneberg bei „Ariston, griechische Produkte u.G.“ hier (4) Zur wechselhaften Geschichte des Kopais-Sees hier |
3_Thiva
Das „siebentorige Theben“, so der antike Name der Stadt, ist Schauplatz gleich vier der erhaltenen antiken Tragödien: König Ödipus und Antigone von Sophokles, Sieben gegen Theben von Aischylos und Die Phönizierinnen von Euripides. Theben war in der Antike auch der Name des heutigen Karnak in Ägypten, er soll eine Abwandlung des ägyptischen Wortes für „Stadt“ sein.
Die spannende Geschichte von Thiva führt man sich am besten im wirklich vorbildlichen Archäologischen Museum der Stadt vor Augen. Nach Überarbeitung der Exponate 2015 beherbergt es eine der bedeutendsten Sammlungen Griechenlands.
Zum Museum hier (auf Englisch) und zum Museumsgebäude hier
Was sieht man außerhalb des Museums von der Stadtgeschichte? Eher wenig und dieses Wenige, das meist bei Fundamentarbeiten für neue Gebäude zum Vorschein kommt, ist vernachlässigt. Dazu empfehle ich die Internetseite https://homersheimat.de/index.php, die von Michael Siebert, dem ehemaligen Darmstädter Bürgermeister betrieben wird. Bessere und konzentriertere Informationen zur Stadt konnte ich nirgends finden, hier die Einführung und hier der Stadtrundgang.
Abgekämpft kamen wir gegen 15 Uhr auf dem Gipfel des Kadmos-Hügels an. Hier oben befindet sich das Gartenlokal „Pouros“, eine grüne Oase mit Spielplatz für die Kleinen und Blick auf die Ebene um Thiva. Das Betreiberpaar wollte gerade in die Mittagspause gehen, aber offensichtlich wirkten wir so erhitzt, durstig und hungrig, dass die beiden blieben, um uns zu bewirten. Welch eine Wohltat! Auch Musik wurde eingeschaltet, was in Lokalen oft einer akustischen Folter gleich kommen kann. Aber zu hören war „gemäßigter“ Jazz und der tat uns gut. Wir fühlten uns noch besser, als dann bald darauf weitere Gäste kamen. So hatte sich das Bleiben unserer Wirtsleute doch etwas gelohnt.
Zum Lokal Poros hier und hier
Natürlich kamen wir gleich auf zwei überlebensgroße weibliche Statuen zu sprechen, die am Eingang des eingefassten Bereichs thronen und ihn als gute Geister bewachen.
Ihre Geschichte ist verblüffend:
Im Juni 1930 wurde die U-Bahn-Station am Omonia-Platz einweiht. Die Belüftung der unterirdischen Station erfolgte über acht Schächte. Sie wurden als Säulen gestaltet und auf deren Sockel Skulpturen platziert: die neun Musen als sitzende Figuren, gegossen in Feinbeton. Das geschah 1934, in der Amtszeit des Athener Bürgermeistes Spyros Mercouris, dem Großvater der Sängerin und Schauspielerin Melina Mercouri, die später griechische Kulturministerin wurde.
Es gab nur acht Lüftungsschachte, aber neun Musen. Die neunte, Kalliope (Muse der epischen Poesie), kam in den Untergrund vor den öffentlichen Pissoirs/Toiletten. Wenn jemand nach den Toiletten fragte, wurde er an die Kalliope verwiesen. „Wo ist die Kalliopi?“ war noch in den 1970er Jahren in Athen die allgemein verständliche Frage nach dem „Örtchen“.

Athen: Omonia-Platz, Mitte der 1930er Jahre; die 8. Säule befindet sich rechts außerhalb des Bildrandes
Die Ästhetik der Beton-Musen war immer schon umstritten. Als im August 1936 bei einer Demonstration eine von ihnen auseinanderfiel und Passanten verletzte, ließ die Stadt im Dezember 1937 die Skulpturen entfernen. Die neun Musen kamen in ein Lager der Athener Stadtverwaltung. Dort standen, hergestellt zur gleichen Zeit und im selben Stil, auch die Skulpturen von drei Grazien sowie Hestia und Demeter. Von diesen 14 Skulpturen wurden in den 1950er und 1960er Jahren Hestia und Demeter nach Karyes in Lakonien geschickt, vier nach Karditsa, eine nach Katapola auf Amorgos – und zwei nach Theben, wo sie seitdem auf dem Kadmos-Hügel stehen. Da auf ihrem Sockel kein Name steht, wird heute noch über ihre Identität gestritten. Nahaufnahmen der Skulpturen sind nicht von allen erhalten. Eine weitere Figur befindet sich im Athener Bezirk Nea Smyrni. Das Schicksal der übrigen vier Figuren ist unbekannt, auch der Verbleib der neunten Muse, Kalliope.
Ist diese Geschichte ein urbaner Mythos? Ich bin der Sache nachgegangen und habe viele griechische Artikel dazu gefunden: In groben Zügen stimmt diese Kurzfassung.
Artikel hier und hier (auf EL mit Abbildungen)
4_Alykí, die Gartenlaubenkolonie am Korinthischen Golf
Tipha oder Siphae war einer der Häfen der antiken Stadt Thespiai. (1) Sie erhielt ihren Namen der Legende nach vom Kapitän der Argo, des Schiffs der Argonauten, der von hier stammte. Teile des soliden Mauerrings aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert mit sechs Türmen und drei Toren befinden sich noch heute in gutem Zustand. (2)
(1) Zu Tipha oder Siphae hier (auf EN) (2) Drohnenflug über die antike Stadt hier |
Das heutige Alykí gleicht einer riesigen Ansammlung von Lauben, die Häuschen sind mit den abenteuerlichsten Materialien errichtet – und, speziell in Bereich der antiken Unterstadt, sicher nicht alle legal. Erst staunt man über den Erfindungsgeist der Erbauer, aber auf Dauer wirken die Sommerbehausungen billig. Entschädigt wird der Besucher durch die antike Befestigung, die am Ende der Siedlung über den Bergrücken buchstäblich bis zum Wasser reicht:
Im Januar 2021 haben sich auf der Nordseite Steinbrocken gigantischen Ausmaßes vom Akropolisfelsen gelöst und ein Sommerhäuschen zerdrückt. Menschliche Opfer gab es zum Glück keine. Das Gestein hat allerdings den Pfad, der zur Stadtnmauer hochführte, unter sich begraben. Seitdem ist der ganze archäologische Bereich umzäunt. Wenn man Klettererfahrung mitbringt, kann man aber auf der steilen Südseite der Oberstadt den Aufstieg wagen. Die Aussicht von oben ist spektakulär.
Das Haus, in dem wir in Alykí untergekommen waren, lag in beeindruckender Höhe am Hang und besaß einen Pool. Ständige Bewohner darin waren zwei männliche Hausunken (Bufotes viridis) in der Paarungszeit. Sie quaken nicht wie Frösche, sondern geben ein nicht sehr weit tragendes Trillern von sich. Es wird mit einer Kehl-Schallblase erzeugt, ist anhaltend und wird allmählich lauter und höher. Dieses Trillern erschallt in der Hauptlaichzeit (Mai und Juni) auch tagsüber. Irgendwie scheinen sie mit ihrem Werben Erfolg gehabt zu haben, denn eines Morgens lagen Laichschnüre im Wasser, die wir anfangs für Textilfasern hielten.
Meeresleben
Überraschend in Griechenland ist immer wieder die Biodiversität. An der Felsküste am Fuß der antiken Stadt konnten wir in einem sehr kleinen Radius fast 60 Arten von Meerespflanzen und -bewohnern dokumentieren und bestimmen.
Hier eine kleine Auswahl:
Das Land
Das südliche Böotien, das wir bereist haben, ist landschaftlich ausgesprochen schön. Im Landesinnern sind die sanften Hügel lieblich, die Kombination von Ackerland und Baumgruppen erinnert oft an die Toskana.
Die weiten Ebenen wechseln sich mit bewaldeten Bergen ab. (*)
(*) Der beliebte Ausflugsort Arvanitsa (rechts) ähnelt mit seinen riesigen Bäumen und den weidenden, gut genährten Kuhherden einer alpinen Kulisse. Hier gibt es auch eine Art Almhütte, wo, sogar mit Wild, auch fürs leibliche Wohl gut gesorgt ist. Besonders köstlich und ausschließlich lokal hergestellte Spezialitäten haben wir, von unserem Standort aus ganz westlich, in Alt-Thisbe auf dem kleinen Dorfplatz bekommen. |
Die Küste ist abwechslungsreich und wochentags menschenleer. Und historisch ist Böotien unschlagbar, alle paar Kilometer stößt man auf einen Ortsnamen oder eine Stätte, die das Herz des historisch Interessierten höher schlagen lässt. Die Überreste antiker Städte und Monumente sind bewegend, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sie Zeugen einer Kulturlandschaft sind, die ihre erste Blüte vor zweieinhalb Jahrtausenden erlebte und durch die Jahrhunderte bewohnt war. (*)
(*) Nur wenige hundert Meter voneinander entfernt: Ein ausgemusterter Starfighter als Denkmal für die böotischen Kampfpiloten und das sogenannte Tropaion von Leuktra, wo die Thebaner im August 371 die als unbesiegbar geltenden Spartaner zum ersten Mal militärisch schlugen. Mehr zu Leuktra hier |
Man sollte hier – mit Ausnahmen – wenig Spektakuläres erwarten. Aber die Einzelteile ergeben ein beindruckendes Gesamtbild und hinterlassen angenehme Erinnerungen. Nicht umsonst war Böotien Musenland.
Text und Zeichnungen: A. Tsingas. Haus-Unke: Alexandra Tsingas. Fotos: je einmal Muses Estate und Exploringgreece.tv; Biodiversität: Alexandra Tsingas; alle anderen: B. & A. Tsingas.
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Meinen Glückwunsch und herzlichen Dank für diesen ausführlichen, lebendigen und gut recherchierten Artikel! Ich lebe seit fast 50 Jahren in Athen und habe viel Neues erfahren – man lernt eben nie aus …
Haben Sie vielen Dank, Frau Willer, Ihr Kommentar hat mich sehr gefreut!
Das ist ein Katzensprung von “uns Evianern” aus Euböa entfernt, wir werden Böotien erkunden, da gibts viel zu sehen – vielen Dank!