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Maria Topali beschreibt die Rolle der Poesie im Athen der Krise. Erstaunlicherweise ist das Engagement und die Publikationstätigkeit von Dichtern und Verlagen in den letzten Jahren angewachsen, statt – wie erwartbar – zu schrumpfen. Obwohl die Verlagswelt schwere Einbußen hinnehmen muss, kommt es zu einem Revival der Lyrik, zu lebhaften Zusammenkünften und kreativen Initiativen.

Gegen Ende der 1990er-Jahre war die Lyrik in Griechenland aus der Mode gekommen. Wer bereits einen gewissen Namen hatte, veröffentlichte zwar hin und wieder einen neuen Band, die jüngeren Autoren wandten sich jedoch vorwiegend der Prosa zu.
Die Szene schwankte zwischen zwei Extremen: dem drückenden – und „ehrwürdig-hellenischen“ – Schatten der 1930er-Generation und des Gespanns Seferis-Elytis einerseits und der eher marginalisierten zeitgenössischen Lyrikproduktion andererseits. Die Notwendigkeit, sich von diesem Schatten der „Dreißiger“ zu befreien, lastete auf den – für ein so bedeutendes Unterfangen schwachen – Schultern von Miltos Sachtouris, der 1970er-Generation und Kiki Dimoula.
Den übrigen Fachzeitschriften an Umfang und inhaltlicher Qualität weit überlegen, zeichnete sie sich durch regelmäßiges, verlässliches Erscheinen aus. Vor allem aber öffnete sie systematisch Fenster und Türen zur Außenwelt, indem sie neben der Pflege und der Veröffentlichung von griechischsprachigen Werken eine Fülle von Übersetzungen, Essays, theoretischen Abhandlungen und anderen Arbeiten aufnahm und dadurch die griechische Sprache mit der internationalen Dichtung und Theorie vertraut machte.
In der Zeitschrift „Poiisi“ fanden nicht nur junge Dichter, Übersetzer und Wissenschaftler in schwierigen Zeiten einen Platz. Sie öffnete auch mit sichtlich positiven Ergebnissen einen extrem introvertierten und selbstbezogenen Kreis zur Außenwelt hin, was Vertretern „hellenozentrischer“ Ansichten Anlass zu Angriffen gab. „Poiisi“ blieb allerdings weiterhin eine Zeitschrift mit kleiner Auflage. Auch die öffentlichen Veranstaltungen unter ihrer Schirmherrschaft bestätigten nur die allgemein gültige Regel jener Zeit: Sie fanden selten statt und gewöhnlich vor kleinem Publikum.
Tatsache ist, dass die Lage auch in anderen Ländern wie England und Deutschland zum Beispiel nicht viel anders aussah. Im heutigen Griechenland jedoch, dem „Griechenland der Krise“, wie wir es seit fünf, sechs Jahren zu nennen gewohnt sind, hat es beeindruckende Veränderungen gegeben. Die Edition von Lyrikbänden bei etablierten und „alternativen“ Verlagen ist regelrecht explodiert. Eine Vielzahl von jüngeren und ganz jungen Dichtern und Dichterinnen befasst sich mit Lyrik, wobei sie sowohl traditionelle als auch innovative Formen kultivieren, häufig mit eindrucksvollen Ergebnissen.

Vermehrt wird fremdsprachige Lyrik ins Griechische übersetzt und publiziert. Neue Zeitschriften zum Thema Dichtung erscheinen neben „Poiitiki“, die weiterhin eindeutig die Führung innehat. Darunter hebt sich „Farmako“ [frmk.gr] ab, das sich den modernen, innovativen Formen poetischer Produktion widmet, aber auch der Theorie sowie dem konstanten Austausch zwischen Lyrik und bildender Kunst. Außerdem gibt es eine Fülle von anderen, sehr lebendigen Heften, nicht nur in Athen, wie zum Beispiel „Thraka“ in Larissa, das sich auf die Präsentation ganz junger Künstler konzentriert.
Diese ganze „Explosion” hat jedoch auch noch eine weitere wichtige “Nebenwirkung”: Ich meine die Rezitationen von Gedichten in öffentlichen Räumen, die inzwischen besonders in Athen zur festen Einrichtung geworden sind. Sie werden von Gruppen und Initiativen organisiert, die sich speziell diesem Zweck verschrieben haben, wobei Dichtung und Musik, Malerei, Theater, Tanz und Videokunst miteinander verflochten werden und, nicht zuletzt, ein zunehmend größeres Publikum gewinnen.

Denken wir zurück an die Lyrik-Abende in den 1990er- oder Mitte der 2000er-Jahre – wie zum Beispiel jene im Obergeschoss der Bar mit dem deutschen Namen „Dasein“ im Athener Viertel Exarchia (eine Initiative des damals sehr jungen Dichters Giorgos Chantzis, bei dem auch noch unausgereifte kreative Ansätze und innovative Wege Gehör fanden). Sie lockten damals 25-30 Besucher an. Rund zehn Jahre später kann die Veranstaltung „Me ta logia ginetai“ (Mit Worten wird es möglich) des Lyrikers Panagiotis Ioannidis bereits auf ihr fünfjähriges Bestehen zurückblicken und manchmal eine Zuhörerschaft von 200 oder sogar mehr erreichen.
Bei dieser regelmäßigen Einrichtung wird eine Vielfalt an Textformen vorgetragen, die jedoch stets einer spezifischen Konzeption und konkreten Vorgaben unterliegen. Es ist bezeichnend, dass der Start von „Me ta logia ginetai“ unmittelbar mit der Krise zusammenhängt, denn Panagiotis Ioannidis lud uns Dichter und Dichterinnen im Dezember 2011 ein, bei der Eröffnungsveranstaltung ein Gedicht vorzustellen, das unserer Meinung nach eine Stütze in schwierigen Zeiten darstellen könnte. Die Veranstaltungsreihe „Me ta logia ginetai“ findet inzwischen in der Hellenic-American Union [hau.gr] statt und erreicht, wie bereits erwähnt, hohe Besucherzahlen. Ähnliche Erfolge verzeichnen auch Lesungen an anderen Orten wie Bars, Theater, Fremdspracheninstitute und Buchhandlungen im Athener Zentrum.

Die Veranstaltungen werden stets ehrenamtlich organisiert, und die Teilnahme an ihnen ist kostenlos, wie es mehr oder weniger auf jedes Engagement im Bereich der Dichtung in Griechenland zutrifft. Eine große Rolle bei der Bekanntmachung der entsprechenden Initiativen, aber auch bei der Veröffentlichung von Lyrik, der Diskussion darüber und sogar ihrer Übersetzung spielen das Internet und die sozialen Netzwerke. Viele Vortragsveranstaltungen basieren auf einfachen oder auch anspruchsvolleren Konzepten: Es gibt inzwischen Dichterinnen und Dichter, wie vor allem Vasilis Amanatidis und Phoebe Giannisi, die immer wieder mit originellen Formen anschaulicher Darstellung ihrer Gedichte experimentieren.
Wir haben also auf der einen Seite eine gemäßigte, aber deutliche „Rückkehr“ zur Lyrik, sowohl bei den Verfassern als auch beim Publikum, eine positive Aufnahme von „Live“-Auftritten und ein merkliches Anwachsen ihrer Zuhörerschaft, und wir erleben die “Belohnung” kollektiver und individueller Aktionen, die jahrzehntelang beständig im Schatten stattfanden, kleiner Schritte, ohne den Prunk von Großereignissen und ohne Vergünstigung durch staatliche Zuschüsse.
Auf der anderen Seite haben wir eine dynamische Verknüpfung all dessen mit dem Internet und den sozialen Netzwerken. Wenn man davon ausgeht, dass die Krise in gewissem Grad Werte und Praktiken im heutigen Griechenland erschüttert hat, kann die Wiederbelebung des Phänomens Dichtung und seiner integrierten Begegnungen mit der Öffentlichkeit als ein Zeichen der Zeit angenommen werden, besonders in der geplagten Stadt Athen.
Text: Maria Topali. Übersetzung: Sigrid Willer. Fotos: Th. Zafeiropoulos, Sophia Camplioni, P. Ioannidis.
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