Die Zukunft des Landes

Artikel von Amanda Michalopoulou

Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: Ελληνικά (Griechisch)

Wie wird es mit Griechenland weitergehen? Und welche Perspektiven können Kulturschaffende und Intellektuelle am Horizont erkennen? Amanda Michalopoulou hat in den letzten Wochen eine Reihe von Texten für die Berliner Tageszeitung “Tagesspiegel” geschrieben. diablog.eu bringt die letzten beiden Texte “Zyklus der Idiotie” und “Die Zukunft des Landes” in beiden Sprachen. “Die Zukunft des Landes” beschäftigt sich mit dem zweiten Dauerthema der letzten Wochen, den griechischen Neuwahlen am 20. September. Auf Deutsch finden Sie sämtliche Artikel unter www.tagesspiegel.de, wenn Sie in der Suchfunktion den Namen der Autorin eingeben.

Im Augenblick lese ich Virginia Woolfs Essay „Über das Kranksein“. Die Schriftstellerin beschreibt darin mit satanischem Humor, wie außerirdisch Kranken das wirkliche Leben erscheint. Woolfs Bemerkungen über die Verfassung des Bettlägerigen, der sich von Unbedachtheit, Imponiergehabe und Leichtsinn in den Bann ziehen lässt, passen nicht nur auf einsame Kranke, sondern auch auf Gesellschaften, die an tückischen Krankheiten leiden.

Zum Beispiel passt das Portrait des Kranken wie angegossen auf die griechische Gesellschaft, der aus heiterem Himmel und unerklärlicherweise schon wieder Wahlen bevorstehen: „Es gibt in der Krankheit … einen kindischen Freimut. Dinge werden gesagt, Wahrheiten sprudeln heraus, die die vorsichtige Respektabilität der Gesundheit verbirgt.“

Buchcover: Virginia Woolf, On Being Ill

Freimut oder Dreistigkeit? Der Verlust der politischen Respektabilität ist einer der Hauptgründe, weshalb Griechenland systematisch rückfällig wird. Und obwohl dem Land von Außen und Innen ständig neue fiebersenkende Therapien zugesagt werden (von Krediten bis zu Wahlen), macht der Kranke nicht die geringsten Anstalten, sich aus dem Bett zu erheben.

Woolfs Essay kam 1930, unmittelbar nach der Weltwirtschaftskrise, heraus, und er trägt die Spuren der zermürbten Gesellschaften jener Zeit. Woolf spricht voller Sehnsucht von der Literatur, die das Leben von Familien, von Gruppen nachzeichnet: „Es war ein Gespinst, ein Netz“, sagt sie. Auch wir imaginieren uns nach dem Vorbild der Literatur Gesellschaften, die wie Sicherheitsnetze funktionieren könnten und nicht wie die Träger vieler anmaßender Egos.

Alter Buchumschlag: Virginia Woolf, On being Ill

In Athen kann am Ende dieses ereignisreichen Sommers niemand mehr von gesellschaftlichem Zusammenhalt sprechen. Wieder alles zerstreut, gespalten, verworren. Nach der Volksbefragung im Juli macht es uns nun zum zweiten Mal Probleme, den Rückgriff auf die Wahlurnen zur innerparteilichen Bereinigung von Rechnungen zu begreifen. „Unverständlichkeit hat während der Krankheit eine gewaltige Macht über uns“, argumentiert Virginia Woolf.

Wie die Schriftstellerin in diesem herausragenden Essay sucht auch die griechische Gesellschaft einen Halt in Humor und Sarkasmus. Der griechische Comicautor Arkas (ein geistreicher Intellektueller, der unter Pseudonym arbeitet) lässt Männer mit Krawatte sagen: „Ich habe Vertrauen in die Regierung. Es sind Menschen, die mit beiden Beinen fest in der Luft stehen.“ Oder: „Die Quallen haben 650 Millionen Jahre ohne Gehirn überlebt. Was veranlasst euch eigentlich zu glauben, dass unser Land keine Zukunft hat?“

Arkas, griechische Karikatur
©Arkas

Wir wissen nicht, ob das Land eine Zukunft hat, aber Humor hat es ganz sicher nicht. In diesem Sommer hat Arkas die Betreiber seiner Internetseite nach einer Flut von Beschimpfungen und Drohungen gebeten, den Betrieb kurzzeitig einzustellen. Und obwohl das Ganze nur wenige Stunden dauerte, war der Schaden bereits geschehen: Es hatte sich deutlich gezeigt, dass ein Teil der SYRIZA (die antieuropäische Linke Plattform, die soeben die neue Partei Laiki Enotita – „Einheit des Volkes“ gebildet hat) an unheilbarer ideologischer Versteifung leidet. Und keinen Funken Humor hat, wie es bei extremen Denksystemen ja häufig der Fall ist.

Im Moment drohen wir unter Tonnen von Profilierungssucht und Taktiererei begraben zu werden, statt die Krankheit zu sehen und darüber zu reden. Mit Humor wird die Wunde kauterisiert. Aber wie Arkas sagt: „Das Bildungsministerium hat heute die Abschaffung des Ausrufezeichens verkündet, nachdem es festgestellt hat, dass uns nichts mehr vom Hocker haut.“

Übersetzung: Birgit Hildebrand. Abbildungen: Arkas.

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1 Gedanke zu „Die Zukunft des Landes“

  1. Liebe BlogbetreiberInnen! (Beachten Sie das Ausrufezeichen!)
    Macht man es sich nicht zu einfach, wenn man die Entwicklung auf Eigenschaften eines sogenannten Volkscharakters, die Chimäre einer nationalen Mentalitât reduziert? Eine rhetorische Frage, freilich. Die ökonomischen Analysen vieler Syriza-Aktiven (man lese das jüngste Buch von Yannis Varoufakis) geben fraglos mehr her.
    Und wenn heute Abend die Vertreter der Alten Kaste, die das Land (und Teile seiner Bevölkerung) über Jahrzehnte geplündert und sich maßlos bereichert hat, die Wahl gewinnen wird, dann ist in diesem Fall nicht die Mentalitât DER Griechen verantwortlich, sondern deren, durch die kapitalistisch strukturierten europäischen Märkte verantwortete desolate Lebenssituation.
    Mythen haben keine Erklärungskraft, wohl aber die Kraft, die Dinge zu verschleiern.
    Beste Grüße und ganz großes Lob für Ihren Blog!
    Dr. Joachim Stary

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