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Katja Ehrhardt, Kulturmanagerin aus Athen, schreibt über die Lage der einheimischen Künstler und neue kreative Ansätze in der griechischen Hauptstadt, die als Mekka innovativer Kunst gilt. Zusammen mit Sotirios Bahtsetzis hat sie die Initiative AthenSYN gegründet.
Am 6. Und 7. November 2015 zeigt die Theatermacherin Elli Papakonstinantinou in Berlin die Performance „Re-Volt Athens“.
Die griechische Hauptstadt Athen – eine Stadt im Umbruch. Athen ist das neue Berlin, diesen Satz hört man jetzt häufig. Die Krise schien wie ein Weckruf funktioniert zu haben. Athen gleicht einem aufgeregten Bienenschwarm, in dem Menschen emsig zusammenkommen, um Neues zu erschaffen und ihr Haus vor dem Einsturz zu bewahren. Die Not zwingt sie dazu. Für die Kultur sind jegliche Zuwendungen abgeschnitten worden, und Künstler müssen sich mit Alternativen behelfen. Es stellt sich ihnen nun die Frage: Wie können wir weiter arbeiten?
Die harten Bedingungen im Land brachten eine neue Selbstorganisation hervor, die es in Griechenland so bisher nicht gegeben hat. Es bleibt den Menschen quasi nichts anderes übrig, als sich gegenseitig zu unterstützen und Formen der Zusammenarbeit zu finden, die nicht vorrangig auf finanziellem Austausch beruhen – denn dazu fehlen die Mittel. Man rückt naher zusammen – schließlich sitzt man in einem Boot.

So wie die Contemporary Art Showcase Athens: eine Gruppe von frisch von der Kunsthochschule kommenden Künstlern/Kuratoren in Athen hat sich kürzlich unter diesem Namen zusammengetan, um jungen griechischen zeitgenössischen Künstlern eine Plattform zur Präsentation ihrer Arbeit zu bieten. Beziehungen zu Ausstellungsorten werden hergestellt, die keine herkömmlichen Galerien sind und ihre Räumlichkeiten der Initiative unentgeltlich für Ausstellungen und Performances zur Verfügung stellen.
Kuratoren wird mit einem kontinuierlichen “Open call” als Einladung zum Engagement die Möglichkeit zur Praxis im öffentlichen Raum gegeben. Die Plattform ist inzwischen stadtbekannt und gefragt. Eine Win-Win-Situation: Die jungen Künstler erreichen höheren Bekanntheitsgrad, die Kuratoren sammeln Erfahrung in ihrer Arbeit, die nicht-herkömmlichen Ausstellungsorte und auch die Kunst werden einem breiteren Publikum zuganglich gemacht, da sozusagen ihre Zuschauerschaften vereint werden. Alles (selbst die Website) ist weitgehend ohne Budget organisiert.

Durch die Krise wandert die Bevölkerung Athens ab zurück in die Dörfer oder Inseln, aus der sie einst kam, oder ins Ausland. So gibt es viel leerstehenden Raum, der zu Spottpreisen vermietet und zunehmend von den Künsten in Beschlag genommen wird. Dazu zählen leerstehende Fabriken, Wohnungen in Gegenden, die durch den Ansturm von Einwanderern im Wohnwert gesunken sind und die als sozial benachteiligt angesehen werden. Gebiete wie Kypseli oder Omonia, über die Athener einst eher die Nase rümpften, werden zusehends fruchtbarer Boden für Kunstprojekte, Galerien und Künstlerinitiativen.
Gegenden wie das ehemalige Industrieviertel Votanikos wird besiedelt von Festivals, Kunstzentren, Projektorten und Galerien. Sogenannte Multikulturzentren (polichori), die Theater, Tanz, Konferenzen, Workshops, Ausstellungen und Café oder Restaurant in einem Ort vereinen, sprießen wie Pilze überall aus dem Boden. Athen gleicht einem Adventskalender – was nach geschlossenen Türen aussieht, verbirgt dahinter lauter Überraschungen.

In Phasen des Umbruchs wird alles flexibel. Die Reglementierungen für Künstler in ihrer Projektumsetzung sind offener denn je. Für das Theaterstück „Meta“ der griechischen Theaterregisseurin Elli Papakonstantinou im von ihr gegründeten Kunstzentrum Vyrsodepseio, einer ehemaligen Gerberei in Votanikos, wurde das Foyer einfach mit Wasser gefüllt und das Publikum mit Booten von der Treppe zur Bühne transportiert. Im Stück „Richard II.“ wurde fast ausschließlich Feuer als Lichtquelle genutzt.
Im nackten Rohbau einer ehemaligen Fabrik ist dies kein Problem, und das Publikum ist begeistert. Elli Papakonstantinou selbst lebte und arbeitete im Ausland, kehrte jedoch nach Athen zurück und gründete das Vyrsodepseio: “Was soll ich im Ausland, während mein Land in der Krise ist?” Innerhalb von zwei Jahren entwickelte sich die einst bis zum Rand mit Müll gefüllte leerstehende Fabrik zu einem der bekanntesten Orte für Theater in Athen. Das Vyrsodepseio kollaboriert in zahlreichen Projekten mit ausländischen Theatern, Künstlern und Initiativen.

Fast an der Tagesordnung sind Pop-Up-Events wie die seit kurzem bestehende Künstlerinitiative Hyle: Spontan wurde ein Konzert des weltweit bekannten Musikers Charles Curtis initiiert, das in einer leerstehenden Wohnung im fünften Stock stattfand, im Bezirk um Omonia – in einer dunklen Passage mit kleinen Elektro- und Ramschgeschäften. Nie würde man dort ein Konzert mit einem international renommierten Künstler vermuten. Dazu wurden innerhalb von wenigen Tagen ein Facebook-Event erstellt und Einladungen versandt, und so fanden sich abends in der für Theaterzwecke absolut nicht ausgerüsteten Wohnung Scharen von Zuhörern zusammen, die seinem Cellokonzert lauschten – stehend, an die Tür gelehnt, auf dem Boden sitzend oder liegend, mit einer nackten Glühbirne als einziger Lichtquelle, ohne Klimaanlage und bei fast 40 Grad Hitze. Ohne Eintritt, versteht sich.
Die in Berlin und seit kurzem auch in Athen lebende russische Medienkünstlerin Joulia Strauss, preisgekrönte Absolventin der Meisterklasse von Georg Baselitz, hat in Eigeninitiative eine “Autonome Akademie” am Ort der alten Platonischen Akademie in Athen ins Leben gerufen, um die heutige Ruine im Park im ursprünglichen Sinne wiederzubeleben. Dabei lud sie aus Berlin international bekannte Persönlichkeiten aus Kunst, Philosophie und Wissenschaft ein, nach Athen zu kommen und hier, zusammen mit griechischen Künstlern und Wissenschaftlern, Seminare, Workshops und Diskussionen zu leiten.

Die Gäste folgten der Einladung ohne Bezahlung, weil sie die Bedeutung Griechenlands und seiner Entwicklung in dieser Zeit erkannten, finanzierten ihre Flüge selbst, und die Wohnung der Künstlerin im Zentrum funktioniert als Gästehaus. Einen Monat lang wurde die Platonische Akademie und verschiedene andere Orte Athens mit Programm bespielt. Das Projekt erwies sich als sehr medienwirksam und dient der Achse Berlin-Athen, dem Austausch zwischen Griechenland und Deutschland auf kultureller Ebene und der Diskussion kritischer Fragen zur kulturpolitischen Entwicklung Europas.
Das zunehmend verfallende historische Green Park Cafe in einem der zentralen Parks Athens, dem Pedion tou Areos, wurde nach jahrelangem Leerstand besetzt und wird nun von Künstlerinitiativen mit Veranstaltungen bespielt. In einer lauen Sommernacht kann man dort mitternächtliche Performances und Videoprojektionen besuchen, wie die der jungen Künstlergruppe Arbit City Group, die sich mit der Mitgestaltung des öffentlichen Raumes durch die Stadtbewohner beschäftigt und das Bewusstsein für geopolitische Strategie schärft. Aktuell gibt es ein vielfaltiges Programm zum Thema „Institutions, Politics, Performance“ mit thematischen Stadtführungen, Workshops, Podiumsdiskussionen, Vortragen, Performances, Konzerten und mehr – die in Berlin lebende Politikwissenschaftlerin Isabel Lorey, Professorin am politikwissenschaftlichen Institut der Universität Kassel, ist unter den Keynote-Speakers.

Das im Athener Stadtteil Psyrri gelegene Embros Theater war einst eines der bedeutendsten Theater Athens und wurde vom Kulturministerium unter Denkmalschutz gestellt. Nach dem Tod des Theaterdirektors Tassos Bantis, der das Haus mit seinem Ensemble von 1988-2007 innehatte, lag es brach und verfiel, bis es 2011 von der “Mavili Collective”, einer Gruppe von Künstlern und Theoretikern, besetzt und in Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung mit einem reichhaltigen Programm von über 500 griechischen und internationalen Künstlern, Akademikern, Aktivisten und Theoretikern reaktiviert wurde. Als 2012 die für öffentliche Immobilien zuständige Gesellschaft ETAD die Übernahme der Räumlichkeiten ankündigte und das Embros evakuieren wollte, stießen sie auf nationalen und internationalen Widerstand.

Es wurden Unterschriften gesammelt, um den Erhalt des Kulturzentrums zu gewährleisten, in einer Zeit, wo das Überleben der Künste in der Krise durch die Verweigerung der Unterstützung seitens des griechischen Staates an den Rand der Unmöglichkeit getrieben wird. Im September 2013 wurde das Embros wieder geschlossen, diesmal durch TAIPED, einer Firma, die für die Privatisierung öffentlichen Besitzes zuständig ist. Schauspieler, die zu der Zeit gerade am Proben waren, wurden festgenommen. Das Theater funktioniert aber weiterhin als besetzter Ort; das Programm war und ist für die Öffentlichkeit kostenlos. Die Bühne wird (ohne Ausschlusskriterien) an Theatergruppen, je nach Zeitpunkt ihrer Anmeldung mietfrei zur Verfügung gestellt. Das Programm ist komplett kostenlos und funktioniert auf Spendenbasis, ebenso wie die Bar im “Foyer”. Das Theater ist praktisch immer voll bis übervoll. (“Embros” heisst auf griechisch “Vorwärts!”, “Los!”).

Natürlich gibt es auch diejenigen, die verzweifeln. Die Selbstmordrate in Griechenland ist drastisch gestiegen – so etwas wie Selbstmord war früher in Griechenland praktisch nicht vorhanden. Das hat sich geändert. Das kann man nicht herunterspielen. Doch es hat mich von Anfang an beeindruckt, wie Menschen hier mit der Krise umgehen. Trotz der harten Bedingungen gibt es Lebensfreude, Schaffensgeist, fröhliche Gemeinsamkeit – und all das scheint der Welt ein „Jetzt erst recht“ entgegenzurufen.
Fotos: Iliana Natsou, Joulia Strauss, GreenParkAthens, Empros, ΎΛΗ[matter]HYLE, Elli Papakonstantinou, Alex Kat
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