Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: Ελληνικά (Griechisch)
“Jagdsaison”, ein Stück des jungen Autors Giannis Skaragas, wird in Athen noch bis Anfang Februar 2016 jeweils montags und dienstags im Theater “Kivotos” gezeigt. Ein kleiner Ausschnitt daraus wurde von Michaela Prinzinger für die Tagung “Salonika – Reinventing Diversity” im Rahmen der Reihe “Das weisse Meer. Literaturen rund ums Mittelmeer” Anfang Juni 2015 übersetzt. Giannis Skaragas wird am 9.11. an der Berliner Konferenz 2015 “Europa – seine Werte, seine Bürger” der Initiative “A Soul for Europe” im Allianz Forum teilnehmen. Anlässlich dessen publiziert diablog.eu die Vorrede zum Stück. Der Autor wird im Zuge eines Arbeitsaufenthalts zwei Monate im Literarischen Colloquium Berlin verbringen.
„Jagdsaison“ ist ein Stück über das Verhältnis von Erzählung und Realität und über die Brutalität der Krise, über Geschichten, die wir neu erzählen müssen, um das Gute zu erfinden, und über Geschichten, deren Verlust wir begreifen und durch etwas Neues ersetzen müssen. Popi, eine Frau, die in der Wirtschaftskrise nicht nur ihr Vermögen, sondern auch die Lust, unter Menschen zu leben, verloren hat, zieht sich ganz in eine Wohnung zurück und kommuniziert nur noch mit ihrer inneren Stimme. Diese Stimme bekommt ein Gesicht, als sie eine Fotografie der Schriftstellerin Pinelopi Delta in einem ihrer Bücher sieht. Sie ist eine Frau, die Popi als Symbolfigur von Einsamkeit und innerer Emigration erscheint.
Im Zuge dieser ganz besonderen Zwiesprache greift Pinelopi Delta immer mehr in den Alltag ihrer Mitbewohnerin ein und lehrt sie, Geschichten zu erzählen. Die erzählerische Welt der Heldin, die zunächst bloß Mythen schaffen wollte, entwickelt sich zu einer persönlichen und unerwartet realistischen Herangehensweise, ihr Leben zu erzählen, bis hin zu dem Tag, als sie beschloss, sich von der Welt zu isolieren. Die persönlichen Verletzungen geben den narrativen Regeln eine neue Dimension, und eine virtuelle Heldin führt den realen Menschen zur Erkenntnis seiner dramatischen Existenz: Er kann sich nicht vom wirklichen Leben abkoppeln, wenn er seine Wahlmöglichkeiten und seine Moralvorstellungen nicht in ihr festmacht, wenn er seine persönliche Geschichte nicht mit der Erzählung einer ganzen, kränkelnden Welt verknüpft.

„Jadgsaison“ zeigt die Welt der Geschichten, die nach der Krise verloren gegangen ist. Das Stück zeigt die Unfähigkeit, eigenes Handeln und eigene Konfusion sowie auch die Entwicklung dieser Krise in unser Inneres zu integrieren. Bis vor wenigen Jahren gab es Geschichten, in denen wir uns alle wiederfinden konnten. Sie hatten weniger mit der griechischen Realität zu tun als mit unseren privaten Träumen. Diese Träume waren es, die uns zu besseren, differenzierten Menschen machten, sie erfüllten eine Wirklichkeit mit Inhalt, die von sich aus nicht in der Lage war, eine gemeinsame Erzählung zu schaffen und zu nähren: Wir träumten den Traum einer moralisch vollendeten Welt, deren Gesicht keinem von uns gefiel. Und das verband uns. Wir ähnelten uns in dem Bemühen, eine Ausnahme zu erfinden. Auf welcher Seite man auch stand, welchen Unterschied auch immer man vertrat, es gab eine generelle imaginäre Konfusion über die Frage, wer man sein und wer man werden konnte in einer solchen Welt, die einen tolerierte, weil man Geld hatte. Man konnte Cliquenwirtschaft betreiben oder am Rand der Gesellschaft leben, mit viel Knete oder nur mit dem Notwendigsten, mit denen, die Schlager hören, oder mit denen, die das Kunstlied lieben, mit den gesellschaftlichen Exhibitionisten oder mit den autistischen Einsiedlern.

Es gab die Vielen und es gab die Wenigen, und man konnte sich unter seinen eigenen Bedingungen eingliedern, man konnte Mikrokosmen erfinden, da es die ernsthafte Möglichkeit gab, dass dein Mikrokosmos von sich aus Sinn machte, es gab Platz dafür. Alle lebten in ihrem Mikrokosmos, da es in einer dekadenten Wirklichkeit eine erleichternde Nachricht war, dass alle fragmentarischen logischen Strukturen unserer persönlichen Geschichten darin Platz finden. Alle hatten wir irgendeine Geschichte, und in ihr spielten wir die Rolle des Jägers. Wir strebten nichts an, sondern wir gingen auf die Jagd. Wir wurden Jäger genannt, weil im allgemeinen Irrsinn unsere guten Vorsätze und unser Streben so asozial und asketisch waren, dass wir die Jagdbeute mit Erfolg verwechselten.
Mit der Krise spielen diese persönlichen Geschichten keine Rolle mehr. Vielleicht gibt es keine Jagdbeute mehr. Oder vielleicht hat uns das abstoßende Gesicht der Wirklichkeit, das wir lieber übersehen hätten, ins Auge geblickt, und diesmal haben wir ihm nicht gefallen. Denn, wenn vorher jeder von uns eine andere Art von Ausnahme war, bilden wir nun alle dieselbe Ausnahme, wir sind eine Gesellschaft von Verdächtigen in einer Welt, die kein Geld mehr hat, um uns zu tolerieren, wo keiner keinen mehr toleriert und unsere Narrative jedes Nachdenken durch Polemik ersetzt haben.

Wir haben den Kontakt zu allem verloren, was Geschichten hervorbringt, wir haben das Grundbedürfnis verloren, unsere Erfahrungen zu teilen und mit denen der anderen zu verknüpfen, um ihnen durch eine gemeinsame Weltinterpretation Sinn zu verleihen, aber vor allem durch unsere Teilhabe an den aufrüttelnden Möglichkeiten, dass die Welt sich durch unsere Erzählung selbst verändert, durch einen gemeinsamen Versuch, unsere Kontinuität zu erfinden, damit wir alle zusammen weitermachen können.
Unsere Geschichten sind uns abhanden gekommen, weil wir aus dem Zustand, unsere eigenen Sehnsüchte zu inszenieren, hineingezwungen wurden in den Zustand, die Verantwortung mit den anderen zu teilen. Das Verständnis geteilten Leids wurde ideologisch benutzt und erzeugte anstelle von Zustimmung Neid. Anstatt uns zu einer grundlegenden Überschreitung zu befähigen, erweckt es nur Zorn. Wir wurden aus unseren Geschichten verstoßen, da die harte Erfahrung der letzten Jahre ihren Bezugspunkt nicht in dem findet, was uns zugestoßen ist, sondern in dem, was man mit uns gemacht hat. Denn der narrative Werkzeugkasten unserer Zeit hat nur Täter und Opfer aufzuzeigen, memorandumfreundliche und memorandumfeindliche Übertreibungen, die unsere gemeinsame Erfahrung aus der Erzählung heraus in eine Rahmenhandlung verweist.

Wir berufen uns auf die Handlung eines anderen, die zu unseren Lasten geht, wir machen Einleitungen, die nicht zu uns selbst führen, wir sind in nichts, was uns passiert, die Hauptfiguren, und wir können nichts bestimmen, außer vielleicht das unbezwingliche Schuldgefühl für irgendein von uns vor der Krise gemeinsam begangenes Vergehen. Für ein Vergehen, für das wir alle über denselben Kamm geschoren werden, anstatt den Grad der Zurechnungsfähigkeit zu klären. Es macht uns alle zu vom Schicksal Geschlagenen und zu Misshandelten, gleichermaßen unfähig, die Dinge zu bestimmen und zu verändern.
„Jagdzeit“ ist ein Stück über diesen gewaltsamen Übergang vom Beutetier zum über denselben Kamm Geschorenen. Es geht darin um eine Generation von Jägern, die ihre Flinten mit der Mühe eines unendlich guten Vorsatzes laden, mit einer mühsamen Pose, die keiner je für die Ewigkeit festgehalten hat. Es ist aber auch die Geschichte eines tiefen Glaubens. Nämlich, dass uns niemand die Fähigkeit rauben kann, uns selbst als besseres Ich zu imaginieren. Und das ist eine Art von Glauben, den man in der Dichtung in hohem Maße antrifft. Es ist das beharrliche Vermögen, in das elementare Wesen des menschlichen Charakters Vertrauen zu setzen, um Lösungen zu finden und das Unausweichliche in Frage zu stellen.
Anm. d. Übers.: Pinelopi Delta, 1874-1941, schrieb vorwiegend Kinder- und Jugendbücher, sie stammte aus der reichen Kaufmannsfamilie Benakis, ihr Vater war Minister unter Venizelos. Besonders berührend sind ihre autobiografischen Schriften, sie beging am Tag des deutschen Einmarsches in Athen Selbstmord.
„Jagdsaison“ von Giannis Skaragas wird in einer Inszenierung von Lina Zarkadoula mit den Darstellerinnen Athina Maximou und Foteini Baxevani im Theater Kivotos (Pireos 115, Gazi) von 28. September bis 2. Februar immer montags und dienstags um 21.15 Uhr gezeigt.
Giannis Skaragas ist Autor und Drehbuchautor. Er arbeitete im Theater und als darstellender Künstler. Er schreibt auf Englisch und auf Griechisch. Bisher sind vier Romane in Griechenland erschienen. Sein Theaterstück „Primzahlen“ wurde 2009 als Off-Broadway Produktion in New York uraufgeführt. Seit über 15 Jahre schreibt er fürs das griechische Fernsehen, Kino und Theater. Er ist ein Fulbright Fellow und Mitglied der Vereinigung europäischer Journalisten. Seine Texte sind in US-amerikanischen Zeitschriften wie World Literature Today und The Tower Journal erschienen.
Die griechische Ausgabe des Theaterstücks erscheint im November im Verlag Kritiki.
Übersetzung: Michaela Prinzinger. Fotos: Giannis Vastardis
Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: Ελληνικά (Griechisch)