Obscuro Barroco

Preisgekrönter Film von Evangelia Kranioti

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Evangelia Kranioti auf Erfolgskurs! Nach dem fulminanten Auftritt auf der Berlinale und der Auszeichnung durch den Teddy Special Jury Award wurde ihr Film „Obscuro Barroco“ auf dem Dokumentarfestival Thessaloniki zuletzt mit dem Youth Jury Award geehrt. Theo Votsos berichtet über ihr eindrucksvolles Projekt.

So weiblich gab sich die Berlinale noch nie! Im zweiten Jahr in Folge ging der Goldene Bär an eine Frau. Sieben der insgesamt zwölf Hauptpreise, die während der feierlichen Preisverleihung der 68. Internationalen Filmfestspiele am Samstagabend vergeben wurden, durften Frauen in Empfang nehmen. Einen („Teddy“-)Bären hatte schließlich auch Evangelia Kranioti im Gepäck, als sie nach zehn aufregenden Festivaltagen Berlin wieder verließ. Für ihren in Rio de Janeiro gedrehten Filmessay „Obscuro Barroco“ wurde die griechische Fotografin, Installationskünstlerin und Filmemacherin mit dem begehrten „Teddy Jury Award“ ausgezeichnet.

Filmplakat Obscuro Barroco

Zwei Filme: zweimal auf der Berlinale

Zwei Filme hat die studierte Juristin und Multikünstlerin Evangelia Kranioti bisher fertiggestellt, mit beiden schaffte sie es in die Berlinale. Ihr beeindruckendes, mehrfach ausgezeichnetes Filmdebüt „Exotica, Erotica, Etc.“, eine poetische Annäherung an das Seefahrerleben und die Nostalgielandschaft Meer, wurde anno 2015 im „Forum des Internationalen Jungen Films“ präsentiert, ihr vor kurzem abgeschlossener zweiter Film „Obscuro Barroco“ feierte auf der diesjährigen Berlinale im „Panorama“, der zweitwichtigsten offiziellen Festivalsektion, seine Welturaufführung. Allein die Tatsache, dass beide Filme der 1979 in Athen geborenen und seit 17 Jahren in Paris lebenden Kranioti im offiziellen Programm eines der weltweit bedeutendsten Filmfestivals präsentiert wurden, ist als Erfolg zu werten. Als wäre dies nicht schon genug Anerkennung, brachte ihr „Obscuro Barroco“ nun auch den ersten Berlinale-Preis ein.

Bildgewaltiges Filmessay über das „dritte Geschlecht“ Rios

„Wäre Rio de Janeiro ein Mensch, dann wäre es ein Transvestit“, hören wir Luana Muniz, transidente Gallionsfigur der queeren Subkultur Brasiliens und Protagonistin in Kraniotis neuem Film sagen. „Seines Farben-, Facetten- und Deutungsreichtums wegen.“ Nach Betrachtung des Films könnte man ruhigen Gewissens hinzufügen: Wäre Luana Muniz eine Stadt, dann wäre sie Rio de Janeiro. Für ihr anfänglich als künstlerisches Portrait der Großstadt an der Copacabana angelegtes Projekt hätte Kranioti in der Tat kein passenderes Pendant, keine bessere Inkarnation finden können als Rios Transgender-Ikone Muniz. 1961 als Mann geboren, begann sie im Alter von erst 13 Jahren mit ihrer Transformation zur Frau, betätigte sich als Sexprofessionelle und Künstlerin und setzte sich bis zu ihrem viel zu frühen Tod im Mai 2017 für soziale Gerechtigkeit und die politische Gleichstellung von Transvestiten und Transsexuellen in Brasilien ein. Muniz nimmt für sich keine festgefügte Identität in Anspruch, verortet sich vielmehr jenseits der Dialektik von Männlich und Weiblich, sozusagen als „drittes Geschlecht“.

Und damit ist sie wie sonst niemand dazu prädestiniert, uns mit ihrer Stimme in „Das dritte Geschlecht von Rio“ (so der Titel eines bereits 2008 von Marianne Greber im Auftrag des ORF inszenierten Dokumentarfilms über Luana Muniz) zu begleiten. Genau auf dieses obskure (weil dunkle, sich fast ausschließlich in der Nacht abspielende) und barocke (im portugiesischen Wortsinn in erster Linie seltsame bzw. verschrobene), einer fortwährenden Metamorphose unterworfene Zwischenleben Rios, auf Lebenswelten jenseits sexueller und sozialer Zuschreibungen, auf verschwimmende Grenzen und sich auflösende Identitäten will Kranioti in Obscuro Barroco den Blick lenken. Und zaubert in einem hypnotischen Flow atemberaubend sinnliche Bilder vom orgiastischen Treiben des Straßenkarnevals und dem ekstatischen Tanz nackter, sich einer eindeutigen geschlechtlichen Zuordnung widersetzender Körper auf die Leinwand, in die sich unvermittelt auch Szenen von politischem Protest mischen. Kranioti inszeniert ihren mit fiktionalen Elementen angereicherten dokumentarischen Essay vor allem als poetisch stilisiertes Zwiegespräch zwischen Luana Muniz, der sie ihren Film auch widmet, und der brasilianischen Millionenstadt; in Analogie übrigens zur 1973 erschienenen Novelle „Aqua Viva“, ein dialogischer Text der bedeutenden brasilianischen Prosaautorin Clarice Lispector (1920-1977), aus der die transsexuelle Erzählerin immer wieder rezitiert.

Wie schon in ihrem ersten Film besticht Kranioti einmal mehr durch ihre hervorragende Bildgestaltung. Mal lässt sie die Kamera schwerelos über das Panorama von Rio schweben, mal in intimen Naheinstellungen die schimmernde Haut der tanzenden Körper regelrecht abtasten. Im harmonischen Zusammenspiel mit Schnitt (Yorgos Labrinos) und Sounddesign (Jerome Gonthier) ist es Kranioti nach „Exotica, Erotica, Etc.“ gelungen, auch ihrem neuen Film ihre eigene Handschrift zu verleihen. Insofern steht Kranioti bereits in einem frühen Zeitpunkt ihrer Filmkariere für eine Bildsprache und einen filmästhetischen Stil, der für die Zukunft noch einiges erwarten lässt.

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Der Jurypreis bei den diesjährigen Teddy Awards, mit denen seit 1987 alljährlich am Vorabend der Verleihung des Goldenen Bären Filme mit queerem Hintergrund aus dem gesamten Berlinale-Programm ausgezeichnet werden, bekräftigt diese Prognose. In ihrer Begründung befand die Jury, dass uns „Obscuro Barroco“ in eine lebhafte und surreale Stadt transportiere, in einen Karneval von Träumen und Albträumen, den wir durch die Augen einer queeren Ikone verfolgten. Die beeindruckende und außerordentliche Vision der Regisseurin ziehe uns aufgrund der herausragenden Kinematographie in ihren Bann und mache den Film auf besondere Weise poetisch und intim – eine außergewöhnliche künstlerische Leistung.

Weitere Informationen: www.berlinale.de

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