Trotz Krise unbeirrt erfolgreich

Bericht vom 55. Internationalen Filmfestival Thessaloniki von Theo Votsos

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Trotz der abermaligen drastischen Reduzierung des Budgets ist es dem Filmfestival Thessaloniki auch im November diesen Jahres gelungen, ein Programm von überdurchschnittlicher Qualität und Attraktivität auf die Beine zu stellen. Der Schwerpunkt lag einmal mehr auf dem unabhängigen internationalen Filmschaffen, auf der Neuentdeckung junger Talente aus der ganzen Welt und auf der Ehrung von bedeutenden Persönlichkeiten des weltweiten Autorenkinos. Mehr als in den Jahren zuvor stand die diesjährige Ausgabe aber auch im Zeichen des einheimischen Films. Aus Anlass des 100. Geburtstages des griechischen Kinos waren in diesem Jahr in Thessaloniki so viele griechische Beiträge zu sehen wie schon lange nicht mehr.

Atmosphäre_ILange Schlangen

Aus einer Liste von insgesamt 200, zwischen 1914 und 2014 entstandenen Kinowerken wurden im Vorfeld des Festivals in einer freien Abstimmung die 20 beliebtesten griechischen Spielfilme aller Zeiten ermittelt und während des Festivals in einem Sonderprogramm zur 100jährigen Geschichte des griechischen Kinos gezeigt. Zu den präsentierten Filmen gehörten Meilensteine der nationalen Filmhistorie wie Stelios Tatasopoulos‘ Koinoniki Sapila (Social Decay, 1932), Yorgos Tzavellas‘ Kalpiki Lira (Counterfeit Coin, 1955), Michalis Kakoyannis‘ Stella (1955), Nikos Koundouros‘ O Drakos (The Ogre of Athens, 1956) und Theo Angelopoulos‘ O Thiassos (Die Wanderschauspieler, 1975), aber auch Publikumslieblinge der jüngeren Vergangenheit wie Politiki Kouzina (Zimt und Koriander, 2003) von Tassos Boulmetis und einige der Festivalerfolge der letzten Jahre wie etwa Yorgos Lanthimos‘ Kynodontas (Dogtooth, 2009) oder Panos Koutras‘ Strella (A Woman’s Way, 2009).

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Kalpiki Lira/Counterfeit Coin

Auf diese Weise wurde dem Publikum, das jedem Filmfest, letztendlich aber auch jedem einzelnen Film seine Daseinsberechtigung verleiht, erstmals in der langen Festivalgeschichte die „Macht“ eingeräumt, einen nicht unwesentlichen Teil des Programms selbst zusammenzustellen und somit die ohnehin starken organischen Bande mit dem Festival auch mal in aktiver Rolle zu bekräftigen. Zudem konnten durch die Retrospektive über „100 Jahre griechisches Kino“ die vorwiegend jungen Zuschauer des Festivals die Lieblingsfilme ihrer Eltern und Großeltern vielleicht zum ersten Mal überhaupt auf der großen Leinwand erleben und die bewegte Filmgeschichte Griechenlands, die immer auch die Sozial-, Politik- und Alltagsgeschichte des Landes reflektiert, in ihrer Kontinuität, aber auch in ihren Brüchen nacherleben.

16 aktuelle griechische Filmproduktionen, davon 7 Weltpremieren

International JuryDie Retrospektive anlässlich des 100. Geburtstags des griechischen Kinos war jedoch nur ein Teil des heuer mit 36 Filmen überaus reichen griechischen Programms (im Vorjahr gab es gerade mal 8 einheimische Filme zu sehen). Komplettiert wurde es durch 16 aktuelle Produktionen. Filmen, die schon auf anderen internationalen Filmfestivals debütierten, wie z. B. To Mikro Psari (Stratos) von Yannis Oikonomidis, der im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale seinen viel beachteten Einstand gab, oder Xenia von Panos Koutras, der auf den Filmfestspielen von Cannes in der wichtigen Nebenreihe „Un Certain Regard“ reüssierte, standen 7 Filme gegenüber, die in Thessaloniki ihre Weltpremiere feierten. Zwei davon, Norvijia (Norwegen), das originelle Spielfilmdebüt von Yannis Veslemes, und Forget Me Not, der zweite lange Film von Yannis Fagras, vertraten Griechenland im eigentlichen Herzstück des Festivals, dem Internationalen Wettbewerb, zu dem seit jeher „nur“ erste und zweite Spielfilme zugelassen sind.

Eipides_AbschlusFestivaldirektor Dimitris Eipides bewies einmal mehr sein gutes Gespür für junge Filmtalente aus der ganzen Welt und sorgte mit seiner Auswahl von insgesamt 14 Filmen aus 13 Ländern für eine der wohl stärksten Wettbewerbsselektionen der Festivalgeschichte überhaupt. Bei einer derart starken Konkurrenz, in der u. a. das fulminante Taubstummendrama Plemya (The Tribe) des Ukrainers Myroslav Slaboshpytskiy (Preis für die Beste Regie), der von der Athener Produktionsfirma Graal Films produzierte und vom bulgarischen Regie-Duo Kristina Gozeva und Petar Valchanov in überzeugender narrativer Stringenz inszenierte dramatische Kampf einer bulgarischen Provinzlehrerin um die Existenzsicherung ihrer Familie und um die Wahrung ihrer moralischen Integrität in Urok (The Lesson), dem der Preis für das Beste Drehbuch und der Bronzene Alexander für Originalität und Innovation beschieden war, oder das bildgewaltige, zwischen Poesie und Realismus oszillierende Meisterwerk La Tirisia (Perpetual Sadness) des Mexikaners Jorge Pérez Solano (Goldener Alexander für den Besten Film) brillierten, nahm es nicht Wunder, dass die beiden griechischen Beiträge gänzlich leer ausgingen.

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Yannis Veslemes durfte für seinen skurillen Genrefilm Norwegen, in dem Vangelis Mourikis als lichtscheuer und durch das schrille Nachtleben eines so noch nie gesehenen Athen tanzender Vampir glänzt, immerhin von der Jury des Internationalen Verbandes der Filmkritik FIPRESCI den Preis für den Besten Film des griechischen Programms entgegennehmen.

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Hanna Schygulla

Weitere Höhepunkte des Festivals waren die Hommagen an den ungarischen Regisseur Kornél Mundruczó, dessen letzter, in Cannes ausgezeichneter Film Fehér Isten (White God) das Filmfestival eröffnete, an den schwedischen Altmeister des Absurden Roy Anderson, mit dessen letztem, auf dem diesjährigen Filmfestival von Venedig mit dem Goldenen Löwen prämierten Werk A Pigeon Sat on a Banch Reflecting on Existence der Vorhang des diesjährigen Filmfestes fiel, an Ramin Bahrani, einen der bedeutendsten Vertreter des jungen unabhängigen US-amerikanischen Kinos, und die umfassende Werkschau des politischen Filmemachers Zelimir Zelnik aus Serbien; die beiden letzteren fanden sich persönlich in Thessaloniki ein.

Für Glanz sorgte schließlich auch der (u. a. dank der Unterstützung des Goethe Instituts zustande gekommene) mehrtägige Besuch der deutschen Schauspielerin und Sängerin Hanna Schygulla. Die Ikone des Neuen Deutschen Films und Muse Rainer Werner Fassbinders wurde mit einer mehrteiligen Hommage und einem Goldenen Alexander für ihr künstlerisches Gesamtwerk geehrt.

Amanda und Hanna 2014, M.Prinzinger
©diablog.eu, Hannah Schygulla und Amanda Michalopoulou, literaturfestival berlin 2014

Auf der ihr gewidmeten Pressekonferenz äußerte sich Schygulla in sehr kritischen Tönen zur gegenwärtigen deutschen Politik und warf ihr insbesondere im Hinblick auf die Bewältigung der Eurokrise Kurzsichtigkeit und die fahrlässige Förderung von Renationalisierungsprozessen vor. Denn: „Wir leben alle im selben Körper, Europa, die Welt, die gesamte Menschheit – wir haben so viel gemeinsam, trotz unserer Unterschiede.“ Auf die griechische Krise angesprochen, verstieg sie sich sogar zur Prophezeiung, dass „Griechenland“ über kurz oder lang „wie Phönix aus der Asche wiederauferstehen werde.“

Publikumsmagnet Filmfestival

POSTER 55 FESTZumindest das Filmfestival von Thessaloniki stellt jedes Jahr aufs Neue unter Beweis, dass es wie „Phönix aus der Asche“ wiederaufzustehen vermag. Unbeirrt von einer abermaligen drastischen Budgetkürzung in der Größenordnung von ca. 40 % hält es am eingeschlagenen Weg der konsequenten Förderung und Präsentation des internationalen unabhängigen Films fest. Das filmbegeisterte junge und jung gebliebene Publikum der nordgriechischen Metropole hat es ihm auch in diesem Jahr auf die denkbar beste Weise gedankt. Fast 90.000 Menschen besuchten während der zehntägigen Veranstaltung die Vorführungen der 150 präsentierten Filme in den sechs Festivalspielstätten. Eine Auslastung von sage und schreibe über 96 %! Entsprechend dankbar zeigte sich Dimitris Eipides am letzten Samstag während der Abschlussveranstaltung im vollbesetzten Olympion-Filmtheater. „Wir danken dem Publikum aus ganzem Herzen. Es bestätigt uns darin, dass es für eine andere Sicht auf die Welt, wie sie vom unabhängigen Film gefördert wird, ein starkes Bedürfnis gibt.“

Weitere Informationen zum Filmfestival Thessaloniki, unter anderem sämtliche Preisträger, unter: www.filmfestival.gr. Dieser Beitrag wurde, wenn auch in sehr gekürzter Form, bereits in der Ausgabe der Griechenland Zeitung (www.griechenland.net) vom 12.11.2014 veröffentlicht. Fotos: www.motionteam.gr, www.filmfestival.gr

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