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Jenseits der politischen Lärmwelt, der Skandale, der Streikaktionen der Gewerkschaften und der Larmoyanz von Protestgruppen gibt es ein Griechenland, von dem die geschwätzigen Medien bisher nur wenig Notiz genommen haben. In vielen Städten haben sich Netzwerke der Solidarität gebildet, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, den durch die Krise in Not geratenen Mitbürgern zu helfen. Griechische Großzügigkeit, eine der Stärken dieses Landes, könnte in der Lage sein, dem Land aus dem Tal des Jammers zu helfen. Wir haben eines dieser Netzwerke im Süden von Athen besucht.
Wer Athen in Richtung Süden verlässt und den engen Teil des verkehrsreichen Vouliagmenis Boulevard durchfahren hat, bewegt sich danach etwa 5 km am Stadtteil Ilioupolis entlang, einem Vorort, der sich linker Hand von dort bis an die Höhen des Hymettos erstreckt. Ilioupolis ist eine Stadt für sich, mit etwa 130 000 Einwohnern, einem eigenen Stadtrat mit Bürgermeister und allen kommunalen Einrichtungen und Behörden. Da dort keinerlei Industrie und nur wenige Gewerbebetriebe angesiedelt sind und die Luft von den Aufwinden des nahen Meeres ständig gereinigt wird, gilt der Ort als beliebtes Wohnviertel für Menschen, die in der Innenstadt Athens beschäftigt sind.
In den fünfziger Jahren hat man breite vierspurige Straßen gezogen, dann kamen die Bauleute und haben die spärlichen kleinen Häuschen mit ansehnlichen Wohnblocks ersetzt. So präsentiert sich die Stadt heute als ein mit Verstand geplantes und gepflegtes Viertel für ein mittelständisches Bürgertum. In den Cafés und Restaurants rund um die kreisrunde Obere Platia drängen sich nicht nur am Wochenende etablierte Bürger und schicke junge Leute. Gut situiert scheint man in dieser Wohnstadt zu sein. Ein aufwendiges Rathaus und ein Museum des Widerstands betonen die zentrale Bedeutung dieses Platzes. An einem Freitag im Januar nahmen wir an einer Theateraufführung von Romeo und Julia im Saal des Museums teil. Dort drängten sich ältere Bewohner, Eltern mit ihren Kindern und junge Leute.
Auf der Basis von Shakespeares Drama boten zwei junge Schauspieler ein fulminantes komödiantisches Feuerwerk. Für die hinreißende Aufführung mit einfachsten szenischen Mitteln gab es am Ende großen Applaus. Was mir dort auffiel, war die Art, wie der Eintritt entrichtet wurde. Die Besucher gaben fast alle am Eingang eine Plastiktüte ab, in der sich Päckchen mit Zucker, Reis, Bohnen, Olivenöl, Zwieback, Limonaden und sogar Spülmittel befanden. Das war ihre Eintrittsgebühr.
Wir waren in eine Veranstaltung des Solidaritätsnetzwerks Lagoumi geraten, dessen Ziel ist Menschen zu helfen, die durch die Krise in Not geraten sind. Bargeldlos!
Lagoumi heißen die Stollen, die die Maulwürfe graben und damit den verhärteten Erdboden auflockern. Eine Gruppe um die Lehrer Spiros Gakis, Sakis Adamopoulos und Marina Evagelou haben im Februar 2013 das Netzwerk angeschoben. Ihnen war aufgefallen, dass hinter der bürgerlich geordneten Fassade sich großes krisenbedingtes Elend verbirgt. Die Opfer dieser Not trauen sich meist nicht, ihren wirtschaftlichen und seelischen Zustand nach außen sichtbar werden zu lassen.
Wenn ein Elternpaar von zwei Kindern oder eine alleinerziehende Mutter plötzlich arbeitslos geworden sind oder Rentner empfindliche Kürzungen ihrer Renten oder sonstigen Zuschüsse hinnehmen müssen und gleichzeitig Darlehen noch nicht abgezahlt sind, ist die Armutsgrenze sehr schnell unterschritten. Viele wissen dann nicht, wie sie dem begegnen und ein menschenwürdiges Leben führen können, wenn noch dazu die Elektrizitätsgesellschaft den Strom sperrt, das Geld für Heizöl und die Nachhilfestunden der Kinder nicht mehr reicht. Not und Ausweglosigkeit sind dann sehr komplex, die Gegenwart katastrophal, die Zukunft hoffnungslos.
An einem Mittwochnachmittag schlenderte ich mit Spiros durch den wöchentlichen Biomarkt. Die Händler kennen ihn alle, erzählen ihm von ihren eigenen Schwierigkeiten wie Grigoris aus Nafplion, der den ganzen Tag über nur wenig umgesetzt hatte, aber davon Benzinkosten und Steuern abziehen muss. Trotzdem wird eine Tüte mit Orangen und Zitronen gefüllt. Später kommen Dimitra und Vagelis von der Helfergruppe von Lagoumi vorbei, sammeln die gefüllten Tüten ein und verstauen sie in ein Auto. Wir fahren inzwischen zur Zentrale von Lagoumi. Die Initiative hat drei kleine Ladengeschäfte nebeneinander bezogen. Zwei davon werden als Lager und Büro, ein etwas größeres als Besprechungs- und Unterrichtsraum benutzt.
Aus Bauholz wurden Regale für die Lagerung der Waren gebaut und mit Tüchern verhangen. Die gesamte Ausrüstung einschließlich Computer und Kopiergerät sind Spenden. Im Büro klingelt das Telefon, eine Mutter ist am Apparat, ihr Junge hat heftige Zahnschmerzen. Spiros ruft einen Zahnarzt an, der kostenlose Behandlung zugesagt hat. Inzwischen steht eine junge Frau vor dem Schreibtisch. Sie will von Lagoumi betreut werden. Die dreißigjährige allein erziehende Mutter hat zwei schulpflichtige Kinder und muss 300,- € für die Miete zahlen.
Das Einkommen aus Putzarbeiten reicht nicht aus. Ihre Daten werden in eine Kladde eingetragen. 400 Namen enthält sie inzwischen. 23% sind Ausländer. Wer Hilfe erhält, muss seinerseits seine Dienste anbieten, so er in der Lage ist. Die Helfergruppe vom Biomarkt trifft ein, packt die etwa 50 Plastiktüten mit Obst und Gemüse aus, deren Inhalt nun gleichmäßig in Portionen für die Bedürftigen aufgeteilt wird.
Lagoumi benötigt viele freiwillige Mitarbeiter. An den Samstagen schwärmen 10 Helfer auf den großen Wochenmarkt aus, 7 Supermärkte werden von 6 Sammelgruppen zu je drei Personen betreut, jeden Tag gibt es unverkauftes Fleisch und am Samstag erhält Lagoumi sogar Fisch, der übers Wochenende verderben würde. Eine Zählung hat ergeben, dass von hundert Kunden jedes Supermarkts fünfundsechzig eine Spende geben. Ähnlich erfolgreich schätzen die Helfer auch die Teilnahme der Bürger bei Ärzten und Zahnärzten, die kostenlose Behandlung, bei Rechtsanwälten und Finanzleuten, die Schuldenberatung anbieten und bei Psychologen, die bei psychischen Nöten helfen.
Während die gesammelten Waren umverteilt werden, treffen ständig neue Leute ein. Es geht zu wie in einem Bienenstock. Leute kommen und gehen, bringen etwas oder nehmen etwas mit. Einige stehen vor den Ladengeschäften und plaudern. Kinder treiben sich zwischen den Erwachsenen herum. Zwei Schüler warten auf ihren Nachhilfelehrer, einen arbeitslosen Maschinenbauingenieur, der Mathematik unterrichtet.
Die Leute kommen offensichtlich gern, nicht nur weil sie hier ein offenes Ohr finden, auch wegen der heiteren Atmosphäre ohne bürokratische Diskriminierung. „Für mich ist das hier eine Oase.“ sagt eine Frau, die offensichtlich zu Hause nicht nur ökonomische Probleme hat. Es gehört zum Prinzip von Lagoumi, dass der in Not Geratene nicht nur ausreichend ernährt wird, sondern dass seine Zugehörigkeit zur Gesellschaft und seine menschliche Würde wiederhergestellt werden. Daher die Theateraufführungen und verbilligte Eintrittskarten für andere kulturelle Veranstaltungen.
Für die Initiatoren wächst die logistische Arbeit bisweilen über ihre Möglichkeiten hinaus. Es geht ja nicht nur darum, Spenden (Lebensmittel, Kleidung, Spielzeug) und Dienstleistungen zu sammeln, sondern sie auch an die Not Leidenden gerecht zu verteilen, Kontakt zu den Netzwerken der Nachbargemeinden (Vironas, Ag. Dimitrios etc.) zu halten und das Internet Portal zu pflegen. Die Maulwürfe von Lagoumi haben innerhalb nur eines Jahres Erstaunliches erreicht, nicht nur dass den von der Krise am härtesten Getroffenen geholfen wurde, sondern dass ein großer Teil der Bürger von Ilioupolis erfahren konnte, was die Zivilgesellschaft zu leisten vermag.
Lagoumi, Rovertou Galli 53, Athen-Ilioupolis, Tel. 6985014809. Erschienen in: Griechenland Zeitung 2013. Fotos: Hubert Eichheim
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