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Der Kreuzberger Veranstalter Lettre Etage organisierte vom 21.5. – 1.6.2014 ein neuartiges Poesiefestival, zu dem Jazra Khaleed, Timos Alexandropoulos und Antonis Kalagkatsis aus Athen eingeladen wurden. Gesucht wurden innovative Formen der Lyrik-Performance, die über die bekannten Präsentationen von Gedichten hinausgehen.
Das Projekt der griechischen Teilnehmer stellt eine neue, unkonventionelle Form der Schaffung und Präsentation von Poesie vor, die auf Improvisation, Sprach- und Klangexperiment, Fragmentierung und Zufallselementen beruht. Unter Nutzung der sprachtheoretischen Werke von Roland Barthes und Michel Foucault loten die Künstler die Rolle des Diskurses bei der (Re)produktion und der Herausforderung von Machtstrukturen aus und entlarven Poesie als soziale Praxis, die von sozialen Strukturen determiniert wird. Sie streben an, ein Anti-Narrativ zu entwickeln, das unsere Wahrnehmung der Welt herausfordert – nicht durch direkte Ansprache der Zuhörerschaft, sondern indem alles in ein anderes Licht gerückt wird, indem Fehler und Bedeutungsveränderungen über eine Verschiebung der Sprache bewirkt werden.
Über einen speziellen Code wählt ein Computer zufällige Phrasen von einem vorgegebenen Twitter-Hashtag (beispielsweise #Syria) sowie aus einer Versdatenbank aus, die von den beiden Künstlern zusammengestellt wurde (beispielsweise Verse aus den Gedichten einer arabischen Frau, die auf Englisch schreibt). Die Phrasen und Verse aus den beiden Quellen werden zum Teil zufällig und zum Teil anhand eines vorgegebenen Musters kombiniert. Durch die Anwendung bestimmter Restriktionen (etwa betreffend der Silbenzahl pro Vers) entsteht ein Gedicht. Zeitgleich werden Klangereignisse produziert, indem die Zahl der Buchstaben jedes neuen Wortes sowie der Gesamtumfang des eintreffenden Datenmaterials geschätzt werden.
Bei der Live-Präsentation des Projekts arbeiten die drei Künstler improvisatorisch an dem vom Computer generierten Gedicht. In ihrer Aufführung verwenden sie einige der Phrasen und Verse, lassen andere beiseite und fügen eigene hinzu. Sie stiften das Publikum an, aus den zufälligen und deplatzierten Fragmenten Bedeutung zu generieren. Offenbar bruchstückhafte und unzusammenhängende Sound- und Diskurs-Bytes treffen aufeinander, um ein disjunktives Anti-Narrativ zu bilden. Die fragmentierte Sprache der Performance ermöglicht es Künstlern wie Publikum, über Poesie die soziale Ordnung zu überdenken und neu zu beschreiben.
Timos Alexandropoulos, geboren 1988, lebt in Athen, vielseitiger Künstler und Programmierer. Unter dem Pseudonym „No God Ritual“ wurden seine Werke bei in- und ausländischen Labels herausgebracht. Sein Hauptinteresse gilt der Verwendung algorithmischer Systeme sowie unterschiedlicher Programmierkonzepte und –techniken (wie den Ideen von tactical media, dem Internet, Hacking oder der Datenanalyse) für die Erzeugung komplexer synthetischer Klänge. Er tritt gleichermaßen in Clubs wie Galerien auf. Sein letztes Werk ist als 12-Inch-Vinyl-Edition erschienen.
Jazra Khaleed wurde 1979 in Grozny, Tschetschenien geboren. Er lebt in der Athener Innenstadt und schreibt Gedichte auf Griechisch, die er meist online oder als Samisdat-Literatur veröffentlicht. Seine Werke sind ein Protest gegen die Ungerechtigkeiten des heutigen Griechenlands und den aufkommenden Faschismus. Sie beschäftigen sich mit der Verarmung des Lebens in Griechenland, dem antifaschistischen Kampf und dem schwierigen und verzweifelten Leben afrikanischer und nahöstlicher Migranten in den Slums von Athen. Seit 2008 gibt er die Literaturzeitschrift teflon mit heraus. Er hat unter anderem Gedichte von Amiri Baraka, Elfriede Jelinek, Bert Papenfuß, Keston Sutherland, Linoel Fogarty und Ann Cotten ins Griechische übersetzt und Essays über verschiedenste Gegenstände verfasst, darunter die Lyrik der Aborigines, die Avantgarde-Lyrik in der DDR und die Poetik des Hip Hop. Er wurde zweimal zum Berliner Poesiefestival eingeladen. Seine Gedichte wurden von angesehenen Literaturmagazinen wie World Literature Today, Modern Poetry in Translation, Westerly, Poetry International, Die Horen und Floppy Myriapoda publiziert.
Antonis Kalagkatsis, 1989 in Athen/ Griechenland geboren; Studium der bildenden und angewandten Kunst an der Aristoteles-Universität, Thessaloniki. Seine Abschlussarbeit beschäftigte sich mit der strukturellen Form des “Panopticon” sowie letztlich mit dem Überwachungssystem an sich. Kalagkatsis Arbeit ist ein Versuch die Beziehung zwischen „dem Beobachter und dem Beobachteten“ mithilfe neuer Medientechnologien umzudrehen. Er ist Mitbegründer von “NullPointerConstant”, einem multidisziplinären Duo, das sich auf Audio/Videoinstallationen und taktische Medien konzentriert. Er lebt und arbeitet in Athen.
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