Kalymnos: Von der Schwammtaucher-Insel zum Kletterparadies

Reiseartikel von Ivar Schute

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Auf welcher Insel fühlen sich Kletterer und Ziegen gleichermaßen zu Hause? Richtig, es ist Kalymnos mit seinen messerscharfen Felsen, auf der es sonst nur friedlich nach Thymian duftet. Ivar Schute berichtet über die Dodekanes-Insel, die sich vom Schwammtaucher-Image befreite und heute als Mekka der Klettersportler gilt.

„Heute Sonderangebot für Kletterer!“ Diesen Satz hört man als Willkommensgruß in Restaurants sonst eher selten. Meine Freunde und ich sind gerade über die von Oleander gesäumte Landstraße hungrig im Dorf Massouri, dem Eingangstor zum größten Klettergebiet auf Kalymnos eingetroffen. Auf dieser Insel fräst sich diese Straße der gewundenen Küstenlinie entlang von Dorf zu Dorf. Blickt man von dort aus hoch in die Felswände, erkennt man auf den Kletterrouten kleine, bunte Pünktchen, die sich ihren Weg nach oben suchen.

Man könnte erwarten, dass Passanten erstaunt und mit offenem Mund nach oben starren, aber weit gefehlt: Auf Kalymnos sind die Kletterer nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Zwar findet man in etlichen Souvenirläden noch die Remiszenzen an die goldenen Zeiten der klassischen Schwammtaucher in ihren historischen, schweren Helmtauchgeräten, doch damit macht man heute keine Geschäfte mehr. Die Insel hat sich mittlerweile mit den entsprechenden Fachgeschäften, zumindest auf der Westseite, ganz auf den modernen Klettertourismus eingestellt.

Schwämme

Fischgeruch

Im Haupt- und Hafenort der Insel Pothia, wo wir vor kurzem aus Mastichari/Kos mit der Fähre einfuhren, roch es intensiv nach Fisch – und das ist hier als Kompliment gemeint. Obwohl es heißt, die Ägäis sei längst leer gefischt, riecht hier der Hafen noch nach dem Salz der Wellen, nach frischem und nicht mehr ganz so frischem Fisch. Unterwegs auf dem kleinen Boot hatten wir die Gelegenheit, uns zu besinnen, warum wir hier eigentlich klettern wollen und vor der ersten Bergtour zur inneren Ruhe zu finden. Es soll ja kein Leistungsmarathon werden, sondern ein inneres Bedürnis befriedigen, dem Himmel ein Stückchen näher zu kommen, die eigenen Widerstände zu überwinden und die eigenen Grenzen zu respektieren.

Kletterer auf Felsen am Meer

Geschichte

Der Italiener Andrea di Bari erkannte als Erster das Potenzial, das Kalymnos für Kletterer bietet. Er leistete in den 90er-Jahren Pionierarbeit, gefolgt von Aris Theodoropoulos, der das klassische Handbuch für alle Kletterfans (auf Englisch) verfasste und die Website climbkalymnos.com initiierte. Es wurden in großem Stil Kletterrouten angelegt, und in den letzten zwanzig Jahren hat sich die Insel zu einem Mekka für Klettersportler entwickelt – einzigartig in Griechenland und weit darüber hinaus berühmt und bekannt.

Die meisten Klettergebiete liegen an der Westküste, ein paar wenige an der Ostseite und auf der Nebeninsel Telendos. Von der Straße aus führen Wanderpfade zu den insgesamt mehr als sechzig „Sektoren“, die von mit Helmen, Kletterschuhen, Seilen und Gurten schwer bepackten Sportlern bewältigt werden müssen. Die meisten sparen Energie, indem sie Scooter mieten und bequem zu den Ausgangspunkten der Wanderpfade hinknattern. Nur ganz Unermüdliche, wie beispielsweise die von hohen Bergmassiven „verwöhnten“ Niederländer, mieten auch im Erholungsurlaub Mountainbikes und strampeln in der Mittagshitze behende über jeden sich bietenden Bergrücken.

Kletterer in Steilwand

Überhänge mit Stalaktiten

Die beliebte Westseite der Insel bietet Touren direkt über der azurblauen See, nur die Sonne brennt den ganzen Tag herunter und erschwert das Klettern. Da lohnt sich ein genaues Studium des Handbuchs, das über den jeweiligen Sonnenstand auf jeder Route Auskunft gibt. Dann findet man immer eine Alternative! Oberhalb von Massouri arbeiten sich Anfänger und Profis Seite an Seite den Berg hoch. Die berühmten Höhlen mit den von Kalksteinstalaktiten gespickten Überhängen bilden eine Herausforderung für Extremkletterer, daneben liegen glatte, einfache Touren für weniger Erfahrene. Während athletische Modellkörper sich kopfüber von Stalaktit zu Stalaktit hanteln, sucht der Bescheidene seinen Weg auf simplere Weise.

Zum Aufwärmen, sowohl körperlich als auch psychisch, für die anspruchsvolleren Sektoren, fangen wir mit Kasteli an, einer Burgruine, die auf einer Halbinsel unweit von Massouri liegt. Dieser einfache Sektor ist immer gut besucht und bietet auch Kindern eine erste Möglichkeit, sich mit dem Klettersport vertraut zu machen. Mit wachsender Besorgnis beobachte ich eine französische Familie, deren gerade mal sechsjähriger Sohn als Vorsteiger voranklettert. Als wir auf gleicher Höhe sind, erkenne ich Angst in seinem Gesicht. Über das Alter von Vorsteigern kann man diskutieren, aber sechs Jahre ist doch etwas jung. Seine etwa zehnjährige Schwester agiert da viel sicherer und hat auch offensichtlich mehr Spaß am Klettern!

Blick aus Berghöhle aufs Meer

Möwen

Die Insekten, die mich beim Klettern belästigen, sind größer als mir lieb ist. Und Schatten ist auch keiner weit und breit, sodass ich mir eins schwöre: Niemals im Hochsommer nach Kalymnos! Das Seil gleitet durch meine Hand, während meine Kletterpartnerin Nora sich einen Weg durch die vom Salzwasser erodierten, verkrusteten und messerscharfen Felsen ertastet. Unter mir liegt am Fuss der Klippen eine Bucht, in der ich die Möwen vermisse. Ja, das Mittelmeer scheint in der Tat leergefischt.

Dann ziehen wir weiter in die Dolphin Bay, wo wir an mattweißen Kristalladern entlang klettern, die man aufgrund ihrer scharfen Kanten nur schwer zu fassen bekommt. Als ich mir selbst meinen Weg auf der „Baklava Maniac“ genannten Route nach oben suche, scheint sie wie für mich gemacht. Bekanntermaßen gibt es Touren, die passgenau für einen geschaffen scheinen und nur darauf warten, erobert zu werden. Mit drei Griffen habe ich den Überhang durchquert, den ich ansonsten aufgrund meines Gewichts kaum bewältigen würde. Doch wunderbarerweise stehe ich oben, auch das ist geschafft!

Insel Telendos

Telendos

Am nächsten Tag ist Kontrastprogramm angesagt. Beim Frühstück auf der Blumenterrasse haben wir beschlossen, heute eine lange Route zu wählen. Davon gibt es nur wenige, und dafür bietet sich insbesondere die Nebeninsel Telendos an. Alle halbe Stunde fährt ein Bötchen hinüber auf das autofreie, nur von 90 Einwohnern besiedelte Eiland. „Wings of Life“ heißt die Herausforderung des Tages, 250 Meter hoch, elf Seillängen lang, also eine extrem lange und anspruchsvolle Variante. Nach der achten Seillänge gibt es einen „Punkt ohne Wiederkehr“, das heißt, dann kann man nicht mehr abseilen, sondern muss die Tour zu Ende führen.

An dem „Punkt ohne Wiederkehr“ hänge ich an der Bandschlinge, unter mir 150 Meter Luft unter den Sohlen, meine Partnerin Nora ist nach oben verschwunden. Ein Gefühl von unendlicher Einsamkeit überkommt mich. Auch das Gefühl der Angst, ja, der Panik ist nicht weit. Doch das Leben der Vorsteigerin liegt in meiner Hand, sie ist nur durch mein Seil gesichert. Also muss ich vernünftig und besonnen abwarten, bis Nora mich ihrerseits sichern kann.

Oben angekommen brauche ich erst einmal Abstand von der Klippe, die Erinnerung an die angespannte Situation ist noch zu frisch. Nachdem ich mich kurz erholt habe, steigen wir zur Nordseite ab und umrunden die halbe Insel in einer dreistündigen Wanderung zurück zum Schiffsanleger.

Kletterer im Felsen

Ziegen 

Auf Kalymnos zu klettern heißt, an seinem Selbstvertrauen zu arbeiten. Die Felskanten sind so scharf, dass selbst die kleinste Rille dem Kletterschuh ausreichend Halt bietet. Deshalb kann man dort Schwierigkeitsgrade bewältigen, die man anderswo kaum schafft. Aber das Selbstvertrauen reicht nur so weit, bis man die erste Ziege im Felsen sieht. Ihre Kletterfähigkeiten sind in der Tat unglaublich! Es kann einem schwindelig bei ihrem Anblick werden, wenn sie auf nahezu vertikal in die Höhe ragenden Felswänden – ohne Seilsicherung – in die Höhe tänzelt. Da schließt man besser die Augen und konzentriert sich wieder auf das menschenmögliche Maß der eigenen Fähigkeiten.

Text: Ivar Schute. Übersetzung aus dem Niederländischen: Michaela Prinzinger. Fotos: Raymond Haan & John Theunissen.

Tipps

Essen: Harry’s Paradise, Emporios, nur mit Reservierung, auch Apartments: www.harrys-paradise.gr.
Schöne Weinauswahl und Snacks: Azul Bar, Massouri: www.facebook.com/azulkalymnos.

Kletterfestival 2. – 5. Oktober 2018

Karten und Kletterhandbuch:
Aris Theodoropoulos: Kalymnos, Rock Climbing Guidebook. Terrain, Athen 2010.
ISBN 978-960-9456-19-7, bestellbar unter www.climbkalymnos.com für € 38,- (inkl. Porto).
Eine sehr gute Landkarte ist 337 Kalymnos, im Maßstab 1:25.000, hrgs. von Skai Maps, überall auf Kalymnos erhältlich. Mit Karte und Handbuch sind Sie dann gut für Klettertouren auf Kalymnos gerüstet.

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