„Franckfurt am Mayn” im griechischen Siatista

Reisebericht von Paschalis Tounas

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Das nordgriechische Siatista liegt an der Verbindungsstraße zwischen den Städten Kozani und Grevena und erstreckt sich bogenförmig durch ein Tal. Ihre Blütezeit erlebte die Kleinstadt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Damals errichteten wohlhabende Kaufleute große und beindruckend dekorierte zwei- und dreigeschossige Herrenhäuser. diablog-Mitarbeiter Paschalis Tounas erzählt seine persönliche Reise nach Siatista, nachdem er von Berlin zurück nach Griechenland gezogen war.

Nach ganzen zwei Jahren waren meine Sachen schließlich doch bei mir angekommen, obwohl ich selbst schon längst wieder in meiner griechischen Heimat lebte. Sechs Kisten, voll mit Büchern und Mitschriften von Lehrveranstaltungen, aber auch verschiedenen kleinen Gegenständen, Postkarten, alten Fotografien hauptsächlich aus Ostberlin, Gravuren und Landkarten, die ich bei meinen häufigen Besuchen auf dem Flohmarkt der Straße des 17. Juni erstanden hatte.

Flohmärkte gibt in Berlin zuhauf und sie sind dort wie auch anderswo ein wesentlicher Bestandteil des Stadtbildes. Auf dem Flohmarkt der Straße des 17. Juni gab es einen bekannten Verkäufer antiker Karten, Herrn Hoffmann, der immer eine ganze Reihe davon an seinem Stand hatte und deshalb gerne von Galeristen und Vertretern von Auktionshäusern aufgesucht wurde.

Als ich eine der Kisten öffnete, um die Bücher auszupacken und in den Bücherschrank zu stellen, erblickte ich ganz oben das Werk „Gesamtansicht von Athen“ von Stefanos A. Koumanoudis, das erste griechische literarische Stadtporträt. In der Mitte des dünnen Buches schaute ein Lesezeichen heraus – eine Eintrittskarte des bekannten Berliner Auktionshauses Ketterer Kunst. Mir kam sofort Herr Hoffmann in den Sinn, der mir damals zum Besuch einer Auktion geraten hatte, bei der Kupferstiche mit Stadtansichten versteigert wurden, sogenannte Veduten, also „Stadtporträts“, die aus einer bestimmten Perspektive dargestellt werden.

Ansicht eines Dorfes
Teilansicht von Siatista, ©Klaus Kumbier

Es war am 15. Juni 2012, als eine Berliner Galerie eine der bis dato größten Auktionen seltener Bücher, Karten und auch Veduten für ein bekanntes Auktionshaus durchführte. Natürlich waren mir Online-Auktionen ein Begriff, aber bei einer Auktion live dabei zu sein, war eine wirklich unvergessliche Erfahrung. Den Verkaufskatalog mit einem enzyklopädisches Vorwort über die berühmten „Stadtporträts“ in der Hand, setzte ich mich in eine der hintersten Reihen, um einen guten Überblick zu haben und alles genau beobachten zu können, was in einem der kleineren Ausstellungsräumen der Galerie stattfand. Die Auktion war sehr lebhaft, die Gebote kamen aus allen Richtungen des Saales, die Telefonleitungen liefen heiß, und die Verkäufe kamen gut voran, was vor allem dem Einsatz des Auktionators zu verdanken war.

Ich hatte immer geglaubt, bei Auktionen gutgekleidete Menschen anzutreffen. Bei dieser Auktion konnte man jedoch alles Mögliche sehen: Jeans, kurze Hosen, kurzärmelige Hemden. Nur eine sehr gepflegte Dame mit braunem Hut und rosa Tuch hob sich von der Menge ab, die bei etlichen interessanten Objekten und offenbar mit einem besonderen Interesse an Veduten deutscher und griechischer Städte mitbot. Ob ihre Vorliebe wohl mit ihrer Herkunft oder einfach nur mit rein geschäftlichem Interesse zu tun hatte? Am Ende der Auktion erhielten wir die Antwort: Die Organisatoren der Auktion bedankten sich bei allen für die Teilnahme, und danach ganz besonders bei dieser Dame, die eine griechisch-deutsche Kunststiftung vertrat, die, wie sich herausstellte, Forschungen zur Stadtarchitektur, aber auch zur Innenausstattung vorwiegend urbaner Häuser des 18. und 19. Jahrhunderts im deutsch- und griechischsprachigen Raum betreibt.

Herrenhaus in Siatista
Herrenhaus Poulko oder Poulkidis ©Klaus Kumbier

Ich packte nun die restlichen Bücher aus den Kisten und quetschte sie erst mal wahllos in den Bücherschrank, bis ich irgendwann den geeigneten Platz dafür finden würde. Dann fuhr ich mit der Internetrecherche zur Erhaltung und Wiederherstellung von Herrenhäusern vor allem im makedonischen Raum fort. Zum Abschluss eines europäischen Finanzierungsprogramms wollte das Amt für Altertümer in Kozani dem Publikum in ein paar Tagen zwei Herrenhäuser von Siatista erneut zugänglich machen und zu diesem Anlass Veranstaltungen und Führungen organisieren. Im Winter war eine Architekturbiennale in Kozani vorangegangen und nun stand alles bereit, um die Herrenhäuser der Öffentlichkeit zu präsentieren. Es handelte sich um das Haus Poulko oder Poulkidis, zu dessen Einweihungsfeier die örtliche Presse eine überschwängliche Reportage verfasst hatte, und das Herrenhaus Maliongas (das zuvor dem Gelehrten D. Argyriadis gehörte), dem weitaus weniger Aufmerksamkeit zuteil wurde.

Nach einigen Terminverschiebungen – zum einen, weil das Wetter schlecht war, zum anderen, weil das Personal sich nicht imstande sah, die Herrenhäuser für die Besucher aufzuschließen – konnte ich eines überraschend sonnigen Apriltages zusammen mit Freunden endlich durch die schwere Holztür ins Herrenhaus Maliongas oder Argyriadis im Stadtteil Chora von Siatista treten.

Von Kozani aus waren über die Autobahn Richtung Ioannina und die Via Egnatia eine halbe Stunde unterwegs. Es war eine unwirkliche, entrückte Fahrt, linker Hand stets den hoch aufragenden Berg Bourino in Sichtweite, die zwischen kahlen, niedrig bewachsenen Hügeln durch ein schmales Tal führte. Dann stieg der Weg an nach Siatista, das auf 900 Höhenmeter liegt. Über den Stadtteil Geraneia fuhren wir zum Tria Pigadia-Platz, der im Stadtteil Chora liegt. Vis-à-vis von diesem Platz liegt hinter neu errichteten Häusern das Herrenhaus Maliongas bzw. Argyriadis.

Fresko mit Stadtansicht
Herrenhaus Maliongas oder Argyriadis, „Frankfurt am Main“ ©Klaus Kumbier

Im Berliner Auktionskatalog mit den Veduten, den ich in Händen hielt, las ich von einem großen Kupferstich von Johann Balthasar Probst, der die Stadt „Franckfurt am Mayn” abbildet. „Die Wandmalerei von Frankfurt im Herrenhaus von D. Argyriadis kopiert einen Kupferstich von Johann Balthasar Probst“, hörte ich eine Dame sagen, die eine Jugendgruppe herumführte, kurz bevor sie einen Raum des Untergeschosses betrat. Welch angenehme Überraschung war doch dieses deutsch-griechische Zusammentreffen von Siatista und Frankfurt, vermittelt durch den Künstler Probst und seine Heimat Augsburg, die seit Anfang des 18. Jahrhunderts das wichtigste deutsche Ankaufs- und Handelszentrum für Druckgrafiken mit dekorativen Motiven war. Und vielleicht wollte ja Argyriadis selbst diese Verbindung aufzeigen, weshalb er einen anonymen Künstler beauftragte hatte, eben diesen Stich als Fresko an die Wand zu malen.

Das ist gar nicht so weit hergeholt, war er doch selbst um 1836 in Wien, um seine Studien fortzuführen. Er sprach Deutsch und errichtete später literarische Brücken, indem er Werke von Friedrich Schiller in Griechische übersetzte, unter anderem das Theaterstück „Die Jungfrau von Orleans“, dessen Übersetzung er eine Biografie des Dichters und eine einbändige Geschichte der deutschen Philologie beigesellte, sowie „Maria Stewart“.

Wir folgten still der Gruppe und hörten der Fremdenführerin interessiert zu, die, wie wir erfuhren, Kunsthistorikerin mit Forschungsschwerpunkt volkstümliche Malerei war.

Die Führung wurde zum Spiel „Finde die Unterschiede“ zwischen der Wandmalerei des Herrenhauses und dem Kupferstich von Probst aus dem Katalog, den ich in der Hand hielt. Seine Kunsterziehung in traditioneller byzantinischer Kunst verriet der anonyme Maler durch die Anwendung der Umkehrperspektive, bei der Formen und Gestalten im Vordergrund nur klein und unbedeutend dargestellt werden, um das Hauptthema hervorzuheben: die Stadt im Hintergrund. Er fügte Gebäude hinzu und entfernte andere, veränderte den Maßstab, malte im Vordergrund verkleinerte Reiter, Fußgänger und Tiere dazu, ins Flusswasser setzte er Boote mit Ruderern, Segelboote und unverhältnismäßig große Fische.

alte Stadtansicht von Konstantinopel
Herrenhaus Keratzís, „Konstantinopel“ ©Klaus Kumbier

Allerdings gab es einen Unterschied, den nur ein in die Architektur Eingeweihter bemerken konnte. Der Maler von Siatista war an Panoramen ihm bekannter Orte gewöhnt, wie z. B. Konstantinopel, das in fast allen Herrenhäusern zu finden war. Es gelang ihm jedoch nicht, alle Türme Frankfurts zu erfassen, die er auf der Vorlage sah, mit den von Kreuzen gekrönten, spitz zulaufenden Dächern. So setzt er auf die Spitze einiger Türme Halbmonde statt Kreuze, und damit entsprach das Panorama wieder einigermaßen der Idee, die er von Städten hatte und die er sich ohne Minarette nicht vorstellen konnte.

Und mit diesem wirklich sehr beeindruckenden Detail – ob Auftrag eines aufgeklärten Gelehrten oder Willkür des volkstümlichen Malers, sei dahingestellt – verließen wir die Gruppe, die ihre Führung durch die restlichen Räume des Herrenhauses fortsetzte, in denen sich unter anderem auch eine Wandmalerei-Vedute von Madrid und die Darstellung eines österreichischen Offiziers befanden.

Reiter in Uniform in Landschaft
Herrenhaus Malióngas, „Der österreichische Husar“ ©Klaus Kumbier

Dann gingen wir weiter zur Manousia-Bibliothek von Siatista, wo wir das geistige Erbe von D. Argyriadis und seiner universalgelehrten Familie vor Ort betrachten konnten, standen doch in den Regalen einige der wichtigsten, wenn nicht sogar alle Werke des Gelehrten, dessen Anwesen wir gerade besucht hatten. Darunter befanden sich die Übersetzungen von Schiller, aber auch Werke über Adamantios Korais und wir stellten uns den Gelehrten vor, wie er schrieb und las in dem Zimmer mit dem Frankfurter Stadtfresko, das einst vielleicht seine Bibliothek gewesen war.

Text: Paschalis Tounas. Übersetzung: Heike Göttlicher. Lektorat: A. Tsingas/M. Prinzinger. Fotos: Klaus Kumbier. Die Redaktion dankt Klaus Kumbier für die Bereitstellung der Bilder, sein Artikel „Die Herrenhäuser von Siatista” ist in der Nr. 28 (Juni 2018) der Zeitschrift „Exantas” erschienen.

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