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Von Griechenland bis Niedersachsen, von den Fünfzigerjahren bis in die Gegenwart: In ihrem Roman “Makarionissi oder Die Insel der Seligen” erzählt Vea Kaiser in ihrem einzigartigen Ton von der Glückssuche einer Familie und deren folgenreichen Katastrophen, von Möchtegern-Helden und Herzensbrechern. Und von der großen Liebe, die man mehrmals trifft. Marianna Chalari hat den Prolog für diablog.eu ins Griechische übersetzt.
In einer niedersächsischen Kleinstadt wird die Erotik der deutschen Sprache entdeckt. In der österreichischen Provinz sehnt sich ein skurriler Schlagerstar nach einer Frau, die er vor 40 Jahren verlor. In einer Schweizer Metropole macht ein liebeskranker Koch dank pürierter Ameisen Karriere. Und auf einer griechischen Insel sucht ein arbeitsloser Gewerkschafter verzweifelt seinen Ehering, um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Doch alles beginnt in einem vom Krieg entzweiten Dorf an der albanisch-griechischen Grenze. Mit einer Großmutter und Kupplerin par excellence, die keine Intrige scheut, um den Fortbestand ihrer Familie zu sichern. Und mit der klugen, sturen, streitbaren Eleni und ihrem Cousin Lefti, der sich nichts sehnlicher wünscht als Frieden. Als Kinder unzertrennlich, entzweien sich die beiden umso stärker als Erwachsene. Und kommen doch nie voneinander los. Mit hinreißender Tragikomik, einem liebevollen Blick für Details und furioser Fabulierlust folgt Vea Kaiser der Geschichte einer unvergesslichen Familie, die auseinandergerissen werden musste, um zusammenzufinden. Ein Roman über das Aushalten von Sehnsucht und Einsamkeit, über Neuanfänge, Sandburgen für die Ewigkeit und die Schönheit des Lebens als Postkartenmotiv.

Vea Kaiser, geb. 1988 in Österreich, veröffentlichte 2012 ihren Debütroman “Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam”, der Platz 1 der ORF-Bestenliste erreichte und Leser wie Presse gleichermaßen begeisterte. Übersetzungen ins Tschechische, Niederländische, Französische sowie eine Verfilmung sind in Arbeit. Nach ihrer Lesereise in über 100 Städte und 10 Länder studiert sie nun in Wien Altgriechisch. Vea Kaisers zweiter Roman “Makarionissi oder Die Insel der Seligen” ist im Mai 2015 erschienen.
Auszug aus Vea Kaisers “Makarionissi oder Die Insel der Seligen”
I. Gesang
Der von einem kleinen Bergdorf an der griechisch-albanischen Grenze erzählt, wo zwei,
die sich eigentlich mögen, auseinandergerissen werden, weil die Familie große Pläne
mit ihnen hat.
Prolog
In Varitsi, einem kleinen Bergdorf nahe der albanisch- griechischen Grenze, gab es das Sprichwort, dass die dunkelste Stunde immer jene vor Sonnenaufgang sei. Als Maria Kouzis jedoch im Frühling neunzehnhundertsechsundfünfzig aufschreckte und sich an der Wand ihrer Schlafkammer abstützte, auf dass die jahrhundertealten Steine ihr wild pochendes Herz etwas beruhigten, war sie sicher, noch nie eine solch finstere Nacht erlebt zu haben, obwohl es erst kurz nach Mitternacht war. Maria Kouzis fragte sich: War sie in ihren Gedanken verloren gegangen, hatte sie sich in Wachträumen verirrt oder war sie einfach eingenickt? Die alte Frau traute dem Schlaf nicht, denn wer zu tief schläft, verpasst, was um ihn herum geschieht. In jedem Falle war sie jedoch überzeugt, soeben ein Zeichen erhalten zu haben. Denn Zeichen in all ihren Gestalten hatte Maria Kouzis im Laufe ihres Lebens zu trauen gelernt.
Als sie eine junge Frau gewesen war, hatten plötzlich die Tiere in ihrer kleinasiatischen Heimatstadt Chimären geworfen. Ein Kalb mit zwei Köpfen, ein Zicklein, dessen weiß schimmernde Haut sich wie die eines Menschenbabys anfühlte. Sogar die wilden Hunde nahmen von diesen Kreaturen Abstand, und nachdem ein Vögelchen aus dem Nest gefallen war, das keine Flügel besaß, beschlossen Maria Kouzis und ihre Mutter neunzehnhundertachtzehn, Kleinasien zu verlassen. Der Vater, ein gebildeter Kaufmann, der in Paris studiert hatte, belächelte die Zeichenkunde und blieb. Die Türken, die wenige Wochen später in die Stadt einfielen, in ihrem verheerenden Bestreben, die ganze Küste von Griechen zu säubern, erstachen ihn, plünderten das Haus und zündeten es an.
In den von Flüchtlingen bevölkerten Straßen von Piräus, wohin es Maria Kouzis mit ihrer Mutter verschlagen hatte, schenkte ihr eines Tages eine Straßenhändlerin eine Tasse Kaffee, ein Luxus, den sie schmerzlich vermisst hatte. Doch Maria stürzte das schwarze Gold nicht runter, sondern achtete einzig auf den Kaffeesatz: Er hatte sich langsam am Grund gesammelt, während sich am oberen Rand ein Ring gebildet hatte. Und wie es das Omen des Ringes versprochen hatte, begegnete ihr wenige Tage später der Mann ihres Lebens: ein reicher Salzhändler aus den Bergen im Nordwesten. Er war beeindruckt von ihrer Klugheit, ihrer Bildung, ihrer Anmut – und heiratete sie, obwohl sie weder kochen konnte noch eine Mitgift mitbrachte. Und dank dieser Tasse Kaffee war Maria in das Bett gelangt, in dem sie auch heute, viele Jahre nach dem Tod ihres Mannes, noch lag, in einem herrschaftlichen, aus festen Steinmauern gebauten Haus, dem größten Haus in ganz Varitsi, dem Bergdorf nahe der Grenze zu Albanien, durch das seit Jahrhunderten die wichtigste Handelsroute für Salz führte.
Maria Kouzis glaubte fest daran, dass die Vorfahren im Himmel Zeichen schickten, um ihren Nachgeborenen den Weg zu weisen. Die Zeichen konnten immer und überall erscheinen, nur Kristallkugeln glaubte sie nicht, die hielt sie für Humbug der Zigeunerweiber.
Als sie in dieser Nacht im Jahre neunzehnhundertsechsundfünfzig in ihrem Bett hochfuhr, war ihr ein Zeichen in Form eines Traumbilds erschienen. Und sobald sie festgestellt hatte, dass sie tatsächlich wach war. lief Maria Kouzis, die man im Dorf nur Yiayia Maria, Großmutter Maria, nannte, mit einem Lächeln auf ihrem faltigen Gesicht in den Hof und fiel vor dem gemauerten Ikonenschreinchen auf die Knie. Ihr weißes Haar glänzte im Mondlicht bis zu den Fußsohlen, auf denen sie saß, während sie ein Gebet nach dem anderen aufsagte und das Glas des Schreins küsste, bis es von ihrem Atem ganz beschlagen war.
In dieser Nacht war Yiayia Maria die heilige Paraskevi erschienen, prächtig pompös, und hatte ihr versichert, dass die Heiratspläne, die sie für ihre Enkelkinder hegte, rechtens seien.
Die alte Frau hatte schon viele Ehen gestiftet. Selbst Knaben und Mädchen, die sich nicht hatten ausstehen können, hatte Yiayia Maria verkuppelt, wenn die Zeichen einen günstigen Ausgang verhießen, und auf diese Weise vielen Familien den Fortbestand gesichert. Sie selbst war immer bemitleidet worden, Zwillingstöchter, aber keinen Sohn geboren zu haben, doch auch diesen Mangel hatte Yiayia Maria wettgemacht, indem sie die beiden gut verheiratet hatte. Die einundzwanzig Minuten ältere Despina, die feinfühlig, liebevoll und nachdenklich war, hatte sie einem klugen Lehrer aus dem Oberdorf zur Frau gegeben, und Pagona, die zwei starke Arme und viel Willen zur Arbeit hatte, hatte sie mit einem tüchtigen Handwerker verheiratet – zwei gute Partien, obwohl die Mädchen die zur Fäulnis neigenden Zähne von Yiayia Marias verstorbenem Mann geerbt hatten, wie Maria selbst überdurchschnittlich klein und zudem mit wenig besonderen Reizen gesegnet waren.
Doch dann hatten die Hennen gekräht wie Hähne, Scheren waren nur noch spitz zu Boden gefallen, im Frühling bereits war das Gras verwelkt, und der Krieg war gekommen. Neun-zehnhundertvierzig die Italiener, neunzehnhunderteinundvierzig die Deutschen, und als man die ausländischen Feinde überstanden hatte, zerstritt sich das Land darüber, von wem es künftig regiert werden solle. Despinas Mann zeugte einen Sohn, zog mit den Kommunisten davon und ward nie wieder gesehen. Pagonas Mann kämpfte für die kronloyalen Truppen und blieb im Dorf, Pagona schenkte ihm sechs Töchter, von denen allerdings nur Tochter eins und drei überlebten, die zweite in der Hungersnot des Bürgerkriegs verendete, die vierte und fünfte als aneinandergewachsene Zwillinge nach drei Tagen verstarben und die letzte tot zur Welt kam.
Die Zeiten des Kriegs hatten das Dorf so ausgehungert, dass sogar der Sauerampfer zwischen den Pflastersteinen zu einer Wassersuppe verkocht wurde, die Brieftauben sich ihr eigenes Galgenlied sangen – und kaum jemand mehr Kinder bekommen wollte. Yiayia Maria hatte die Zeichen gelesen. Ihre größte Sorge war jedoch nicht der Hunger, sondern dass ihr einziger Enkelsohn keine Frau zum Heiraten finden würde, wenn, wie es die Zeichen versprachen, der Frieden zurückkäme. Die paar Mädchen, die es gab, waren schon seit ihrer Geburt anderen Knaben versprochen. Niemand kannte die ungeschriebenen Gesetze der Varitsi’schen Heiratsarrangements besser als Yiayia Maria. Und niemand wusste besser als sie, dass ihr geliebter Enkel namens Lefti vermutlich leer ausgehen würde.
Wenn ihre Tochter Despina mit dem Knaben an der Brust am Spinnrad saß, klagte Yiayia Maria lautstark, wie schrecklich es sei, dass Lefti schon früh das Dorf verlassen müsse, um eine Frau zu finden. Und wenn Pagona Äpfel schälte, bedauerte Yiayia Maria, dass Pagonas Familie niemals Anspruch auf das Familienerbe haben würde – ihre Mädchen waren bereits zu alt für Lefti, sodass sich eine Heirat nicht schicken würde. Yiayia Maria umgarnte ihre Töchter, impfte ihnen Sorgen und Ängste ein, und bald begannen die Zwillingsschwestern untereinander zu wispern, wie schön es wäre, wenn ihre Kinder heiraten könnten – erst leiser, dann lauter -, bis sich Pagona auf Anraten ihrer Mutter im Frühjahr neunzehnhundertachtundvierzig in die alte Hochzeitsunterwäsche zwängte und ihren Mann Spiros betrunken machte. Und dies noch zwei Mal wiederholte, bis sich ihr Bauch wölbte und sie ein Mädchen gebar, dem man den Namen Eleni gab.
Spiros war darüber sehr erzürnt. Pagona hatte ihm versprochen, in diesen schwierigen Zeiten keine Kinder mehr zur Welt zu bringen, doch Pagona flüsterte ihm ins Ohr, wie sehr dieses Kind ein weiterer Beweis seiner Manneskraft sei. Überhaupt wurde dieses Mädchen besonders umsorgt: Despina pflegte sie, weil sie nicht nur ihre Nichte, sondern auch ihre künftige Schwiegertochter war, Pagona hegte sie, weil die Kleine dem Zweig ihrer Familie das Erbe sichern würde, und Yiayia Maria hatte in Eleni ihren neuen Augenstern. Dies geschah zum großen Ärger der älteren Enkeltöchter Foti und Christina, die es überaus ungerecht fanden, dass die Großmutter ihnen nie Märchen erzählt hatte, Eleni hingegen schon Geschichten schenkte, als diese noch zu klein war, sie überhaupt zu verstehen.
Eleni und Lefti wuchsen prächtig heran, sie waren gesund und kräftig. Yiayia Maria achtete gut darauf, dass sie nie der Zugluft ausgesetzt waren – und nichts stand einer späteren Hochzeit der beiden im Weg. Nichts, bis auf Yiayia Marias schlechtes Gewissen. Wann immer sie dem Mädchen in die Augen blickte, fragte sie sich, ob es rechtens war, dass Eleni nur geboren worden war, damit ein Knabe eine gute Partie machte. Und wenn sie vertraut miteinander spielten, dachte die Großmutter daran, dass die beiden auch Cousin und Cousine waren – was, wenn ihre Urenkel mit Schweineschwänzchen auf die Welt kämen?
Doch in dieser unglückseligen Frühlingsnacht neunzehnhundertsechsundfünzig, nachdem die alte Frau sieben Jahre lang auf ein Zeichen gewartet hatte, hatte die heilige Paraskevi im Traum die Hand der siebenjährigen Eleni genommen und sie in die Hand des elfjährigen Lefti gelegt, während rundherum Sonnenblumen aus dem Boden wuchsen, sich endlos vermehrten und ihre Köpfe in Richtung der Heiligen wandten, als richteten sie sich nach der Sonne. Und während Maria Kouzis mitten in der Nacht Blumen aus dem Garten rupfte, um die Ikone zu schmücken, liefen ihr Glückstränen über die faltige Haut, weil sie die Zukunft der Familie und den Fortbestand des Erbes gesichert sah. Die Enkelkinder würden heiraten, sie würden die Familie in Varitsi zu erneutem Erstarken führen. Nun konnte die Zeit des Friedens beginnen, von der sie träumte, seit sie als junge Frau vom Meer aus die Rauchschwaden über ihrer Heimat gesehen hatte.
Nur an eine Sache dachte sie in ihrer Erleichterung nicht: dass Sonnenblumen die Blumen der unglücklichen, hoffnungslosen Liebe waren. Das würde ihr erst ein Jahrzehnt später einfallen, als bereits alles zu spät war.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags entnommen aus: „Makarionissi oder Die Insel der Seligen“ von Vea Kaiser, © 2015 by Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln. Alle Rechte vorbehalten. Fotos: Porträt Vea Kaiser, ©Ingo Pertramer. Weitere Bilder: Privatarchiv Angeliki Marangou, ©diablog.eu.
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Und das Literaturhaus München freut sich sehr auf die Lesung mit Vea Kaiser am 16. Juni – hier alle Informationen: https://www.literaturhaus-muenchen.de/veranstaltung/items/3107.html
Ich habe es gerade auf Kreta gelesen, berührend, Geschichte erlebend im Mikrobereich sowie den großen Spuren der griechischen Neuzeit mit ihren Verwerfungen und Widersprüchlichkeiten lesend folgend. Muss verbreitet und vor allem gelesen werden.
Einen großen Dank an die Autorin
Tolles Buch ! (Und tolle Rezension!)
Vielleicht können wir hier in Berlin auch eine Lesung machen (studio_Berten)…
Wenn es Corona-bedingt besser wird?
Εντάξει ?