Veria: Stolpersteine gegen das Vergessen

Ein Vorschlag von Yorgos Liolios, Jurist und Schriftsteller

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Von den 27 griechisch-jüdischen Gemeinden der Vorkriegszeit existieren heute nur noch neun. Yorgos Liolios erzählt diablog.eu die Geschichte einer von den Nazis ausgelöschten Gemeinde – die seiner nordgriechischen Heimatstadt Veria. Schon lange engagiert er sich für die Stärkung der Erinnerungskultur und leitet eine Bürgerinitiative, die sich für die Verlegung von Stolpersteinen in Stadtteilen stark macht, in denen jüdische Bürger gelebt und gearbeitet haben, bevor sie nach Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet wurden.

Veria ist eine antike Stadt, die in der hellenistischen Zeit von großer Bedeutung war und in der römischen Zeit sogar eine wichtigere Stellung innehatte als die benachbarte Stadt Thessaloniki. Auch wenn sie im Byzantinischen Reich und in der langen osmanischen Periode an Bedeutung verlor, blieb sie zu jeder Zeit eine Stadt, wurde nicht zum Dorf, verschwand nicht von der Bildfläche wie andere Orte im Laufe der Jahrhunderte: Sie ist am selben Platz und unter demselben Namen erhalten geblieben. Heute ist Veria mit etwa 60.000 Einwohnern eine Satellitenstadt des nur 75 Kilometer entfernten Thessaloniki.

  • Häuser mit Erkern

(Bilder aus Veria-Barbouta, dem jüdischen Viertel, aus den 1920er-Jahren und eine jüdische Hochzeit in Veria aus der Vorkriegszeit, ©Archiv Y. Liolios/©Archiv Andrew Marcus, ©Archiv Reuven Emanuel)

Jüdisches Leben war in der Stadt seit Menschengedenken präsent. Man nimmt an, dass jüdische Bauten in Veria bereits im späten Hellenismus existierten; mit Gewissheit gab es sie aber in der römischen Zeit, u.a. eine Synagoge, was zu der Annahme führt, dass die Gemeinde viele Mitglieder zählte. Die jüdische Gemeinde Verias bestand während der byzantinischen Zeit und bis in die Mitte des 15. Jahrhunderts; dann erließ der türkische Sultan ein Edikt zur Zwangsumsiedlung: Die Juden Verias wurden, wie alle anderen Bevölkerungsgruppen der kurz vorher durch die Osmanen eroberten Gebiete gezwungen, ins zerstörte Konstantinopel umzusiedeln, um die Stadt mit neuem Leben zu erfüllen.

Eine neue Welle jüdischer Siedler, diesmal von der Iberischen Halbinsel, ließ sich Mitte des 16. Jahrhunderts in Veria nieder. Das heute noch (wenn auch in nicht zufriedenstellender Weise) erhaltene jüdische Viertel mit seiner Synagoge stammt aus dieser Zeit. So existierte in Veria seit dem 16. Jahrhundert eine blühende spanischsprachige Gemeinde, die 1943 ausgelöscht wurde, als die Nazis im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und in anderen Todeslagern 78% der jüdischen Vorkriegsbevölkerung der Stadt vernichteten. Das waren 460 aus einer Gesamtbevölkerung von etwa 600 Personen.

In den letzten Apriltagen 1943 feierte die gesamte jüdische Welt das Pessachfest. Trotz der widrigen Umstände der deutschen Besatzung bereiteten sich auch die Juden in Veria auf das große Fest vor, das am 1. Mai 1943 seinen Höhepunkt erreichen sollte.

  • zwei Mädchen vor Haus mit Hakenkreuz

(Veria in der Vorkriegszeit: Innenansicht der Synagoge Veria und der letzte Rabbiner Azaria Chanania Sabetai – ©Archiv Sokaris Mavrommatis/©Israelitische Gemeinde Thessaloniki; Nachkriegs-Veria: Grundschule, requiriert von griechischen NS-Kollaborateuren, an der das Hakenkreuz auch nach der deutschen Besatzung prangte – ©Archiv Mary Nazlidou-Yannis Tsirakoglou)

Um den 29. April 1943 zwangen aber die Nazis die jüdische Bevölkerung von Veria überraschend, in das vorwiegend jüdische Viertel Barbouta zu ziehen und sich auf eine „Umsiedlung nach Polen“ vorzubereiten. Die Absperrung des jüdischen Viertels diente dazu, eine Art Übergangsstation für drei Tage zu schaffen, um die Deportation der Insassen zu erleichtern. Sie wurde minutiös vorbereitet, um einen reibungslosen Ablauf vom benachbarten Thessaloniki aus bis ins ferne Polen zu gewährleisten. Waggons und Züge hatten nur eine bestimmte Kapazität. Das erforderte ein präzises Zusammenspiel der Maßnahmen, um die Todgeweihten „korrekt zu verladen“.

Die Juden Verias bereiteten Säcke mit Essen, Kleidungsstücken und allem Notwendigen vor. Sie nähten Goldmünzen und Schmuck in Kleider ein und versuchten, Erinnerungen und Mühen eines ganzen Lebens auf weniger als 20 Kilogramm zu reduzieren. So viel Gewicht durfte jeder mit sich führen, Schmuck und Wertgegenstände sollten zur „Lagerung gegen Quittung“ übergeben wurden. Das Geld, das jeder selbst für seine Bahnfahrkarte zu zahlen hatte, musste gegen Schecks in polnischer Währung eintauscht werden, die jedoch ohne Gegenwert waren. Das Rabbinat in Thessaloniki empfahl, Hochzeiten zu schließen, weil verheiratete Paare in Polen bevorzugt behandelt würden. So kam es in dieser Zeit in allen Gemeinden innerhalb der deutschen Besatzungszone zu einer Flut von Eheschließungen.

Diese drei Tage gaben den Befehlsvollstreckern aber auch die Gelegenheit, sich an den Wertsachen der verängstigten jüdischen Bevölkerung zu bedienen, die für die lange Reise zur angekündigten „Umsiedlung nach Polen“ vorbereitet waren. Unbeschreibliche Szenen von Demütigung, Gewalt und Grausamkeiten ereigneten sich auf Kosten der in die Enge getriebenen Menge.

Die Augenzeugin Myriam Mordechai, die mit ihrer Familie einige Tage zuvor Zuflucht bei christlichen Nachbarn – kaum hundert Meter von ihrem einstigen Haus entfernt – gefunden hatte, hörte aus ihrem Versteck die Schreie und Wehklagen ihrer Glaubensgenossen. Aus der Ferne musste sie miterleben, wie ihre alte und kranke Mutter und ihre vier Schwestern verschleppt wurden, eine davon Mutter von fünf Kindern. „Ich hörte ihr Klagen und konnte nichts ausrichten. Ganz außer mir fing ich an Rettet meine Mutter! zu schreien – aber natürlich konnte ich nichts dagegen tun. Die Nazis steckten den Unglückseligen heiße Eier in die Achselhöhlen, fesselten sie und schlugen unbarmherzig zu“, erzählte sie viele Jahre später in ihren Memoiren.

  • Familienfoto mit zwei Kindern

(Besetztes Veria, die Hauptstraße – ©Kostas Parashos; Jüdische Familie aus Veria nach dem Zweiten Weltkrieg – ©Parthena Tsahouridou; Heutiges Veria, jüdische Grabplatte im aufgegebenen Friedhof – ©Archiv Y. Liolios)

Die entsetzten Schreie der Opfer waren in der ganzen Nachbarschaft zu hören. Diese in ihr Gedächtnis eingebrannten Bilder sollten Mordechai lebenslang verfolgen: „Am 1. Mai kann ich nicht mehr alleine sein. Ich verreise, fahre irgendwo hin und versuche, nicht daran zu denken. Und obwohl seitdem so viele Jahrzehnte vergangen sind, leben die Erinnerungen in mir weiter und lassen mich nicht los.“

Nach drei Tagen strenger Isolation wird die gesamte jüdische Bevölkerung Verias am 1. Mai 1943 zusammengetrieben. Myriam beobachtet aus ihrem Versteck tragische Szenen: „Am Tag der Deportation sah ich durch einen Spalt, wie eine Schwangere ihr Kind gebar, während die Nazis sie schubsten und schlugen. Sie kreischte. Es war Buena Pipanó, Ehefrau des Azarias. Mein Bruder Asser war Augenzeuge, wie in der Nähe der Synagoge zwei Männer von einem Balkon in den Tod sprangen.“

Die Nazis stellten die Ordnung wieder her und steuerten die Menge mit Peitschenhieben und mit Unterstützung des jüdischen Ordnungsdienstes vom Viertel Barbouta zum Bahnhof der Stadt. „Eine verängstigte Menge, beladen mit Kleidersäcken und dem Nötigsten für die lange Reise, mit Kindern im Arm, mit untergehakten alten Männern, Frauen und Kranken – unter ihnen auch Ionas Daniel, der beinamputierte Soldat aus dem jüngsten, siegreichen Krieg gegen die italienischen Invasoren – wurde schließlich wie eine Herde von Tieren mit Gewalt und Schlägen in die Viehwaggons getrieben, die sie nach Thessaloniki bringen sollten.“

Die gesamte jüdische Bevölkerung Verias wird so ins Baron-Hirsch-Ghetto im Bereich des alten Bahnhofs von Thessaloniki verbracht, das als Durchgangsstation zu den deutschen Konzentrationslagern diente. Wenige Tage später startete der fünfzehnte von insgesamt 19 Deportationszügen zur alptraumhaften Reise von Thessaloniki nach Ausschwitz.

Keiner der Juden Veria überlebte. Keiner von ihnen kehrte je zurück.

Die jüdische Gemeinde Verias war damit ein für alle Mal ausgelöscht. In der heutigen Stadt leben nur noch zwei Juden. Zeugnisse der ehemaligen Präsenz sind die Synagoge, Fragmente des alten jüdischen Viertels und einige Grabplatten auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof – all das im Schatten der Göttin Lethe, im Zuge des Vergessens unseres kollektiven Gedächtnisses und Bewusstseins.

Mein erster Versuch, diesen unbekannten Aspekt der Stadtgeschichte Verias aufzuzeichnen, war das Buch „Schatten der Stadt – Rekonstruktion der Judenverfolgung in Veria“ (Eurasia, Athen 2008), ein Tauchgang in die trüben Gewässer der Erinnerung. Dazu hatten mich erst einmal Andeutungen und Nebenstränge der eigentlichen Geschichte getrieben, die gut versteckt hinter verschlossenen Türen schlummerten. Durch systematische Recherche in Archiven und durch Zeitzeugenberichte von Überlebenden der Verfolgung habe ich den Versuch unternommen, die Ereignisse und den Zeitgeist so zu rekonstruieren, dass die 460 Opfer der jüdischen Gemeinde Verias ihre Namen zurückbekommen.

Diese Toten wurden nicht ordnungsgemäß bestattet, ihre Asche wurde durch einen Schornstein in alle Winde verstreut. Verias Toten sind unser aller Toten, unabhängig von unserer Zugehörigkeit zu einer Glaubens- oder Weltanschauungsgemeinde. Ihnen steht eine Grabstätte zu, so wie es für jeden Verstorbenen selbstverständlich ist. Und sei es eine rudimentäre Stelle, ein „Stolperstein“, der eine kleine Inschrift trägt. Auf einen kleinen Bronzestein werden Name, Geburtsdatum und -ort, Todesdatum und -ort gesetzt: „Wir bieten den Verschwundenen eine menschenwürdige Beisetzung – ein zutiefst menschliche Handlung der heute Lebenden“ (Kostas Nasikas, Psychoanalytiker).

  • Geigerin in dunklem Raum mit Kerzen

(Hafen von Thessaloniki, Stolpersteine; Heutiges Veria, Außenansicht der Synagoge – ©Archiv Y. Liolios; Veria am 16.05.2014, Gedenkveranstaltung in der Synagoge „460 Kerzen – 460 Geschichten (Ausleuchtung der Schatten im jüdischen Viertel)”, Konzept und Kurator Y. Liolios – ©Reuven Emanuel)

Diese ungewöhnliche „Bestattung“ geht auf den deutschen Künstler Gunter Demnig zurück, der die Idee der „Stolpersteine“ entwickelt hat. Es handelt sich um 10 x 10 cm große Betonwürfel, die mit einer Bronzeplakette überzogen sind. Darauf stehen die persönlichen Daten von Personen, die von den Nazis verfolgt und umgebracht wurden. Die Stolpersteine werden an öffentlichen Orten eingelassen – vor dem letzten Wohnort oder Arbeitsplatz der Verfolgten, bevor sie von den Nazis verhaftet, in Todeslager geschickt oder auf andere Weise ermordet wurden. Das Projekt startete 1992. Bis heute sind in 22 europäischen Ländern mehr als 56.000 Stolpersteine gesetzt worden, einige davon auch in Thessaloniki und auf Rhodos.

Ich persönlich bin kein Anhänger von Holocaustdenkmälern im klassischen Sinn, so wie sie heute errichtet werden. Ich bin der Ansicht, dass wir mehr an einer systematischen und beharrlichen Arbeit interessiert sein sollten, d.h. an der Klärung und Offenlegung der jüdische Präsenz und des Holocaust in der Stadt Veria. Dazu können verschiedene Instrumentarien dienen, hauptsächlich jedoch Erziehung und Bildung. Gegen die Errichtung eines Holocaustdenkmals in Veria würde ich mich zwar nicht aussprechen, aber wenn, sollte es an einem zentralen Teil der Stadt stehen und nicht „versteckt“ in einer abgelegenen Ecke. Denn Sinn ein solches Denkmals – und jedes Denkmals – sollte seine Interaktion mit den vorübergehenden Einheimischen oder Besuchern der Stadt sein.

Ich befürchte, dass Holocaustdenkmäler oft nur aufgestellt werden, um sagen zu können, man habe seine Pflicht und Schuldigkeit getan. Was mich stattdessen ansprechen würde, wäre eine Initiative, die in erster Linie von der örtlichen Gemeinde selbst ausgeht. In Veria ist bereits eine solche Bürgerinitiative aktiv. Jeder Passant, der über einen dieser Steine „stolpert“, ist dann aufgerufen, seine eigene Art der Erinnerung aufzubauen, sie zu reflektieren und sich zu sensibilisieren.

In einer Zeit, in der antisemitische Äußerungen zum Alltag avancieren und zu Hass und Rassismus aufrufen, sind diese Stolpersteine wie kleine Nadelstiche, die zum Nachdenken anregen. Sie bilden „nicht nur ein Bollwerk gegen die Anonymität des Todes“ (Nikos Davettas, Schriftsteller), sondern auch eine tiefernste Ermahnung an „die Gefahr einer Aggressionsverschiebung“ (André Léon Blum, Jurist und Schriftsteller).

Viele Zeitgenossen betrachten diese Getöteten als untrennbaren Teil der Bürgerschaft der Stadt und möchten ohne Vorurteile über die damaligen Ereignisse in Veria diskutieren. Für die Realisierung der Stolperstein-Projekts sammeln sie Unterschriften auf der elektronischen Plattform (https://secure.avaaz.org/el/community_petitions/Dimos_Veroias_Lithoi_kai_ohi_Lithi_sti_Veroia/) und auf der entsprechenden Facebook-Seite (https://www.facebook.com/lithoimnimis.stolpersteine/) und sind darüber hinaus im ständigen Austausch mit Mitbürgern und den städtischen Behörden, darin werden sie unterstützt von der Heinrich-Böll-Stiftung in Griechenland (https://gr.boell.org/en/categories/democracy-participation). Erstes Ziel ist es, 25 Stolpersteine ​​an Stellen zu platzieren, an denen unsere jüdischen Mitbürger ihre Reise ohne Wiederkehr antraten.

Text: Yorgos Liolios. Fotos: Y. Liolios, Kostas Parashos, Reuven Emanuel, Sokratis Mavrommatis und aus den Archiven Y. Liolios, Andrew Marcus, Reuven Emanuel, Israelitische Gemeinde Thessaloniki, Mary Nazlidou-Yannis Tsirakoglou, Sokratis Mavrommatis und Parthena Tsahouridou. Übersetzung: A. Tsingas. Redaktion: Michaela Prinzinger.

Weitere Informationen:
Kurzfilm von Yorgos Liolios: https://www.youtube.com/watch?v=g2kUg1zLDiE und das Buch von Yorgos Liolios „Schatten der Stadt“, nur in griechischer Sprache:

Buch-Cover

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1 Gedanke zu „Veria: Stolpersteine gegen das Vergessen“

  1. Eine notwendige Erinnerung – gerade für uns Deutsche. Wir dürfen nicht vergessen, auf welch unheilvolle Weise sich hier deutsche und griechische Geschichte gekreuzt haben. Diese Erinnerung schmerzt, macht betroffen – aber nur so entkommen wir dem wieder aufkeimenden Antisemitismus.
    Dank an Yorgos Liolios, dass er die Spuren der jüdischen Geschichte Verias gesichert und zum gegenwärtigen Thema gemacht hat!

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