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Ich weiß nicht mehr die Nacht: Elytis-Zitat und Titel eines Romans von Michael Roes. Stefanos, Grieche dritter Generation in einer deutschen Provinzstadt, und seine deutsche Stiefmutter durchleben den Mythos von Hippolytos und Phaidra. diablog.eu-Mitarbeiter Spyros Moskovou hat einen Ausschnitt aus dem 2008 erschienenen Text ins Griechische übersetzt.
Hippolytos in der deutschen Provinz
Eine Geschichte von Sehnsucht und Verlangen in einer deutschen Kleinstadt, die Suche nach Glück und dessen Scheitern. Die Unausweichlichkeit des Schicksals setzt Michael Roes in diesem dichten Roman spannungsvoll und literarisch genau in Szene.
Stefanos wächst auf in einer deutschen Kleinstadt. Die banale Tristesse des Alltags versucht er durch ein Doppelleben zu durchbrechen: Tagsüber treibt er Sport mit einem philosophierenden Trainer in einer heruntergekommenen Turnhalle, die Nächte verbringt er als unnahbarer Barkeeper in einer Cocktailbar. Seine alternde Stiefmutter ekelt sich vor ihrem sich verändernden Körper und sehnt sich nach der Jugendlichkeit Stefanos. Ihr Sehnen wird zu Verlangen und ein tragisches Schicksal von antikem Ausmaß bahnt sich an.
Mit dem Auge des Ethnologen und der poetischen Kraft des Dichters führt Michael Roes den Leser durch eine spannende und betörende Geschichte voll literarischer Bezüge, in der er den Phädra-Mythos heraufbeschwört. Die Grenzgänge und Erkundungen zwischen Generationen, Kulturen, Lebensentwürfen und den Geschlechtern scheitern schließlich am Unvermögen der Verständigung. In all der tragischen Ausweglosigkeit lässt Michael Roes überraschend Momente der Hoffnung und des Glücks aufschimmern.
Kapitel Vierzehn
Ich sehe wehende Wäschestücke, weiße Hemden und Laken, sagt das goldhaarige Mädchen. Ich sehe schwarzgoldene Käfer, Myriaden, die aus einem glibberigen Berg weicher weißer Eier schlüpfen und von der Sonne geblendet erste taumelnde Flugversuche starten, sagt der Junge mit dem Pferdeschwanz. Ich sehe Tristan mit seinem Taschenmesser silberne Schuppen von den Elritzen schaben, sagt das teerhaarige Mädchen. Ich sehe Frau Tuillot, meine Vermieterin, mit ihren grauen brüchigen Fingernägeln meine Rückgratrinne entlang kratzen. Ich höre Hunde bellen und spüre, wie sich unter meinem kalten zitternden Körper eine warme Lache Urin auf dem Bettlaken ausbreitet, sagt der Junge mit dem Igelschnitt.
Ich höre ein dumpfes, erderschütterndes Stampfen, ein wütender Arbeitselefant, der versucht, sich von den Ketten, die um seine mächtigen Säulenbeine geschlungen sind, zu befreien, sagt der Junge, der wie Beowulf aussieht. Ich sehe silbergraue Lamellenjalousien, die auf- und zugeklappt werden und zwischendurch den Blick auf ein blautapeziertes Schlafzimmer freigeben, in dessen Mitte ein zerwühltes Himmelbett mit zarten Gazevorhängen und weißen Seidenbezügen steht, sagt der junge Jules aus Truffauts gleichnamigem Film. Jetzt zieht Frau Tuillot ihre löchrigen Seidenstrümpfe aus und entblößt kalkweiße krampfadernmarmorierte Beine, sagt der Igel.
Ich sehe den kauernden Gestank von Kartoffelfäule, sagt Pechmarie. Ich sehe reibende und wichsende Konsonantenstacheln, die wie ein alter Hornkamm durchs fettige Haar fahren und die grauen Hautschuppen zusammenharken, sagt der Igel. Ich sehe einen Bronzebug, nein, das ganze Schiff silberbeschlagen, auf den Kies des Strandes knirschen, sagt Goldmarie. Ich sehe Platitüden angestrengt in Poesie zergehen, sagt Pechmarie.
Ich sehe eine dichtblühende Weißdornhecke und durch ihre schmalen Ritzen ein junges Paar, ja, Ezra und Aideen, sich küssen, sagt Goldmarie.
Das siehst du nicht in den Wellen! schimpft Pechmarie. Du hast uns nachspioniert!
Da ist ein Elefant, weiß von Maden, sagt Beowulf.
Da sind weiße Wörter, wie Segelschiffe, an der ganzen Küste entlang, sagt Goldmarie.
Wo siehst du denn hier eine Küste, sagt Pechmarie.

Mußt du denn alles kaputtmachen, sagt Goldmarie, mir reicht’s! steht auf und kommt zu mir herübergeschlendert. Mein Buch liegt immer noch unaufgeschlagen in meinem Schoß. Ich ignoriere das Mädchen und die ganze Bande, die sich auf meinem Lieblingsplatz breit macht, und starre beharrlich auf den Fluß.
Nun, Lauscher im Küchengarten, was siehst du im geputzten Silber?
Ich habe nicht gelauscht. Ihr habt so laut gesprochen, daß der Wind eure Worte da herübergeweht hat.
Ah, der Wind! Wir hätten wohl vorsichtshalber einmal kurz in die Luft spucken sollen. Komm, setz dich zu uns!
Danke, aber ich habe nichts gegen die Stille.
Nun komm schon, gib mir deine Hand. Und sei es nur unseretwegen, weil wir es nicht ertragen können, jemanden ganz allein zu sehen.
Ich bin ganz gerne mal allein.
Unsinn. Niemand ist gerne allein. – Sie ergreift meine Hand, hilft mir auf die Beine und führt mich zum Kreis der jungen Leute um das Feuer. Ich setze mich zwischen das Mädchen und den Jungen mit dem langen blonden Haar, das er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat. Der Junge reicht mir eine angebrochene Flasche Rotwein: Ich bin Tristan.
Ich heiße Stefan. – Aus Höflichkeit trinke ich einen kleinen Schluck aus der Flasche.
Goldmarie lächelt: Es scheint, als wäre dir unser Wein zu sauer.
Nein. Ich trinke halt nur sehr selten Alkohol.
Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, sagt Beowulf.
Du hast ja recht, dieses billige spanische Gesöff schmeckt erbärmlich. Ich habe da etwas Besseres. – Er läßt seinen Joint bis zu mir wandern.
Ich nehme die glimmende Tüte so ernst entgegen, als handle es sich um eine Friedenspfeife, mache einen tiefen Zug und unterdrücke den Hustenreiz.
Und deinen Tabak mag er offenbar auch nicht, sagt Goldmarie spöttisch.
Siehst du denn nicht, daß er Sportler ist, weist Pechmarie sie zurecht. Schau dir nur einmal seine Oberarme an!
Ein Sportler, der liest?
Vielleicht benutzt er das Buch nur als Hantel.
Ich weiß nicht recht, was ich von diesem spöttischen Wortwechsel halten soll. Doch ehe ich aufstehen und fortgehen kann, fragt Tristan mich ernst: Was liest du denn da?
Gedichte von Elytis.
Lies vor. Ja, wirklich, lies uns daraus vor! Ich kenne den Alten zwar nicht. Aber es gibt ja immer noch was Neues zu entdecken.

Wollen sie mich zum Narren halten? Unsicher blicke ich in die Runde. Aber was war denn ihr Assoziationsspiel anderes, wenn nicht ein langes Gedicht an den Fluß, der hier, gemächlich auf dem Weg zur Grenze, jeder Drachenfelslieblichkeit und Loreleyromantik überdrüssig scheint. Breit und träge ist er wie der Niger bei Timbuktu. Und der milchblaue Himmel weit wie über der Wüste. Nichts steht dem Blick im Weg.
Wirklich, unterstützt Goldmarie, nun ebenfalls ganz ernst, Tristans Wunsch. Du würdest uns damit eine Freude machen.
Mein Lieblingsort. Hier habe ich immer laut gelesen. Vergiß dieses merkwürdige Publikum. Lies für den Fluß. Elytis hält auch ihren Spott aus, wenn sie sich denn einen Spaß mit mir machen wollen. Ich weiß nicht mehr die Nacht Furchtbare Anonymität des Todes Auf dem Grund meiner Seele wirft eine Sternenflotte Anker Abendstern — du Wächter im Leuchten eines blauen Windes einer Insel Die mich träumt Den Morgen von ihren hohen Felsen zu künden Meine beiden Augen treiben dich in die Umarmung des Sterns Meines wahren Herzens: Ich weiß nicht mehr die Nacht
Ich blicke verlegen in die Runde. Sie warten schweigend. Dann ergreift Goldmarie meine Hand und sagt: Das ist wunderschön, Stefan. Lies weiter.
Ich weiß nicht mehr die Namen einer Welt, die mich verleugnet Klar lese ich in Muschelschalen, Blättern, Sternen Mein Haß ist sinnlos auf den Wegen des Himmels Es sei denn, er wäre der Traum, der mich wieder Weinend das Meer der Unsterblichkeit queren sieht Abendstern, unter dem Bogen deines goldenen Feuers Weiß ich die Nacht, die nur Nacht ist, nicht mehr
Nach einer Weile fast quälender Stille fragt Goldmarie endlich: Schreibst du auch selber Gedichte?
Ich weiß nicht. Manchmal fällt mir ein guter Satz ein. Aber ich lausche immer auf das, was überflüssig ist, was ich weglassen kann. Und am Ende bleibt nichts übrig.
Vielleicht sollte man nur das aufschreiben, was man wirklich erlebt hat.
Sicher. Aber woher weiß man, was man wirklich erlebt hat, ehe man es nicht aufgeschrieben hat?
Sie rückt näher an mich heran, ellbogennah, auf der anderen Seite wärmt mich Tristan und von vorne die tiefstehende Sonne, goldbeschienene Gesichter im geschlossenen Kreis, der die herandrängende Nacht fernhält.
Nie habe ich Freunde mit nach Hause gebracht. Dad ist ein Tavernenbesitzer, den nichts glücklicher macht, als ein großzügiger Gastgeber zu sein. Anna lebt in ihrem Iglu, in dem jeder Fremde ein Eindringling ist. Mich lassen sie herumstreunen, die Laken vollwichsen, ihnen das Geld aus dem Portemonnaie klauen, das alles interessiert sie nicht. Kein Wunder, daß ich mich nach Mauern sehne. Hat mein Alter je eine Krawatte getragen? Ich binde sie mir freiwillig um. Gehe niemals mit ungeputzten Schuhen aus dem Haus. Streichen wir Freiheit aus unserem Wörterbuch. Was soll das sein, Freiheit? Nicht mal auf meiner Augeninsel wäre ich frei. Müßte essen, trinken, schlafen, Sklave meines Körpers.
Träume vom Ficken können nur in den Jungen aufsteigen, die mit den Händen über der Bettdecke einschlafen mußten. Ich träume davon, wie ich von den Ringen stürze und mir das Genick breche. Statt Wichse spritzt Blut auf das Laken. Braucht ihr wirklich eine Begründung, warum ich mich nicht nach Gesellschaft sehne?

Ich schlage die Augen auf. Mein Kopf schmerzt, vom Kiffen oder vom billigen Wein. Im Westen glimmt eine erste Röte am Himmel. Es ist früher Morgen. Ich liege zwischen Goldmarie und Tristan, von beiden eng umschlungen, im feuchten nachtkühlen Gras. Was ist in dieser Nacht passiert? Vergeblich versuche ich mich zu erinnern.
In meinem Kopf glüht eine Jagdszene auf einer steinzeitlichen Höhlenwand. Sobald das Feuer niedergebrannt war, ist es kalt geworden. Sie haben sich aneinander gekuschelt, wie Löffelchen in der Bestecklade, um sich gegenseitig zu wärmen, Tristan in seiner Sommershorts, Goldmarie in ihrem dünnen Pullover auf der nackten Haut. Ich halte sie umschlungen, während ich im Rücken die Wärme Tristans spüre. Alle sind zusammengerückt und haben es sich auf der Uferwiese bequem gemacht
Anstatt zu schlafen, bin ich plötzlich hellwach. Meine Hand unter Goldmaries Pullover, bleibt unendlich lang auf ihrem Bauch liegen, bevor sie ihre warme weiche Haut zu erkunden beginnt. Ich folge ihren Bewegungen, als sei diese Hand kein Teil von mir. Auf ihrer Brust bleibt sie ruhen, eine rauhe schwielige Schale. Darin gleitet sie wieder herunter über den entspannten Bauch, so vorsichtig, als wäre meine Hand aus Sandpapier, bis sie den Hosenbund berührt
Sie dreht sich zu mir um, streichelt mein Gesicht, drückt einen Kuß auf jedes Auge, damit ich sie endlich schließe, während sie nun meinen Körper erkundet, mit Mund und Zunge. Sie schiebt mein T-Shirt hoch bis zum Schlüsselbein, erforscht mit ihren Lippen meine Brust, drückt einen Kuß auf jede Brustwarze, umspielt sie mit ihrer Zunge, bis sie sich aufrichten und hart werden, und gräbt dann ihre Nase in den verschwitzten Spalt zwischen Brust und Achsel und atmet den komplizierten Duft aus Furcht, Mut, Erregung und Märtyrertum tief in ihre Lungen
Während ihr Gesicht in meiner Achsel ruht, spüre ich den fremden Jungen in meinem Rücken, spüre den fremden und mir doch vertrauten Körper in allen Einzelheiten, Tristans ruhiger Atem in meinem Nacken, seine schmächtige Jungenbrust und seinen weichen Bauch, der sich in meinen Rücken wölbt, seine Lenden, die sich an meine Arschbacken schmiegen, seine nackten, von goldblondem Flaum bedeckten Beine an meinen Schenkeln, die knochigen Fußrücken in der Höhlung meiner Fußsohlen. Ich nehme Tristans Hand und lege sie zu Goldmaries auf meine zitternde Bauchdecke, bis die Spannung nachläßt und mein Atem sich beruhigt
Sie löst sich aus meiner Achsel, lächelt, als ich sie anblicke, küßt mir erneut die Augen zu und dreht mich sanft, aber bestimmt auf die andere Seite, so daß ich nun ihre weichen warmen Rundungen in meinem Rücken spüre. Ihre Hand berührt wieder meinen Bauch, bleibt dort aber nicht liegen, sondern wandern tiefer, öffnet geschickt die Knöpfe meiner Jeans und schlüpft in das warme schwitzende Nest aus Schamhaar
Ich öffne die Augen, ich kann nicht anders, alles ist in Aufruhr, nun liege ich Gesicht an Gesicht neben diesem Jungen unter dem sternenklaren Himmel, unser beider Atem vermischt sich. Während ich Tristans Züge mustere, erkunden Goldmaries erfahrene Finger das geheimnisvolle Gelände, dieses dunkle Dickicht aus schwarzem Haar mit dem ängstlichen Tier darin. Äußerst vorsichtig nähert sie sich ihm
Ein weiches Gesicht hat dieser Junge, strohblondes Haar, das ihm in die Stirn fällt, und blonden Flaum auf der Oberlippe und am Kinn, die helle Haut mädchenhaft glatt, bis auf kleine Pickel und Mitesser an den Nasenflügeln, die Lippen rot und voll, als seien sie wundgebissen, der Mund leicht geöffnet. Es ist wie im Schlaf, vielleicht ist es der Schlaf, der Gott des Schlafes, den mein Mund berührt. Ich schmecke ein Aroma von billigem Tabak und saurem Wein auf seiner Zunge, darunter aber den Geschmack von Speichel und Salz, nicht unangenehm, doch fremd, weil es etwas Vertrautes und zugleich Verbotenes enthält. Denk nicht darüber nach!
Goldmarie umspielt mit ihren Fingerkuppen die harte glatte Eichel, verteilt die herausquellenden Tröpfchen, rasch, eines nach dem anderen. Tristan hält die Augen geschlossen. Schläft er noch? Ich löse mich von den beiden, sie rühren sich nicht, stehe auf, knöpfe mir die Jeans zu und stapfe fröstelnd durch den kühlen Morgen zu meinem Motorrad. Ich rolle es eine gute Wegstrecke fort von den Schlafenden, bis hinter den Deich, ehe ich es starte.

Michael Roes, 1960 in Rhede am Niederrhein geboren, aufgewachsen in Bocholt. Mehrjährige Aufenthalte im Jemen, Israel und Amerika bildeten den Hintergrund für viele seiner Bücher. Jüngste Auszeichnung: Alice Salomon Poetik Preis 2006. Michael Roes lebt in Berlin.
Text: Michael Roes. Ausschnitt mit freundlicher Genehmigung des Verlags entnommen aus: Michael Roes: Ich weiß nicht mehr die Nacht. Roman. Berlin, Matthes & Seitz 2008. Fotos: Oliver Killing, Michaela Prinzinger.
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