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Der Erzählband “Wem die Hölle gehört” von Konstantinos Tzamiotis bildet ein Mosaik der griechischen Wirklichkeit der letzten zwei Jahrhunderte. Lesen Sie eine Kostprobe auf diablog.eu!
Die Geschichte eines Baumes
An dem Tag, an dem sein erster Sohn geboren wurde, pflanzte der Türke Murat Bey im Hof seines Herrenhauses eine Kastanie und hoffte, lange genug zu leben, um im Alter, aller Sorgen ledig, ihren Schatten genießen zu können. Doch es brach ein Krieg aus, der all seine Pläne zunichte machte und ihn zur Flucht zwang und dazu, sein ganzes Vermögen für einen Kanten Brot an einen Armenier zu verkaufen. Dieser Armenier, seinerzeit ein berühmter Goldschmied, hatte kein Glück, ging bankrott und musste sein ganzes Hab und Gut innerhalb weniger Jahre an einen schwerreichen jüdischen Bankier überschreiben, bei dem er hohe Schulden hatte. Dann brach ein neuer, noch größerer Krieg aus, die Familie des jüdischen Bankiers wurde aus ihrem Haus gejagt und keiner von ihnen tauchte jemals wieder auf. Der deutsche Verwalter dieser Region, der sich das prächtige Herrenhaus mit der mittlerweile riesigen Kastanie als Wohnsitz ausgesucht hatte, konnte sich kaum wie ersehnt daran erfreuen, da der Krieg einen anderen Verlauf nahm und auch er zu einer überstürzten Flucht gezwungen war. Sein griechischer Mitarbeiter, ein opportunistischer Anwalt, ergriff die Gelegenheit der Befreiung beim Schopf und riss es sich unter den Nagel. Es dauerte nicht lang und ein paar Jahre später gelang es ihm, es teuer an einen hellsichtigen Industriellen aus Alexandria zu verkaufen, der sich rechtzeitig entschlossen hatte, das Ausland zu verlassen, bevor auch dort Unruhen ausbrachen, und mit seinem unangetasteten Vermögen in sein Geburtsland zurückzukehren. Die Kinder des zugereisten Fabrikbesitzers erwiesen sich jedoch als träge und gleichgültig und sahen sich wenige Jahre nach dem Tod ihres Vaters bei einer günstigen Gelegenheit genötigt, das Haus, in dem sie aufgewachsen waren, an einen russischen Unternehmer zu verkaufen. An den wenigen Sommertagen, die dieser russische Unternehmer aufgrund seiner Verpflichtungen im tiefen Schatten der inzwischen uralten Kastanie in seinem Hof verbringen kann, liest er die besorgniserregenden Zeitungsmeldungen, die von einem ungehinderten Eindringen der Chinesen in den kommenden Jahren sprechen.
Text: Konstantinos Tzamiotis. Entnommen aus dem Erzählband „Wem die Hölle gehört“, Metaichmio-Verlag 2019. Übersetzung: Michael Jaskulewicz, Lektorat: Michaela Prinzinger. Teaser-Foto: Nelly Tragousti.
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