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Vierzehn Autorinnen und Autoren aus Griechenland werfen mit Erzählungen und Novellen aus Werken, die in den Jahren 2010 bis 2020 mit dem jährlichen Literaturstaatspreis ausgezeichnet wurden, einen sehnsüchtigen, ironischen, melancholischen, experimentellen Blick auf ihre Heimat, die hier ganz anders erscheint als in den Hochglanz-Touristenbroschüren.
Die Anthologie umfasst Prosawerke der folgenden Autorinnen und -autoren: Elissavet Chronopoulou, Giannis Efstathiadis, Oursoula Foskolou, Vasileia Georgiou, Christos Ikonomou, Maria Kougioumtzi, Panagiotis Kousathanas, Yorgos Kyriakopoulos, Christos Kythreotis, Kostas Mavroudis, Andreas Mitsou, Giannis Palavos, Ilias Papamoschos und Ersi Sotiropoulos. Die meisten von ihnen haben bereits vor ihrer Auszeichnung ein reiches schriftstellerisches Werk geschaffen, aber es sind auch drei Debütant:innen darunter, die mit dem Staatspreis für Erstlingswerke ausgezeichnet wurden. Die Texte wurden übersetzt von Birgit Hildebrand, Ulf-Dieter Klemm, Elena Pallantza mit der Gruppe LEXIS und Michaela Prinzinger.
diablog.eu präsentiert aus dem Sammelband die Erzählung
41
von Kostas Mavroudis
Am 3. Juli 1958 reiste ein älterer Herr – ruhevoll und soigniert wie manche Menschen aus den alten Tagen – in die Sommerfrische auf eine ägäische Insel. Frühmorgens und am späten Nachmittag saß er zumeist mit einem Buch unter einem mächtigen Sonnenschirm im letzten Café an der Hafenpromenade, ab und an unterstrich er Sätze mit einem kurzen Holzbleistift. Er war groß, hatte ein rötliches Gesicht und hellblaue Augen und wurde stets von Stendhal begleitet, einem Hund mit schwarzem Fell, das von unregelmäßigen braunen Flecken durchsetzt war. Bei Stendhal dominierten die Merkmale des Pitbullterriers, doch er war zahm und sanft wie ein Lamm. Im Nu bewies er eine gute Spürnase für die Gerüche des Hotels und wusste sowohl die Kellner der Strandlokale zu unterscheiden als auch den Duft von Fichte und Glockenheide im Honig, der zum Frühstück serviert wurde. Gleich in den ersten Tagen seines Aufenthalts lernte der ältere Herr die Eltern eines kleinen Jungen kennen, sie spazierten gemeinsam die Promenade entlang, doch mit der Zeit entstand zwischen ihm und dem Kind eine ganz eigene Verbundenheit, die vor allem auf dem Nacherzählen bedeutender Bücher beruhte. Am Morgen des 13. Juli etwa – sie saßen wie immer im Café am Ende der Promenade – ließ Don José, der verliebte Dragonerleutnant, eine Zigeunerin namens Carmen entkommen, anstatt sie wegen eines schwerwiegenden Vergehens festzunehmen. Ihr zuliebe wurde er zum Schmuggler, doch als sie ihm einen Stierkämpfer vorzog, tötete er sie, geblendet von Leidenschaft. Zwei Tage später erfuhr Hans Castorp, ein junger Patriziersohn aus Hamburg, der seinen lungenkranken Cousin in einem Sanatorium in Davos besuchte, dass er an derselben Krankheit litt. Ganze sieben Jahre blieb er dort – es war zu Anfang des letzten Jahrhunderts – fasziniert vom kosmopolitischen Mikrokosmos des Sanatoriums und insbesondere von zwei herausragenden Intellektuellen und passionierten Disputanten mit aufklärerischen, respektive romantischen Ideen. Zuweilen trottete Stendhal etwas gelangweilt davon, auf den gepflasterten Kai zu. Da er den Erzählungen stundenlang zugehört hatte, ließ sich keineswegs ausschließen, dass er inzwischen die kurzen, einfacheren Namen erkennen konnte, den des berühmten Swann zum Beispiel („der eine wunderschöne Kokotte heiratete und zum Sinnbild literarischer Eifersucht wurde“)[1] oder den des charmanten und ehrgeizigen Theologiestudenten aus Verrières, der in Madame des Rênal, der Gattin des Bürgermeisters, eine abgrundtiefe Leidenschaft geweckt hatte (Rot und Schwarz). Von Ihm sprach der Erzähler viel häufiger als von einem anderen Helden, auf eine Art, die ein besonderes Interesse verriet – nicht seilen zog er dabei eine Augenbraue hoch, bis über den Rand der Brille. Der Skandal sei in der kleinen Stadt schnell ruchbar geworden. Man habe sich gezwungen gesehen, ihn in ein Kloster nach Besançon abzuschieben, wo er aber das Wohlwollen des Abtes gewinnen konnte. Von dort sei er dann nach Paris geschickt worden, als Sekretär des Marquis de la Mole. Es habe nicht lange gedauert, bis dessen Tochter Mathilde mit der Frucht ihrer Liebe schwanger wurde, doch der vorsorgliche Vater habe dem jungen Mann – mit Blick auf die Hochzeit – einen Adelstitel gesichert. Die Welt voller Verschwörungen, List und Lust besaß eine unerschöpfliche Vielfalt. Ein Buch folgte dem anderen, zahllose Erzählungen, die bald zu einer einzigen unendlichen Geschichte wurden. „Wozu brauchen wir denn so viele Bücher?“, fragte der Junge eines Tages. „Zu nichts”, erwiderte der ältere Herr nach kurzer Überlegung. „Sie sind Szenarien ihrer selbst.“ So verging die Zeit, bis eines Tages (der September war nicht mehr weit) der Bibliosaurier verkündete, er sei bereit, nach Athen zurückzureisen. Am Kai wurde die schwere Gangway zum Heck gezogen. Der Junge stellte sich an die Seite, streichelte Stendhal eine Weile, der ahnungslos dreinsah, und grüßte seinen Freund verlegen zum Abschied. Auch seine Eltern verabschiedeten sich, murmelten etwas vom Winter in der Provinz. Er ließ den Träger mit den Koffern vorgehen und folgte einem jungen katholischen Plärrer mit feinen Gesichtszügen, fast noch ein Knabe, der die steile Gangway hinauflief. Im selben Augenblick zeigte der örtliche Gemeindepfarrer auf den Hund und rief ihm lächelnd zu „Un chien peut bien regarder un évêque“,[2] und zwei junge Nonnen mit weißen, voluminösen Hauben, den sogenannten cornettes, winkten ihm zu. Der Junge, der den älteren Herrn nie wiedersehen (und in Zukunft auch nichts von ihm hören) sollte, blickte den Pfarrer geistesabwesend an und begann, mit dem Mund Buchstabe für Buchstabe – wie ein Schüler, der zögerlich etwas schreibt – den Namen des Theologiestudenten zu formen, jenes Liebeshelden, der ein unrühmliches Ende unter der Guillotine gefunden hatte. Und als Abschiedsgruß, verständlich nur für ihn und seinen Freund, der kurz darauf im Gedränge an Deck verschwinden würde, flüsterte er in Gedanken seine geistreiche Assoziation: „Julien Sorel.”[3]
[1] Marcel Proust (1871-1922): Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (Unterwegs zu Swann).
[2] Frz. Redensart, übers.: „Ein Hund kann sehr wohl einen Bischof anschauen“.
[3] Der junge Amoralist und Frauenheld, Hauptfigur in Le Rouge et le Noir von Stendhal.
Der Autor
Kostas Mavroudis wurde 1948 auf Tinos geboren und studierte Jura in Athen. Seine erste Veröffentlichung erschien 1968. Bislang hat er fünf Lyrikbände herausgegeben, vier Bücher mit lyrischer Kurzprosa unterschiedlicher Inhalte (Kurzgeschichten. Aphorismen, Kurzessays und Reisebeschreibungen), ein Buch mit gesammelten Texten und Kritiken, die in Zeitschriften und Zeitungen erschienen sind, sowie ein Buch mit Kurzgeschichten. Seine Erzählung 41 erschien 2013 im Erzählband I athanassia ton skilon (Die Unsterblichkeit der Hunde) beim Polis-Verlag und wurde 2014 mit dem Staatspreis für Kurzgeschichten und Novellen ausgezeichnet.
Dieser Band soll unter dem Titel Die Unsterblichkeit der Hunde 2023 im Verlag Reinecke & Voß erscheinen. Für die Übersetzung ins Deutsche erhielten Elena Pallantza und die Gruppe LEXIS 2021 die Förderung extensiv initiativ (Deutscher Übersetzerfonds/Neustart Kultur).
Die Vorgeschichte der Anthologie
Die Literaturstaatspreise wurden in Griechenland im Jahre 1956 eingeführt. Nach den Worten von Nicholas Yatromanolakis, dem griechischen Staatssekretär für Kultur, sind Staatspreise grundlegende Instrumente, die Autoren zu würdigen und, im Rahmen einer umfassenden Strategie, ihre Leistungen mit weiteren Finanzmitteln auszustatten.
Mit der Publikation von zwei Anthologien (Prosa und Lyrik) hat das Anliegen von Sissy Papathanassiou (Leiterin des Referats für Literatur im Ministerium für Kultur und Sport) und der Europäischen Gesellschaft für Neugriechische Studien (KENS), die neugriechische Literatur über die Landesgrenzen hinaus bekannt zu machen, konkret Gestalt angenommen. Parallel zum Deutschen sind die Anthologien auch in die italienische, russische, französische und bulgarische Sprache übersetzt worden.
Die deutsche Publikation
Die Edition Romiosini gibt griechische bzw. griechenlandbezogene Literatur in deutscher Sprache heraus und bietet alle Bücher zur kostenlosen Online-Lektüre an.
Zugang
Sie können den Band hier online lesen:
https://bibliothek.edition-romiosini.de/catalog/book/75
Dazu müssen Sie sich registrieren – kostenlos und äußerst benutzerfreundlich.
Erzählung: Kostas Mavroudis mit freundlicher Genehmigung der Edition Romiosini. Übersetzung der Erzählung: Gruppe LEXIS unter der Leitung von Elena Pallantza. Redaktion: A. Tsingas. Abbildungen: Edition Romiosini und griechisches Ministerium für Kultur und Sport.
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