Unbehagen und Initiation

Text von Amanda Michalopoulou

Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: Ελληνικά (Griechisch)

25 Jahre Akademie Schloss Solitude: Amanda Michalopoulou, eine der Stipendiatinnen der Stuttgarter Stiftung für Künstler und Wissenschaftler hat für den Jubiläumsband “Solitude Atlas” eine Geschichte über Athen geschrieben und Michaela Prinzinger hat übersetzt.

Ich spreche aus dem Keller – ich spreche aus der Mansarde „Griechenland“.
NIKOS KAROUZOS, „Werden“

Reisender,
erwarte nicht, dass ich dir vom Parthenon erzähle oder vom Hadrianstor. Von Hirtensalaten und Tzatziki. Wenn ich an Athen denke, bin ich fixiert auf die Parallelstraßen der Kallidromiou-Straße im Exarchia-Viertel, wo ich aufgewachsen bin: Eressou, Dervenion, Arachovis. In Athen bewege ich mich, als sei ich immer noch neun Jahre alt. Damals war ich zum ersten Mal allein in Athen unterwegs. In den Siebzigern machten sich meine Eltern keine Sorgen wegen des Straßenverkehrs. Auf meinen Streifzügen war ich so glücklich wie die Heldin in Patrick Modianos Roman „Im Café der verlorenen Jugend“.

Blick durch schmutizige Frontscheibe eines Autos
©Dimitris Tsoumplekas

Im Grenzgebiet unseres Viertels, in seinen neutralen Zonen, wo die Hausfrauen ihre Köpfe aus den Kellergeschossen streckten und die Flickenteppiche ausschüttelten und wo die Hausmeister in der Nase bohrten, beobachtete ich zum ersten Mal die Menschen als eigene Spezies. Als kindlicher Flaneur tat ich – unbeschwert von literarischem Vorwissen und Erfahrung – unbewusst dasselbe wie Robert Walser in seinem berühmten Werk „Der Spaziergang“.

Ich erinnere mich an zwei Jungen, die sich mitten auf der Straße um einen Bleistiftspitzer balgten. An ein ungemachtes Bett in einem Souterrain der Ikonomou-Straße (die erste, zufällig erblickte Theaterszene meines Lebens). An die Schlosserei in der Kallidromiou-Straße, wo die Schlüssel und Riegel an ein Bildlexikon des Liebesakts erinnerten. In der Zoodochou-Pigis-Straße reihte der Polsterer ausgeweidete Stühle auf dem Bürgersteig aneinander. Ihre Federn vibrierten in der Sonne wie in einer ersten Todesahnung. Ich glaube, alles was ich fürs Leben lernen konnte, habe ich damals gelernt.

kleines Mädchen schaut Richtung Kamera
©Dimitris Tsoumplekas

Dann zog unsere ganze Familie an den Stadtrand um. Ins Zentrum kehrte ich als Studentin der Romanistik zurück, in die Hörsäle in der Ippokratous- oder Solonos-Straße, in die Kafenions der Navarinou und in die ersten Buchläden meines Lebens, die nebeneinander aufgereiht in der Solonos und ihren Nebenstraßen lagen. An der Universität genoss ich eine Bildung, die vollkommen gegensätzlich zum Athener Leben war. (Wir studierten die Texte der Madame de Staël über Deutschland und Rousseaus „Emile“, der auf dem öden Land spielte.) Doch sobald ich auf die Straße ging, umhüllten mich wieder die Geräusche und Gerüche der Stadt, das Hupen der Autos, die Abgase der Busse. Die Hässlichkeit umgab mich wie ein ästhetisches Ereignis. Athen war und blieb für mich der Ort des Unbehagens und der Initiation.

offene Tür eines alten leeren Raumes
©Dimitris Tsoumplekas

Heute lebe ich in einem Vorort mit Privatschulen und unbelebten kleinen Vierteln. Doch wenn ich an einem Buch schreibe, fahre ich jeden Tag ins Zentrum, in mein kleines Büro gleich hinter dem Evangelismos-Krankenhaus. Nur dort, im zweiten Stock eines alten Wohnhauses, kann ich schreiben. Das Zimmer weist in den Innenhof, wo sich die Einakter des Athener Lebens abspielen: Eltern streiten mit ihren Kindern, Liebespaare zanken sich. Die Sekretärin des Internisten vereinbart mit den Patienten Termine und die Frauen hängen – mit Blick auf den Fernseher – die Wäsche auf. Ein Mann, der vielen vieles schuldet, läuft mit dem Handy am Ohr auf dem Balkon auf und ab. „Ich hab nichts, Herrgott scheiße noch mal, nicht mal nen Schluck Spucke!“, brüllt er. „Woher soll ich’s nehmen? Woher, bei allen beschissenen Heiligen?“ Ich lösche das Licht, schiebe die Gardine beiseite und starre wie hypnotisiert zu ihm hinüber. Manchmal schäme ich mich für meine klinischen Studien der Verzweiflung, aber das ist mein Job.

Text: Amanda Michalopoulou, Übersetzung: Michaela Prinzinger. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags entnommen aus: Solitude Atlas, 2015. Fotos: Dimitris Tsoumplekas. Den Bildband „Texas” finden Sie in Athen in den Buchhandlungen Ροδακιό, Φωταγωγός und Free Thinking Zone sowie in Berlin im Bücherbogen am Savignyplatz.

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