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30 Jahre Mauerfall: diablog.eu bringt eine Erzählung von Niki Troullinou über das Jahr 1989, die das Westberliner Lebensgefühl der Zeit vor der Wende, gesehen durch die Augen einer sensiblen Besucherin, widerspiegelt.
Am späten Vormittag machten sie sich von einer bunten Kreuzberger Straße aus auf den Weg, nahmen die U-Bahn ins Zentrum, stiegen in der Nähe der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche aus, bis sie bei der kleinen Bank ankamen. Schon bald, nachdem sie sich kennengelernt hatten, erzählte sie ihm von diesem Platz und der Kirche. Ihre Beschreibungen neigten zur Redseligkeit – weniger, weil sie die Sprachbarriere zwischen ihnen überbrücken wollte, sondern eher, um ihre eigenen Erinnerungen zu übertönen, die sich in ihrem Inneren mit einem immer lauter werdenden Rauschen beharrlich zu Wort meldeten. Darin schwankten die Stimmen ihrer Landsleute zwischen Schuld und Selbstvergewisserung, erzählten flüsternd von Bomben und Bücherverbrennungen, von schweren Schritten im Gleichmarsch, von sorgfältig gewichsten Stiefeln im Stechschritt, die auf den Pflastersteinen der Prachtstaße glänzten, von der „Gnade der späten Geburt“.
Auf der ganzen Fahrt hielt sie ihn an der Hand, ließ ihn keinen Augenblick los. Fast ohne Worte hatten sie sich darauf verständigt, dass er den weißen Stock nicht brauchte, den ihm das Sozialamt bezahlt hätte. Nachdem sie ihn auf den Mundwinkel geküsst hatte, ließ ihn auf der kleinen Bank zurück, wo er bereits seine Position eingenommen hatte, Körper und Kopf geradeaus und den Blick ins Dunkel gerichtet.
Sie war hübsch, zugegeben, Marilyn Monroe wie aus dem Gesicht geschnitten. Gar nicht so sehr wegen des blonden, gewellten Haars. Ihr Körper war’s, zwei pralle, schön geformte Brüste, die Rundungen, die – obwohl sie sie nicht zur Schau stellte – unter der unauffälligen Kleidung vielsagend für sich sprachen. So geschah es an den Sonnentagen. Er sagte, er fühle die Sonnenstrahlen, die sich zu einem Besuch herabließen, auf seiner Haut. Wie damals in Anatolien. Wenn es, wie so oft, im deutschen Norden regnete, setzte sie ihn ins Café im Innenhof des Einkaufszentrums beim Bahnhof. Der Regen fiel teils prasselnd teils murmelnd auf das Glasdach und an manchen Tagen meinte er das klagende Liebeslied seiner Großmutter herauszuhören.
Die Frau, die Marilyn Monroe wie aus dem Gesicht geschnitten war, ging dort in der Gegend anschaffen. Wenn sie sich weiter entfernte, dann nur im Auto und unter der ausdrücklichen Auflage, dass der Kunde sie wieder an den Anfang des Ku’damms zurückbrachte. Sie arbeitete gerade so viel, um ihre Kosten zu decken, und ohne Zuhälter. Türken, Jugoslawen und Einheimische, die das Geschäft kontrollierten, hatte sie überzeugt, sie beide in Ruhe zu lassen. Ihre Gegenleistung war mal ein kleines Geschenk, mal eine kleine Hilfestellung für die Neuen, bei denen ihr Rat geschätzt war. Sie genoss Respekt, gleichzeitig konnten sie gewiss sein, dass sie die Frauen nicht gegen sie aufwiegelte. Vielleicht war da aber noch etwas Anderes, Geheimes und Unausgesprochenes.
Nachmittags kehrten sie, in exakt umgekehrter Richtung, in die kleine Kreuzberger Wohnung zurück. Sie führte ihn zum Stuhl am Fenster, das auf die Mauer blickte, mit Aussicht auf Grafitti und Stacheldraht. Er zündete sich noch eine Zigarette an, und die Frau, die Marilyn wie aus dem Gesicht geschnitten war, trat in die Duschkabine, die gleich vor seinem Stuhl stand. Bei offener Tür, während das Wasser über ihren Körper lief und sie sich verbissen mit endlos viel Seifenschaum wusch, erzählte er Geschichten, was er von seiner Bank aus so alles gesehen hatte. Ja, so drückte er sich aus, heute habe ich das und das gesehen.
Rein und makellos trat sie heraus, setzte sich auf seinen Schoß, nahm ihn, mit einem Lächeln, tief in sich auf, dort auf seinem Stuhl, und ab und zu entführte der Schlaf sie ihm. Er küsste sie hinterm Ohr, legte ihr eine von seiner Mutter gestrickte Stola um die Schultern und hielt sie dort stundenlang auf seinem Schoß, ohne sich zu entziehen, nistete er in ihr, während auch sie in seinen Armen nistete bis spät in die Nacht, bis zur Stunde, da die Dunkelheit den Stacheldraht vor ihrem Fenster überkam. Genauso geschah’s auch an jenem Novemberabend, als – wie die Schwätzer behaupteten – die Geschichte ein Ende fand.
Text: Niki Troullinou. Übersetzung: Michaela Prinzinger. Entnommen aus dem Erzählband der Autorin: Der letzte Sommer der Unschuld. Athen, Hestia-Verlag 2014. Fotos: diablog.eu, aufgenommen bei: Gedenkstätte Bernauer Straße Berlin.
Zur Autorin:
Geboren 1953 in Chania, lebt sie seit 1979 in Heraklion auf Kreta. Sie studierte Jura und war lange Jahre als streitbare Juristin und Dozentin tätig, heute beschäftigt sie sich mit Agrotourismus und organisiert regelmäßig Literaturveranstaltungen in Petrokefalo bei Heraklion. Sie hat seit 1995 Erzählungen, Romane, Reisereportagen und Essays veröffentlicht, ihre Texte wurden ins Englische, Türkische und Italienische übersetzt. Zuletzt hat sie sich mit Musiktheater und Theatermonologen beschäftigt.
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Was für eine schöne zärtliche Geschichte. Poli orea.
Umwerfend …
Wo gibt´s das Buch ?