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Türkische Seifenopern erfreuen sich in vielen Ländern größter Beliebtheit. Auch in Griechenland zählen sie schon seit Jahren zu den absoluten Quotenrennern. Ein griechischer Dokumentarfilm, der jüngst auch auf dem Internationalen Filmfestival von Istanbul gezeigt wurde, beleuchtet, wie dieses oft belächelte Fernsehformat dazu beiträgt, die Frauenemanzipation zu befördern und tief sitzende Vorurteile und Feindbilder abzubauen. Mit der Goldenen Tulpe, dem Hauptpreis des Festivals, wurde derweil eine türkisch-griechische Koproduktion ausgezeichnet.
Das alljährlich im April stattfindende Internationale Filmfestival von Istanbul misst dem Filmschaffen im westlichen Nachbarland Griechenland traditionell einen hohen Stellenwert bei. Das Programm der diesjährigen Ausgabe (5.-20.4.2014) umfasste mit dem preisgekrönten Familiendrama Miss Violence von Alexandros Avranas (die GZ berichtete bereits), mit September, dem von Penny Panayotopoulou mit großem Einfühlungsvermögen inszenierten Portrait einer einsamen Athenerin, das im Sommer 2013 als Wettbewerbsbeitrag beim Filmfestival von Karlovy Vary debütierte, und dem vor dem Hintergrund einer krisengebeutelten Gesellschaft spielenden Vergeltungsthriller O Echthros mou (The Enemy within) von Yorgos Tsemberopoulos gleich drei aktuelle Spielfilme, die die anhaltende, von vielen Preisen auf internationalen Festivals geprägte Erfolgsgeschichte des jungen griechischen Kinos fortsetzen.
Entsprechend groß war die Resonanz des türkischen Publikums, auf welche die Filme und deren vor Ort anwesende Regisseure nun auch in Istanbul gestoßen sind. Zwar war im internationalen Wettbewerb kein griechischer Beitrag vertreten, den eigentlichen Hauptpreis des Festivals, die „Goldene Tulpe“ für den Besten Film des nationalen Wettbewerbs erhielt mit I am not him von Tayfun Pirselimoglou – dem die Athener Kinemathek vor zwei Jahren übrigens eine umfassende Werkschau widmete – allerdings eine türkisch-griechische Koproduktion. Bereits die letzten beiden Filme des zusammen mit Nuri Bilge Ceylan wohl bedeutendsten türkischen Autorenfilmers der Gegenwart, u. a. das 2011 ebenfalls mit der Goldenen Tulpe ausgezeichnete Epos Hair, entstand in Zusammenarbeit mit Nikos Moustakas und dessen Athener Produktionsfirma Graal.
In seinem aktuellen Film lässt Pirselimoglou den einsamen Mitfünfziger und eingefleischten überzeugten Junggesellen Nihat, der in einer Großküche arbeitet, mit einer Kollegin, deren Gatte im Gefängnis sitzt, ein seltsam stilles Liebesverhältnis beginnen. Allmählich nimmt der Mann die Identität des inhaftierten Ehemanns an. Pirselimoglous Film überzeugt durch seinen wendungsreichen Plot, seine einfühlsame Bildsprache (für die Kamera zeichnete der bekannte Angelopoulos-Kameramann Andreas Sinanos verantwortlich) und die hervorragende schauspielerische Leistung von Ercan Kesal in der Rolle des Nihat. In Istanbul wurde I am not Him auch in den Kategorien Bestes Drehbuch und Beste Musik ausgezeichnet; letztere steuerte übrigens mit Giorgos Koumendakis ebenfalls ein Grieche bei.
Mit die größte Aufmerksamkeit für einen griechischen Beitrag wurde auf dem Festival jedoch einer astreinen Dokumentation zuteil. Kein Wunder, befasst sich doch die junge Athener Filmemacherin Nina-Maria Pashalidou in „Kismet“ mit dem gegenwärtig wohl erfolgreichsten Exportprodukt der Türkei: den in vielen Ländern des Nahen Ostens, Nordafrikas, des Balkans und Asiens zur Primetime ausgestrahlten türkischen Seifenopern.
Flucht vor der Krise oder Anstoß zur Frauenbefreiung?
Seit einigen Jahren stellen türkische Seifenopern einen wesentlichen Bestandteil des Programmangebots großer privater griechischer Fernsehsender dar. Im Sturm haben Serien wie „Fatmagül“ oder „Süleyman der Prächtige“ die Herzen vor allem des weiblichen Fernsehpublikums erobert und fesseln Hundertausende griechischer Frauen, aber auch viele Männer allabendlich an den Bildschirm. Doch nicht nur in Griechenland, auch auf dem Balkan und in vielen arabischen Ländern haben Soaps made in Turkey eine große Anhängerschaft und erfreuen sich hoher Einschaltquoten.
An insgesamt 73 Länder (Stand: 2013) wurden die wie am Fließband produzierten Herzschmerz- und Heldenserien inzwischen verkauft. Der Boom setzte vor allem mit der Serie „Gümüs“ ein, in der die Geschichte eines modernen Aschenputtels erzählt wird, das in reiche Istanbuler Kreise einheiratet und es trotz aller Widerstände schafft, mit ihrem Mann eine gleichberechtigte Beziehung zu führen. „Gümüs“ lief seit 2008 unter dem Titel „Noor“ in der arabischen Welt und wurde dort zum Straßenfeger. Seitdem hat sich die Zahl der Besucher aus dem Nahen Osten an den Originalschauplätzen Istanbuls angeblich vervierfacht.
In ihrem Dokumentarfilm versucht Nina-Maria Paschalidou dem Erfolgsgeheimnis der türkischen Fernsehserien auf die Spur zu kommen und fördert dabei durchaus überraschende Erkenntnisse zutage. Wer nämlich im fortdauernden Konsum der türkischen Fernsehserien eine bewusst-unbewusste Flucht vor der beschwerlichen, von patriarchalen Familienstrukturen und nicht zuletzt von den sozialpsychologischen Krisenauswirkungen geprägten Lebensrealität vieler Frauen oder gar einen Ausdruck des neuen türkischen Kulturimperialismus sieht – eine Lesart, die gerade in Griechenland vor dem Hintergrund des historisch belasteten Verhältnisses mit der Türkei sogar zu aggressiven Protesten nationalistisch gesinnter Kräfte vor den Gebäuden der Fernsehsender geführt hat – wird von Paschalidous Film eines Anderen belehrt.
Die türkischen Seifenopern erscheinen hier nämlich gerade nicht bzw. nicht nur als billige Unterhaltungsware oder in zeitgemäßer Abwandlung der alten Marx‘schen Metapher als „Opium für das Volk“, sondern werden im Gegenteil von vielen Frauen als Anregung wahrgenommen, ihre Stimme zu erheben und mehr Rechte für sich einzufordern. Das legen jedenfalls die Aussagen der Frauen aus der Türkei, Ägypten oder den Arabischen Emiraten nahe, die Paschalidou für ihren Film interviewt hat. Dort hätten die türkischen Serien und der Kampf ihrer leidgeprüften Protagonistinnen für mehr Selbstbestimmung dazu beigetragen, dass etwa die Scheidungen gestiegen und die Zwangsehen gesunken sind, die Jungfräulichkeitstests eingestellt wurden oder den Frauen generell größerer Respekt entgegenbracht wird.
Identifikation griechischer Frauen mit dem Türkeibild der Serien
Ganz anders, nämlich als Vorspiegelung einer längst vergangenen, moralisch vermeintlich noch intakten Welt, werden dagegen die Serien in Griechenland, Bulgarien oder Bosnien-Herzegowina wahrgenommen. Stellvertretend sei eine ältere Dame aus Veria zitiert, die in „Kismet“ zu Wort kommt: „Die Frauen [in den türkischen Serien, A. d. V.] weisen nicht die Infamie und Obszönität auf, wie sie für die weiblichen Charaktere der griechischen Serien charakteristisch ist. Sie haben noch Anstand und Schamgefühl; die Familie sitzt zum Abendessen gemeinsam um den Tisch […]. Ich sehe ihre Geschichten und fühle mich an meine Jugend-, an meine Liebesjahre zurückerinnert.“ In dieselbe Kerbe schlägt auch eine Zuschauerin aus Athen, die erstaunt darüber ist, wie zärtlich heute türkische Ehemänner mit ihren Frauen umgehen.
Während also die türkischen TV-Serien die Frauen im arabischen Raum, in dem es mit den Frauenrechten bekanntlich nicht zum Besten bestellt ist, dazu ermutigen, traditionelle Geschlechterrollen zu hinterfragen und gesellschaftliche Tabus aufzubrechen, wecken sie bei griechischen Frauen offenbar den rückwärtsgewandten Wunsch, wieder an traditionelle, im Zuge der Verwestlichung der Gesellschaft weitestgehend verlorengegangene Familienwerte anzuknüpfen. Offensichtlich kann frau sich in Griechenland mit dem von den Serien transportierten und zweifellos idealistisch verklärten, zwischen Ost und West, Tradition und Moderne, Islam und Feminismus lavierenden Türkeibild viel eher identifizieren als mit dem realen Bild einer durch die Globalisierung und erst recht durch die Dynamik der Krise aus den Fugen geratenen griechischen Gesellschaft.
Dadurch aber, dass diese nostalgische, eigentlich konservative Regung nicht etwa von einheimischen, sondern von türkischen (und muslimischen!) Charakteren ausgelöst wird, haftet der großen Popularität der Serien selbst in Griechenland ein zugleich moderner, geradezu fortschrittlicher Zug an, setzt sie doch auf Seiten der griechischen Zuschauerinnen die Überwindung von Vorurteilen gegenüber dem Anderen, hier dem Türken (und Muslimen!) voraus. Dieser, wenn auch im Stillen vor den Fernsehmonitoren vollzogene Abbau von tiefsitzenden Vorurteilen ist nicht wenig in einer Zeit, die in Griechenland, aber auch in vielen Regionen in und um Europa von einer Hochkonjunktur verschwörungstheoretischer Feindbildproduktion und zunehmender Renationalisierung geprägt ist, die mancherorts sogar die Form offen neonazistischer Mobilmachung annimmt, wie z. B. der rasante Aufstieg der Goldenen Morgenröte und deren brutale Übergriffe auf Migranten und Andersdenkende belegen.
Insofern sollte man sich bei aller grundsätzlichen Kritik am wohl niveaulosesten Genre des Fernsehens vom ironischen, leicht überheblichen Unterton, der in der öffentlichen Auseinandersetzung mit den Seifenopern, aber auch in vielen Kommentaren zu „Kismet“ zum Ausdruck kommt, distanzieren und die Anhängerinnen der türkischen Seifenopern, ob in Griechenland oder anderswo, ernst nehmen und ihnen mit einem Mindestmaß an Verständnis und Unvoreingenommenheit begegnen. Nina-Maria Paschalidou selbst lebt diese zurückhaltende und vorurteilsfreie Haltung in ihrem Dokumentarfilm konsequent vor, und zwar sowohl gegenüber den Machern und Macherinnen (interessanterweise werden die den erfolgreichen Serien zugrundeliegenden Drehbücher mehrheitlich von Frauen geschrieben!) und Schauspielerinnen als auch gegenüber den Zuschauerinnen der Seifenopern.
Andernfalls wäre es der Regisseurin wohl kaum gelungen, das Vertrauen vor allem der im arabischen Raum lebenden Frauen zu gewinnen, die in „Kismet“ zu Wort kommen. Gerade darin liegt denn auch das größte Verdienst des Films: Dass er die wohlgemerkt beträchtliche Wirkungsmacht der türkischen Seifenopern lediglich zum Anlass nimmt, um von der repressiven Lebenswirklichkeit dieser Frauen, aber auch von ihrem Widerstand zu erzählen. Die dem Film bisweilen entgegengebrachte Kritik, er hinterfrage nicht die politische Funktion der Fernsehserien und verzichte darauf, sie im Zusammenhang mit einer von der Erdogan-Regierung zunehmend medial zensierten und autoritär gelenkten türkischen Gesellschaft zu reflektieren, geht daher fehl.
Schließlich besteht die Absicht des Films nicht darin, die Seifenopern einer kritischen Analyse zu unterziehen, sein Ansatz ist es vielmehr, aufzuzeigen, wie sich ein zunächst lediglich mediales Phänomen durch die überwältigend positive Rezeption großer Teile der weiblichen Bevölkerung insbesondere in der arabischen Welt zu einem Politikum verwandelt, dem – das belegen zumindest die erhöhten Scheidungszahlen oder die im Film ebenfalls dokumentierte offizielle Warnung der Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate „vor der verheerenden Wirkung der süßlichen Serien über muslimische Frauen, die sich für modern und zivilisiert hielten“ – wenn schon nicht soziale Sprengkraft, so doch zumindest eine gewisse Dialektik attestiert werden muss.
Bleibt noch die Frage, um den Blick abschließend wieder auf Griechenland zu lenken, ob die fortgesetzte Treue des hellenischen Fernsehpublikums zu den türkischen Seifenopern über den Abbau der Vorurteile gegenüber den türkischen Nachbarn hinaus eines Tages auch zu einer besseren, von Nationalismus und Rassismus freien Gesellschaft führen oder zumindest den Nazis der Goldenen Morgenröte das Wasser abgraben wird. Doch das werden wir wohl erst in einer der nächsten Folgen erfahren.
Der nach 3-jährigen Dreharbeiten entstandene Dokumentarfilm “Kismet” von Nina-Maria Paschalidou kann schon jetzt auf eine sehr erfolgreiche Karriere zurückblicken. Die Weltpremiere fand Ende 2013 beim weltweit wichtigsten Festival für Dokumentarfilme, dem International Documentary Film Festival Amsterdam (IDFA) statt, wo er für den Wettbewerb für den Besten Film mittlerer Länge nominiert war. Inzwischen wurde er auf Festivals in der ganzen Welt gezeigt. Seine Griechenland-Premiere gab er im Rahmen des 16. Dok-Filmfests Thessaloniki am 20. März 2014, eine Woche später lief er in den griechischen Kinos an.
Seine Reise durch die Welt der Festivals hält nach wie vor unvermindert an. Zudem war die von Forest Troop und Anemon Productions produzierte und den Fernsehsendern Al Jazeera, ARTE, SVT (Schweden), Knowledge Network (Kanada), YLE (Finnland), RTS (Schweiz), Channel 8 (Israel) und RIK (Zypern) koproduzierte Dokumentation bereits im Fernsehen zu sehen, unter anderem mit dem Titel „Kismet – Emanzipation auf Türkisch“ am 9. März im deutsch-französischen Kultursender ARTE, wo er im Rahmen des anlässlich des Internationalen Frauentags ausgestrahlten Thementags „Starke Frauen“ gezeigt wurde.
Beim Filmfestival Istanbul fand zusätzlich zu den drei Filmvorführungen unter dem Titel „Cannot Complain, Life is a Kismet“ auch eine Podiumsdiskussion statt, an der neben der Regisseurin auch der bekannte türkische Anthropologe, Ethnologe und Nahost-ExperteTayfun Atay mitwirkte.
Die Regisseurin, Journalistin und Produzentin Nina Maria Paschalidou verfügt über eine breite Erfahrung mit Dokumentationen über Gesellschaftsthemen, Krieg und ethnische Minderheiten. Sie schrieb für die griechischen Tageszeitungen „To Vima” und “Kathimerini” und besuchte die School of Foreign Service in Washington DC. Seit 2007 ist sie Produzentin der preisgekrönten Dokumentationsreihe „Exandas”. Außerdem gründete sie die unabhängige Produktionsfirma Forest Troop und ist Mitbetreiberin des griechischen News-Blogs „protagon”. 2010 dokumentierte sie die Krise in Griechenland mit dem Multimediaprojekt “The Prism GR2011” und dem Film “Krisis”.
Kismet, Regie & Drehbuch: Nina-Maria Paschalidou; Griechenland / Zypern 2013, 58’ . Weitere Informationen zum Film und zur Regisseurin: www.foresttroop.com
Steckbrief: International Istanbul Film Festival
Das vor 33 Jahren gegründete Internationale Filmfestival von Istanbul ist gemeinsam mit dem Antalya Golden Orange Film Festival das bedeutendste Filmevent in der Türkei und zählt mit seinen 16 Festivaltagen zu den weltweit längsten Festivals überhaupt. Es ist sowohl ein Publikums- als auch ein Wettbewerbsfestival: Der Internationale und der eigentlich bedeutendere Nationale Wettbewerb finden erst in der zweiten Festivalwoche statt; in der ersten Woche richtet sich das zuletzt in 25 Sektionen verteilte Filmangebot fast ausschließlich an das Publikum. Träger des Festivals ist die von der Unternehmensgruppe Eczacibasi unterhaltene Kultur- und Kunststiftung Istanbul (IKSV), die neben dem Filmfestival auch weitere große Kulturevents (u. a. Theater-, Jazz- und Musikfestivals, eine Kunst- und eine Designbiennale) in der größten türkischen Stadt austrägt.
Das Festival findet weitestgehend ohne staatliche oder öffentliche Unterstützung statt. Dadurch bewahrt es sich eine relative Unabhängigkeit und bietet auch relativ kritischen Beiträgen ein Forum. Viele insbesondere dokumentarische Beiträge des diesjährigen Festivals widmeten sich beispielsweise dem zivilgesellschaftlichen Protest der Gezi-Park-Bewegung, der im letzten Sommer für weltweites Aufsehen sorgte. Das Filmfestival ist ein ausgesprochener Publikumsmagnet; allein in diesem Jahr strömten über 135.000 Zuschauer in die insgesamt 593 Vorführungen. Außerdem beging das Festival 2014 den 100. Geburtstag des türkischen Kinos und zeigte aus diesem Anlass einen repräsentativen Ausschnitt aus älteren und neueren einheimischen Produktionen.
Weitere Informationen: www.film.iksv.org. Dieser Artikel ist in gekürzter Form in der Griechenland Zeitung erschienen. Fotos entnommen von der Facebook-Seite des Films.
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