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Auch wenn die deutschen Medien nicht mehr berichten, hat die Krise Griechenland immer noch fest im Griff. Das diesjährige Filmfestival Thessaloniki bot daher eine kleine Ablenkung vom Alltag. Doch viel wichtiger war: Vom 7. bis 15. November wurden die Leinwände der Stadt am Olymp dringend benötigte Fenster zur Welt. Florian Schmitz wird kurz seinem Blog eudyssee.net untreu und berichtet für diablog.eu.
Die große europäische Krise hat zu einer Renationalisierung der verschiedenen Mitgliedsländer geführt. „Jeder für sich“ anstelle von „Gemeinsam stark“ ist das Motto. Und auch Griechenland, dem in den letzten Monaten und Jahren eine besondere mediale „Ehre“ zuteil wurde, ist davon betroffen. Schlimmer noch. Viele Menschen hier sind so fokussiert auf das eigene Land, dass der Blick über die Staatsgrenzen hinaus zur Seltenheit geworden ist. Beim 56. Internationalen Filmfestival Thessaloniki gab es aber wieder die Gelegenheit, für einen Moment aus seiner eigenen Lebenswelt herauszutreten.

Ein Filmfestival ist keine Verschwendung
„Das Filmfestival ist Geldverschwendung“, steht mit Edding auf die Wand des Herrenklos im Olympion-Kino, dem Herzen des Filmfestivals, gekritzelt. Warum man es gerade darauf abgesehen hat, ist fragwürdig. Denn der Bedarf an Kultur ist in Krisenzeiten deutlich gestiegen, nicht gesunken. Das bestätigen mir Theatermacher, Fotografen oder Regisseure in Griechenland immer wieder. „Auch bei uns in Island ist das in der Krise passiert, dass die Leute wieder mehr ins Theater, ins Kino und ins Konzert gegangen sind”, bekräftigt Rúnar Rúnarsson. Für seinen Film Sparrows ist ihm der Artistic Achievement Award des Festivals verliehen worden.
Offensichtlich besteht gerade in schwierigen Zeiten das Bedürfnis, gemeinsam Kunst zu rezipieren. Nicht so sehr, um sich unterhalten zu lassen, versteht sich. Vielmehr scheint die allgemeine Fokussierung auf ein Thema und die damit einhergehende Simplifizierung der Realität die Menschen kritisch zu stimmen. Geht es wirklich nur um die Banken? Sind wir wirklich allein mit unseren Problemen? Die Kunst an sich muss auf diese Fragen nicht unbedingt Lösungen offerieren. Doch sie schafft Auseinandersetzung. Sie konfrontiert uns mit einer neuen Sichtweise und weist Aspekte unserer Lebenswelt auf, die im Alltag und auch der Routine der Krise verborgen bleiben.

Verbindungen unter der Oberfläche
Gerade in einem Europa, in dem die sich breitmachende Panik vor Terror gerade zum einzigen kulturellen Bindeglied zu werden scheint, hat die Kunst etwas wichtiges entgegenzusetzen: Sie weist die Verbindungsstücke zwischen uns auf und stellt Vorurteile in Frage, die wir benutzen, um uns als kulturelle Einheit von anderen zu isolieren. Ein ausländischer Film von der Art, wie sie auf dem Festival in Thessaloniki gespielt werden, hat daher mit Ablenkung nicht viel zu tun. Jedes kleine Kunstwerk gibt Einsichten in eine andere Welt, einen Hauch von Lebensgefühl einer anderen Kultur, mit der man sich für zwei Stunden auf einmal verbunden fühlt.
In diesem Sinne befindet sich der Zuschauer dann mitten in einem isländischen Bruderkonflikt. Der Film Hrútar, der in Thessaloniki mit dem Goldenen Alexander ausgezeichnet wurde, zeigt am Beispiel von Schafzucht, wie wichtig kulturelle Eigenheiten nicht nur für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft, sondern auch für die Identität des Einzelnen sind. Im Film Herbert des deutschen Regisseuren Thomas Stuber konnten die Zuschauer anhand des Porträts eines an ALS leidenden Boxers Einsichten in ein Leipzig fernab der renovierten Fassaden gewinnen. Und in Honey Nights aus Mazedonien konnte der Zuschauer nachvollziehen, wie sich die Strukturen der Diktatur in ein vermeintlich demokratisches System retten.

Lateinamerika räumt ab
Beim Eröffnungsfilm Victoria wurden die Zuschauer mit einem Berlin konfrontiert, das fernab jeder Illusion von Hipp-Sein, Party und Innovation, Menschen in die Einsamkeit und Selbstzerstörung treibt. Gerade in einem Land wie Griechenland, in dem die Perspektivlosigkeit junger Menschen Berlin zum Monopol der Selbstentfaltung erhebt, wirft ein solcher Film Licht auf die dunklen Gassen der Bundeshauptstadt . Verstörend auch der griechische Beitrag Silent, der nicht nur den zahlreichen ausländischen Zuschauern die destruktive Macht einer unterschwellig schwer gestörten Familie veranschaulicht.
Großer Gewinner aber war mit den meisten Auszeichnungen das lateinamerikanische Kino. Der Silberne Alexander ging an den kolumbianischen Film La Tierra y la Sombra. Der Bronzene Alexander an den argentinischen Roadmovie Camino a La Paz. Die Jury zeichnete überdies den Mexikaner Gabriel Ripstein für seinen Film 600 Millas für die beste Regie, und den Venezolaner Alfrede Castro für seine schauspielerische Leistung in Desde allá aus. Auch der Preis für das beste Drehbuch ging an diesen Film.

Filmfestival Thessaloniki – Zum Glück kein Glamour
In der Presse geht das Filmfestival Thessaloniki leider unter. Zu Unrecht. Zwar sind nicht immer alle Filme herausragend, doch die Gesamtkomposition der Beiträge beweist, wie wichtig alternatives Kino als Gegengewicht zum kommerziellem Hollywoodgeplänkel ist. Das Festival in Thessaloniki ist eines der wichtigsten Filmevents im Balkanbereich. Dabei aber versteckt es sich nicht hinter roten Teppichen und internationalen Berühmtheiten. Es ist eine Veranstaltung ausgerichtet auf das alternative Kino und auf den Besucher.
Natürlich ist es nicht immer einfach, Tickets zu bekommen. Jedoch sind es noch lange keine Verhältnisse wie auf der Berlinale oder in Cannes. Es gibt keine Barrieren zwischen den Zuschauern und den Filmemachern. Niemand verschanzt sich auf Champagnerparties. Es ist ein Festival, auf dem die Welt zu dem stehen kann, was sie ist: ein Irrenhaus. Durch die Filme kann dabei die geschundene Seele des Einzelnen kurz aufatmen in der gemeinsam erlebten Erkenntnis über die tiefen und komplexen Abgründe unserer Zeit. Und sie erinnert sich daran, dass Unvollkommenheit kein Makel der Krise, sondern der menschliche Normalzustand ist.
Text: Florian Schmitz, eudyssee.net. Fotos: motionteam.gr
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Dieser Artikel ist sehr gut geschrieben. Spricht mir sehr aus dem Herzen. Die Welt ist ein Irrenhaus!!! Und Unvollkommenheit kein Makel der Krise-, nein, der menschliche Normalzustand. Das sollte jedem Menschen bewusst werden und daran muss gearbeitet werden. Wie gut, dass es die Kunst in so vielschichtiger Weise gibt. Möge sie uns wach rütteln!!!