Die letzte Notiz

Eröffnungsfilm der Hellas Film Box 2019

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Eröffnungsfilm der diesjährigen Hellas Film Box ist „Die Letzte Notiz“ des renommierten Regisseurs Pantelis Voulgaris (BABYLON Mitte, 16. Januar 2019, 19:30 Uhr). Er versetzt uns in das von der SS mit Unterstützung von Wehrmacht und Gestapo betriebene Konzentrationslager Chaidari im gleichnamigen Athener Vorort. Dorthin wurden vor allem die zahlreichen Gefangenen gebracht, die bei den häufigen Razzien in verschiedenen Bezirken Athens verhaftet wurden. Im Zentrum des Geschehens steht eine Gruppe von 200 Widerstandskämpfern sowie Napoleon Soukatzidis, der griechische Dolmetscher des deutschen Lagerkommandanten Karl Fischer, die am 1. Mai 1944 hingerichtet wurden. Das Drehbuch zum Film schrieb die Schriftstellerin Ioanna Karystiani, Ehefrau von Pantelis Voulgaris.

Napoleon Soukatzidis (Bursa/Osmanisches Reich, 1909 – Athen, 1944) kam nach dem von Griechenland verlorenen griechisch-türkischen Krieg von 1919-22 mit seiner Familie nach Arkalochori in Zentralkreta. Soukatzidis war mehrsprachig, außer Griechisch beherrschte er auch Russisch, Englisch, Deutsch, Französisch und Türkisch. Er studierte an der Handelshochschule in Heraklion, war Mitglied der Kommunistischen Partei und wurde Präsident des Arbeitnehmerverbandes von Heraklion. Im April 1937, während der Metaxas-Diktatur, wurde er auf die kleine Insel Ai Stratis in der Nähe von Limnos im Nordosten der Ägäis verbannt. Während der Besatzungszeit war er zunächst in den Gefängnissen von Trikala und Larissa inhaftiert, dann lieferte ihn die griechische Regierung an die Deutschen aus, die ihn ins Lager Chaidari steckten. Er war einer der 200 Exekutierten vom 1. Mai 1944.

Im Oktober 2018 bat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Konzentrationslager Chaidari um Verzeihung für die von den Nazis dort verübten Gräueltaten.

Filmplakat Frau die auf ein Tor zugeht

Der griechische Lagerarzt Antonis Flountzis, ebenfalls politischer Gefangener im KZ Chaidari, beschreibt in seinem Buch „Chaidari, Burg und Altar des Nationalen Widerstands“ (Χαϊδάρι, κάστρο και βωμός της Εθνικής Αντίστασης, Athen 1986, nur in griechischer Sprache) als Zeitzeuge die Ereignisse am 30. April 1944, dem Vorabend der Massenexekution, erstaunlich sachlich:

„Am Vorabend des 1. Mai 1944 häuften sich im Lager die Anzeichen einer bevorstehenden umfassenden Katastrophe: Kostas Katsaniotis, der in der deutschen Küche Kartoffeln schälte, brachte uns den Ausschnitt aus einer Zeitung, die ihm der deutsche Chefkoch gegeben hatte. Dort stand, dass auf Befehl des Militärkommandanten zur Vergeltung für die Morde an vier deutschen Offizieren in der Nähe von Molai bei Sparta 200 kommunistische Gefangene hingerichtet werden sollten. Bei diesen Offizieren handelte es sich um den Generalmajor Franz Krech und drei seiner Begleiter.

Ein schwarzer deutscher PKW fuhr vor und kurz darauf befahl der Kommandant Karl Fischer, Napoleon Soukatzidis solle die vier Vorarbeiter des Lagers holen und zur Kommandantur bringen. Fischer fragte sie, welche Gefangenen sie in den Werkstätten ersetzen könnten – es sollten Leute sein, die nicht vom Metaxasregime inhaftiert worden waren. Diesen Gefangenen sollten Werkzeug und Werkstattschlüssel übergeben werden, da die fünf Anwesenden am nächsten Tag in ein anderes Lager verlegt werden sollten.

Zu 17 Uhr sollte Napoleon die „Chalkidier“, also 200 Gefangene, die im März aus Chalkida, der Hauptstadt der Insel Euböa, überstellt worden waren, vor dem Wertsachendepot in Block 21 versammeln, um dort ihre Sachen abzuholen, da sie am nächsten Morgen ins neue Lager Domokos überführt werden sollten.

Soldaten und Gefangene

Die „Akronafplioten“, also die Gefangenen aus Akronafplia auf der Peloponnes, spürten als erste, dass etwas im Argen lag. Sie glaubten nicht daran, dass man sie in ein anderes Lager verlegen würde. Und noch weniger, dass sie entlassen werden sollten. Wahrscheinlicher, wenn nicht sogar sicher war, dass Exekutionen geplant waren. Darauf reagierten sie entschlossen und gelassen zugleich. Sie versammelten sich sogleich in ihrer Stube. Viele Freunde aus anderen Blocks kamen, um sich zu verabschieden. Als die Blöcke für die Nacht abgeschlossen wurden, veranstalteten die Gefangenen in Stube 1 von Block 3, in dem die Werkstattmannschaften untergebracht waren (zu 80% Akronafplioten), ein richtiggehendes Abschiedsfest mit dem Geiger Fotis Santamoiris und zwei Gitarristen. Es gab Volkstänze aus ganz Griechenland. Die vier gefangenen Kreter und etwa fünfundzwanzig weitere Gefangene tanzten Pentozali und andere Kreistänze ihrer Heimatinsel. Danach machten alle beim Tsamikos mit und schließlich gab es den Zalongo-Tanz (bei dem sich die Frauen aus dem epirotischen Souli bei ihrer Flucht 1803 in den Tod gestürzt hatten, um ihren türkischen Verfolgern nicht in die Hände zu fallen), der zur Hymne von Chaidari avanciert war. Schließlich wurden letzte Anweisungen gegeben, die Moral gestärkt und Bruderküsse ausgetauscht. Es herrschte eine erhabene, emotional aufgeladene Stimmung. Viele der Mitgefangenen weinten. Die Nachtruhe wurde zwar eingehalten, kaum jemand konnte jedoch richtig schlafen.

Nach dem Morgenappell nahm Fischer den roten Umschlag des stellvertretenden Kommandanten Löffler, öffnete ihn, zog eine Liste heraus und sagte: „Wer seinen Namen hört, tritt vor, es geht in ein anderes Lager.“ Die Namen wurden in alphabetischer Reihenfolge vorgelesen. Jede neu zusammengestellte Zwanzigergruppe hatte ihre Sachen zu holen und sich im Bereich zwischen Küche und Block 3 aufzustellen.

Schon bei den ersten Namen wurde klar, dass diesmal die Akronafplioten dran waren. Wer seinen Namen hörte, rief „Hier“, verabschiedete sich von den Mitgefangenen, ließ Griechenland und die Freiheit hochleben und gesellte sich mit festen, sicheren Schritten zu den anderen Aufgerufenen, die sich bereits in Fünfer- und Zwanzigergruppen aufgestellt hatten. Die aufgerufenen Köche warfen ihre Mützen voller Leidenschaft hoch in die Luft. Bevor der Kommandant mit der Ansprache startete, ging er zu den Werkstattmannschaften, griff nach der Hand des Installateurs Vasilis Georgakounis und schickte ihn zur Arbeit – er solle das ganze Lager mit Wasser versorgen. Nachdem der Kommandant den Namen des Leiters der Möbelwerkstatt Giorgis Athanasiadis vorgelesen hatte, hielt er inne mit den Worten: „Du nicht. Du wirst nicht in ein anderes Lager verlegt“.

Mann mit entsetztem Blick

Er ging zur Kommandantur und blieb davor stehen. Sein Adjutant brachte ihm ein Glas Wasser. Er trank, wischte sich das Gesicht mit dem Taschentuch ab und kehrte zurück. Er nahm sich die Liste wieder vor und begann sehr nervös, die weiteren Namen vorzulesen. In der zweiten Zehnergruppe, in die die Liste unterteilt war, tauchte der Name „Soukatzidis, Napoleon“ auf. Ein „Hier“ ertönte neben dem Kommandanten. Das Lager erstarrte. Napoleon war jetzt also auch dabei. Alle waren bewegt, als er seine Trillerpfeife und die Papiere, die er in der Hand hielt, an den Dolmetscher Thanasis Meremetis übergab und man ihn sagen hörte: „Thanasis, vergiss nie, dass du ein griechischer Gefangener bist und griechischen Freiheitskämpfern dienst. Sei immer gut und verständnisvoll zu ihnen. Stellvertretend für alle anderen sage ich dir Lebewohl.“ Dann umarmte und küsste er ihn. „Ich vertraue sie dir alle an. Sei gut zu ihnen. Lebe wohl.“ Mit festem Schritt und erhobenen Hauptes schloss er sich den Fünferreihen an. Fischer fixierte ihn, sagte aber kein Wort.

Nur sechzehn der in Chaidari gefangenen Akronafplioten standen nicht auf der Liste. Das waren der Lagerverwalter, der Chefkoch und fünf weitere Köche, der Lagerarzt [Antonis Flountzis selbst] und einige Werkstattleiter. Von den Werkstattarbeitern blieben acht der Akronafplioten und einige andere übrig, die von den deutsch-italienischen Besatzungsbehörden inhaftiert worden waren.

Die 200 Todeskandidaten reihten sich in einer langen Schlange neben der Küche auf. Die erfahrenen Gefangenen des Metaxasregimes unter ihnen ließen das Meiste ihrer persönlichen Sachen in der Stube für ihre Kameraden zurück. Sie nahmen nur eine Decke und ein paar Kleinigkeiten mit. Die Jüngeren aber, denen die Erfahrung fehlte, beluden sich mit fast all ihrem bescheidenen Eigentum.“

Der Regisseur Pantelis Voulgaris und seine Hauptdarsteller Andreas Konstantinou und André Hennicke stellen sich am 16.01.2019 im Anschluss an die Filmvorführung dem Publikum.

Text: A. Tsingas. Übersetzung von Antonis Flountzis: A. Tsingas. Fotos: Filmstills aus „Die Letzte Notiz“ von P. Voulgaris.

Filmplakat Hellas Filmbox

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1 Gedanke zu „Die letzte Notiz“

  1. Herzlichen Dank für diesen Hinweis. Beim 4. Hellas Filmbox Festival wird am 17.01., 20.00 Uhr, und am 20.01., 15.15 Uhr, ein weiterer Film gezeigt, der die Verbrechen der deutschen Wehrmacht in Griechenland thematisiert: “The Balcony. Memories of Occupation” von Chrysanthos Konstantinidis. Er wurde erstmals beim Internationalen Dokumentarfilmfestival Thessaloniki im März 2018 gezeigt und hat mich dort sehr beeindruckt. Er schildert die Ereignisse in Ligiades, einem Dorf in Epirus, am 3.10.1943. Konstantinidis, selbst Nachfahre einer Opferfamilie, verwendet dazu auch Berichte von Überlebenden, die Ende der 1980er Jahre aufgenommen wurden, und so erstmals gehört werden.

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