Heimatkunde 6

Thanassis Valtinos zum Motto der documenta 14 „Von Athen lernen“

Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: Ελληνικά (Griechisch)

Mit einem Text von Thanassis Valtinos, dem Nestor der zeitgenössischen griechischen Literatur, geht die Reihe der Kommentare zum Motto „Von Athen lernen“ der documenta 14 weiter. In jeweils ganz persönlichen Anmerkungen wird auf Fakten und Faktoren verwiesen, die von dieser Stadt in der Tat zu lernen wären. Für diablog.eu verfasst von Menschen, die schon immer oder seit langem in Athen leben, zeugen sie von Selbstbewusstsein und Stolz angesichts der gegenwärtigen Situation in einer von vielfachen Krisen gezeichneten Stadt, deren Gedächtnis jedoch weiter zurückreicht als das aller anderen europäischen Metropolen und deren Lebendigkeit sich nicht zum ersten Mal gegen Widerstände behauptet.

Die Euripides-Straße ist die Grenze eines – geografisch nicht unbedingt einheitlichen – Raums, den ich hier mehr oder weniger rudimentär zu beschreiben versuche. Wenn man an ihrem Ende beim Koumoundourou-Platz links abbiegt, steht man kurz darauf vor dem Kerameikos, dem antiken Athener Friedhof.

Vor Jahren sah ich an einem späten Sonntagnachmittag zwischen den Lorbeerbäumen etwas weiter drüben bei der Hegeso-Stele ein junges Paar, wie es sich gewagt und leidenschaftlich küsste. Die Szene war besonders poetisch, umso mehr, als diese Begegnung auf einem früheren Gräberfeld ausgeführt wurde. Liebe und Tod. Solche Verbindungen von Gegensätzen sind auf diesem Terrain nicht ungewöhnlich.

Der Kerameikos grenzt an das Theseion-Viertel, an Monastiraki und den Heldenplatz. Hier darf nichts gebaut werden, was eine bestimmte Höhe überschreitet. So sind die niedrigen Gebäude mehr oder weniger ihrem Schicksal überlassen, denn ihre Besitzer können kein Kapital daraus schlagen. Zumindest sind dort kleine Handwerksbetriebe untergebracht, auch Lagerräume, Altwarenhandlungen nebst Tavernen und Cafés, für letztere eine privilegierte Platzierung. Hier geht es ziemlich lebendig zu, trotz der Last der Denkmäler. Ohne Posen und Popanz. Ein großes Geschäft für Stühle wird direkt neben der Grabung auf dem  Nachbargrundstück betrieben. Ein fliegender Händler von Second-Hand-Kleidung hat seine Ware genau vor den Ruinen der Bunten Halle (Stoa Poikile) ausgelegt. Diese Tuchfühlung mit dem Alltagstreiben gibt der Vergangenheit eine ganz besondere Tiefendimension. Genau das gefällt mir. Bei schönem Wetter komme ich oft hierher zum Mittagessen.

Foto Valtinos

Es gibt ein paar gute „Stammlokale“ mit Tischen auf dem Bürgersteig. Über allem thront natürlich die Akropolis, doch lediglich als Steinmasse. Im Übrigen wird sie so gut wie nicht beachtet. Auch sie ist in den Alltag ringsum integriert. Ob der Kellner, der uns bedient, sie je besucht hat, ist fraglich. Der Kellner hat keine Kenntnisse der Geschichte, er ist Teil von ihr. Nicht einmal das ist ihm bewusst. Und ich glaube, genau das ist es, was dazu beiträgt, wenn über den Retsina, das Essen, das beredte Schweigen der mit mir am Tisch sitzenden Person hinaus jenes Gefühl entsteht, das mich in solchen Momenten durchdringt – nicht genau ein Gefühl der Unsterblichkeit, doch sehr nahe dran. Gelegentlich liest und hört man letztens von diversen behördlichen Planungen, die besonders beliebten Stätten Athens als zusammenhängende Fußgängerzone zu gestalten. Wir reden über das Olympiastadion von 1896, den Tempel des Olympischen Zeus, das Dionysos-Theater, die Hügel westlich der Akropolis, die antike Agora und den Kerameikos. Gestaltung zwecks Verwertung. Eine Art archäologisches Disneyland also.

Wenn auch dieses Konzept inzwischen teilweise verwirklicht wurde, glaube ich mich fest darauf verlassen zu können, dass der Rest noch für viele Jahre im Planungsstadium verbleibt.

Thanassis Valtinos, geboren 1932, war einer der Autoren der „18 Texte“, die in Buchform 1970 als Protest einer ganzen Generation griechischer Intellektueller gegen die Obristendiktatur publiziert wurden. 1974/5 Stipendiat des DAAD-Künstlerprogramms in Berlin, seit 2008 Mitglied der Athener Akademie. 2012 Großer Literaturstaatspreis für sein Lebenswerk. Derzeit wird ein Band mit Valtinos´ wichtigsten Texten auf Deutsch für das CEMOG/FU Berlin vorbereitet.

Text: Thanassis Valtinos. Redaktion/Übersetzung: Andrea Schellinger, Fotos: Michaela Prinzinger, aufgenommen während der documenta 14 in Athen.

Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: Ελληνικά (Griechisch)

Schreibe einen Kommentar