Wirklichkeiten und Erinnerungen

Die Romanciers Christos Asteriou und Andreas Schäfer im Gespräch

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Die Romanautoren Christos Asteriou und Andreas Schäfer öffnen für Michaela Prinzinger die Türen ihrer Schreibwerkstatt und geben den Leser*innen von diablog.eu Einblick in ihre Arbeit. Beide waren bei „Greek Writers@Berlin“ zu Gast, einer von diablog.eu initiierten und von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa geförderten Lesereihe, die in Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus Lettrétage stattfand.

diablog.eu empfiehlt als Urlaubslektüre die beiden zuletzt erschienenen Romane „Therapie der Erinnerungen“ (2019, Verlag Polis) von Christos Asteriou und – druckfrisch – „Das Gartenzimmer“ (2020, DuMont Verlag) von Andreas Schäfer.

Michaela Prinzinger: In der dreiteiligen Veranstaltungsreihe „Greek Writers@Berlin“ ging es im Herbst 2019 darum, ein ganzes Panorama aufzufalten: Lyrik, performatives Schreiben und Erzählprosa – mit griechischen, deutschen und deutsch-griechischen Autor*innen. Und es ging darum, literarische Texte im Original und in Übersetzung vorzustellen, die Produzent*innen dieser Texte zu Wort kommen zu lassen und ins Gespräch zu bringen, über den reinen literarischen Text hinauszublicken und seine Schnittstellen mit anderen Genres zu beleuchten, wie Videokunst, Performance und Theater.

Im letzten Teil der Reihe waren zwei Autoren zu Gast, die eins ganz gewiss NICHT sind: Schnell- und Vielschreiber, wie es in der heutigen Zeit oft so nötig zu sein scheint, um als Autor wahrgenommen zu werden und sich im Gespräch zu halten.

Christos Asteriou hat zuletzt 2019 ein Buch herausgebracht unter dem Titel „Therapie der Erinnerungen“, Andreas Schäfers neuester Roman ist soeben im Juli 2020 unter dem Titel „Das Gartenzimmer“ publiziert worden.

Andreas Schäfer und Christos Asteriou ist gemeinsam, dass sie an ihren Büchern stets mehrere Jahre arbeiten und dass sie nicht auf das breite Publikum schielen. Beide wirken auf mich authentisch in ihrem Streben nach einer ausgefeilten Kombination von Form und Inhalt. Und beide haben einen biografischen Bezug zu Griechenland, wobei der eine auf Deutsch schreibt und der andere auf Griechisch. Beiden sind jedoch beide Sprachen vertraut.

Ich muss sagen, mich als Übersetzerin und Leserin interessieren die Mechanismen hinter den Texten und die Entstehungsgeschichten. Weil, wenn man eines als Übersetzerin in seiner Arbeit aus der Nähe kennenlernt, dann ist es die Konstruktionsweise von Geschichten und die Funktionsweise von Figuren, die Rolle verschiedener Identitäten, die Verzahnung von Szenen, die Entschlüsselung von Bedeutungen. Also, ich will Ihnen nur erzählen, wie ich mich den beiden Autoren angenähert habe.

Was die beiden Autoren noch verbindet, ist die Art von Verlag, in dem sie publizieren: Polis und DuMont, beides jeweils mittelgroße Literaturverlage mit einem sehr eigenständigen Profil. Andreas ist bei DuMont in der Gesellschaft von Michel Houellebecq und Haruki Murakami, Christos bei Polis mit Schwerpunkt Geschichte und Literatur in der Gesellschaft von László Krasznahorkai und Saul Friedländer.

zwei maenner und eine frau die lacht
Christos Asteriou, Michaela Prinzinger, Andreas Schäfer, ©Panagiotis Paschalidis

Michaela Prinzinger: Ein deutscher Autor hat vor Jahren schon über die Entdeckung der Langsamkeit geschrieben. Wie seht ihr euer Schreiben in einer Zeit, in der alles immer schneller gehen muss, in der ein ewiges, nie versiegendes Rauschen der Kommunikation herrscht? Das Bombardement mit E-Mails, Whatsapp, Facebook, Instagram, Twitter geht ja auch an Autoren nicht spurlos vorbei.

Andreas Schäfer: Nein, das geht nicht spurlos vorbei. An mir selbst beobachte ich eine größere innere Nervosität – ausgelöst durch einen exzessiven, nicht immer gesunden Gebrauch eines internetfähigen Endgerätes. Andererseits haben sich meine Arbeitsrhythmen durch die sogenannte Digitalisierung nicht sonderlich verändert. Der Entstehungsprozess eines Textes ist weder schneller noch langsamer geworden. Aber ich twittere auch nicht und bin bei Facebook nicht mehr als eine Karteileiche, poste also selbst so gut wie nie und beobachte die Erregungswellen und Hysterieausschläge in den Sozialen Medien mit halbinteressiertem Auge  von der Seitenlinie. Mir sind Autoren, die zu allem etwas zu sagen haben und jede Assoziation für mitteilenswert halten, eher suspekt.

Christos Asteriou: Das Leben hat einen ganz anderen Rhythmus als das Schreiben eines Buches. Für gewöhnlich brauchte ich lange, bis ich mir sicher bin, dass ich den Text unter Kontrolle habe und die Überzeugung gewinne, dass das Buch in die richtige Richtung geht. Die Sozialen Medien fordern von allen und auch von den Schriftstellern, extrovertiert zu sein, zu kommentieren, tagtäglich eine Meinung zu allem und jedem zu haben. Mir fällt es schwer, einem solchen Rhythmus zu folgen.

Michaela Prinzinger: Ein anderer Aspekt, der euch verbindet, ist das griechische Element, sage ich jetzt mal ganz unbestimmt. Christos ist kein Autor, der Klischees bedient und in seinen Werken ein „verkäufliches“ Griechenland- oder Griechenbild zeichnet. Andreas setzt seine griechische Seite und seine Kenntnisse über Land, Leute und Mentalität ganz gezielt und dosiert ein. Er und auch Christos schaffen es mit ihrem Erzählstil, Assoziationsräume für die Leser*innen offen zu lassen, die jede und jeder mit seinen eigenen Gefühlen und Erfahrungen füllen kann.

Zum Einstieg hören wir einen Ausschnitt aus einem Essay von Andreas Schäfer, den wir für diablog.eu ins Griechische übersetzt haben, in dem er sein „Halbgriechentum“ thematisiert. Wenn du ein halber Grieche bist, dann bist du auch „nur“ ein halber Deutscher, obwohl du diesen urdeutschen Namen Schäfer trägst. Wie stehen diese beiden Hälften zueinander? Liegen sie im Streit manchmal? Vertragen sie sich? Gewinnst du durch diese Zwitterhaftigkeit oder verlierst du dadurch?

Andreas Schäfer: Natürlich gewinne ich dadurch vor allem, obwohl diese Fragen im Alltag erst mal keine Rolle spielen. Ich laufe ja nicht als Halbgrieche durch die Gegend! Da ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, fühle ich mich als deutscher Autor – mein Griechisch ist auch leider nicht so berauschend. Gleichzeitig fühle ich mich Griechenland auf eine tiefe und zugleich schwer in Worte zu fassende Weise verbunden und in der griechischen Lebensatmosphäre auch aufgehoben. Der auffallend deutsche Name spielte natürlich eine Rolle für die Art, wie die Umgebung mich früher wahrgenommen hat. Ich konnte immer selbst entscheiden, wem ich erzähle, dass meine Mutter aus Griechenland stammt, wurde also nicht von außen als Nicht-Deutscher oder – wie man damals noch sagte – als Ausländer angesehen.

Deshalb war Griechenland also vor allem eine innere Angelegenheit, eine Sehnsuchts- und Gefühlssache. Vor etwa zwanzig Jahren haben mich dann sogenannte Identitätsfragen eine Weile stark umgetrieben, und ich bin für ein Jahr nach Griechenland gegangen. Heute ist eher interessant, dass diese Themen mich mehr oder weniger ungewollt beim Schreiben überraschen. Mich faszinieren zum Beispiel Fragen von Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Milieus und die gläsernen Wände, die Insider von Außenstehenden trennen. Und dass einige meiner Figuren ein stark ausgebildetes Gespür für die „feinen Unterschiede“ haben, hat sicherlich auch damit zu tun, dass ich als Sohn einer aufstiegsgewillten Einwandererin schon früh den in der Familienluft liegenden Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung, aber auch die beigemischte Angst vor Zurückweisung aufgenommen habe.

buchcover andreas schäfer gesichter

Michaela Prinzinger: Christos schreibt in „Therapie der Erinnerungen“ über seinen Protagonisten: „Vergiss nicht, dass ich halb Grieche, halb Ire bin. Wir sind Trinker, Schreihälse und traditionell humorlos.“ Du schreibst in deinem letzten Buch viel über Komik und Humor. Warum meinst du, dass die Griechen (wie du das selbst so pauschal sagst) keine Humortradition haben? Meinst du nicht eher Ironie? Bei dir, finde ich, hört man in deinen Texten eine starke erzählerische Ironie heraus.

Christos Asteriou: Wir Griechen sind sehr direkt, wir können schwer Abstand zu Dingen und Zuständen halten. Daher haben wir keine Tradition des geistreichen Humors, den die Briten „wit“ und die Deutschen „Witz“ nennen. Meine Art des Schreibens in „Therapie der Erinnerungen“ ist in der Tat von der anglosächsischen Prosa beeinflusst. Ich wollte mir diesen Stil erobern und ihn in die griechische Realität übertragen.

Michaela Prinzinger: Christos hat Germanistik studiert, er arbeitete als Deutschlehrer an öffentlichen Schulen in Griechenland, an Orten, von denen deutsche Urlauber träumen wie Andros oder Paros. Jetzt ist er seit vier Jahren an der FU Berlin als Dozent für die griechische Sprache tätig und hält Lehrveranstaltungen, die großen Zuspruch finden und wo er seinen Hörer*innen auch Übersetzung und Literatur nahebringt.

Auch du hast zwei (sprachliche) Seelen in deiner Brust. Wie fühlt sich das an für dich? Kommt es da zu Auseinandersetzungen? Oder verläuft alles harmonisch?

Christos Asteriou: In Bezug auf die Literatur stehe ich vor keinem Dilemma: Ich schreibe ausschließlich auf Griechisch. Ich bin, wie ich gerne sage, immer noch mit dem Erlernen meiner Muttersprache beschäftigt. Das ist ein Prozess, der nie endet. Die Übersetzung ist eine andere Geschichte. Dort vermischen sich das Deutsche, die deutsche Literatur und ihre Übertragung ins Griechische. Die Übersetzung ist eine wichtige Aufgabe, von der ein Autor in jeder Hinsicht profitiert. Er lernt fremde Rhythmen kennen, er überträgt Schreibweisen, die sich sehr von seinem eigenen Stil unterscheiden, er tritt in die Fußstapfen seiner anderssprachigen Kollegen.

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Michaela Prinzinger: Die Wahl eurer Literatursprache ist ja eindeutig, Deutsch bei Andreas, Griechisch bei Christos. Könntet ihr euch dennoch vorstellen, etwas in der jeweils anderen Sprache zu schreiben und was könnte das sein? Ein Gedicht, ein Liebesbrief, ein Einkaufszettel oder mehr?

Andreas Schäfer: Einkaufszettel habe ich auf Griechisch schon geschrieben!  Dabei würde ich es aber bewenden lassen. Mich würde eher reizen, im Schneckentempo mal aus dem Griechischen ins Deutsche zu übersetzen und dadurch noch viel intensiver und nuancenreicher die unterschiedlichen Gefühlsräume der beiden Sprachen zu erfassen.

Christos Asteriou: Man merkt, dass man sich in seiner Fremdsprache wohl fühlt, wenn man in ihr zu träumen beginnt. Das ist mir in meinen ersten Studienjahren in Deutschland so ergangen. Besser, als Liebesbriefe in alltäglicher Sprache zu schreiben, gelingen mir akademische Texte auf Deutsch – ich habe ja auch Germanistik studiert.

Michaela Prinzinger: Wie seht ihr die Verbindung von Literatur und Film? Andreas’ Roman „Gesichter“ stach mir als Leserin sofort ins Auge als Filmstoff und es gab auch Interesse daran, das sich (noch) nicht realisiert hat. Christos hat zum Beispiel ein Filmangebot für „Isla Boa“ erhalten. Ist das für euch reizvoll, mit einem eurer Werke das Genre Roman zu überschreiten und es mit Bild und Ton und Filmmusik und dargestellt von Schauspielern zu sehen?

Andreas Schäfer: Verfilmungen sind für mich aus zweierlei Gründen reizvoll: Zum einen, weil sich die Geschichten dadurch fortentwickeln, sie gehen in andere Hände über und offenbaren zwangläufig neue Facetten. Ich finde es immer sehr aufschlussreich und auch aufregend zu sehen, was Leser – und Filmemacher sind auch erst einmal Leser – in meinen Büchern entdecken, welche Aspekte sie besonders herausstellen wollen. Zum zweiten reizt mich das Drehbuchschreiben selbst. Vor kurzem habe ich meinen letzten Roman abgeschlossen, eine Geschichte, die ein ganzes Jahrhundert umfasst. Kaum war ich fertig, kam die Idee, das Ganze noch einmal zu erzählen – in sechs Folgen einer Miniserie. Mal sehen, was daraus wird …

Christos Asteriou: Zahlreiche Leser behaupten, sie hätten beim Lesen meines Buches vor ihrem geisten Auge einen Film ablaufen sehen. Wir leben in einer Zeit, in der die Bilder übermächtig sind. Und das beeinflusst auch die Art und Weise, wodurch wir die Dinge und auch die Literatur wahrnehmen. Ich glaube, dass die Sprache der Literatur und die Sprache des Kinos unterschiedlich sind. Man braucht bestimmte Fähigkeiten für das Verfassen eines Drehbuchs und andere für das Schreiben eines umfangreichen Romans.

Isla Boa Cover

Michaela Prinzinger: Andreas, du hast das Libretto für eine Oper geschrieben. Wie war diese Erfahrungen für dich, über Genregrenzen hinauszugehen und mit dem Element der Opernbühne, mit Gesang und Musik zu arbeiten? Literatur und speziell der Roman ist ja sonst die stillste aller Künste, wo Leser und Leserin sich selbst einen Kosmos schafft, den Film im eigenen Kopf inszeniert. Du wusstest ja, du schreibst einen Text, der dann auf der Bühne verwendet wird. Hat das dein Schreiben beeinflusst?

Andreas Schäfer: Die Arbeit am Libretto hat großen Spaß gemacht, gerade das Gemeinschaftliche daran. Ich habe zusammen mit dem Schweizer Komponisten David Philip Hefti das Andersen-Märchen „Die Schneekönigin“ adaptiert – im Auftrag der Tonhalle Zürich. Von den ersten Ideen stand ich im engen Austausch mit Philip Hefti. Wir haben über Motive, Bildwelten und Strukturen gesprochen – Verdoppelungen, Spiegel, Echos spielen bei Andersen eine große Rolle. Erst als wir den atmosphärischen Raum abgesteckt hatten, habe ich dann allein im Kämmerchen geschrieben. Anders als beim Roman war auch die Figurenanzahl vorgegeben – es durfte nur drei Rollen geben, aber auch diese Einschränkung habe ich als erleichternd empfunden.

Michaela Prinzinger: Christos hat uns Einblick in ein Dokumentarfilmprojekt gegeben, zu dem er bei seinem letzten USA-Aufenthalt inspiriert wurde. Bei Filmproduktionen geht es ja generell um viel mehr Geld als beim Schreiben. Du hast die Lebensgeschichte einer ungewöhnlichen Frau entdeckt. Was fasziniert dich an ihrem Leben und warum arbeitest du bei einer Dokumentation mit und schreibst nicht über sie eine Erzählung oder einen neuen Roman?

Christos Asteriou: Ich nähre mich von Geschichten, ohne sie kann ich nicht leben. Es sind Geschichten von Menschen, die ich mitreißend finde und die ich zunächst erforschen und dann erst literarisch verarbeiten möchte. Auf solche Weise habe ich die Geschichte von Chelly Wilson – einer aus Thessaloniki stammenden Jüdin – erfahren, die in den 60er- und 70er-Jahren die Königin der New Yorker Pornokino-Szene war. Zuerst dachte ich an einen Artikel über ihr Leben. Dann aber lernte ich eine Regisseurin kennen, die in ihren Kinos gearbeitet hat und die mit mir zusammenarbeiten wollte. Nicht alle Geschichten werden Bücher. Ich schätze mich sehr glücklich, dass ich in den Produktionsprozess eines Dokumentarfilm mit einbezogen wurde. Das ist eine außergewöhnliche Erfahrung, von der ich viel gelernt habe.

podium einer veranstaltung zwei maenner eine frau
Christos Asteriou, Michaela Prinzinger, Andreas Schäfer, ©Panagiotis Paschalidis

Michaela Prinzinger: Andreas, ich finde es interessant, dich noch mal zu deinem ersten Buch „Auf dem Weg nach Messara“ zu befragen. Es folgten zwei weitere Romane, der dritte ist soeben erschienen, du hast deinen Weg gefunden, hast Anerkennung durch Preise und Nominierungen bekommen. Wie würdest du jetzt in der Rückschau diesen ersten Roman einschätzen? Er ist ja damals im Umfeld der Frankfurter Buchmesse entstanden und, denke ich, auch so „eingekauft“ worden, als Griechenland Schwerpunktland war 2001. Der Alexander Fest Verlag hat damals 2001 „Die Wache“ von Nikos Kavvadias, diesen grossartigen Klassiker der neugriechischen Literatur, einen fragmentarischen, modernistischen Seefahrerroman, herausgebracht und deinen Roman, der dann 2002 erschienen ist. Hat dir dieser Roman und dieses Thema und damit auch deine griechische Seite den Weg in die Literatur geebnet?

Andreas Schäfer: Es war mein erstes Buch, und es erzählt eine deutschgriechische Familiengeschichte, trägt also autobiografische Züge. Ich musste durch diesen autobiografischen Stoff hindurch, um danach mit Figuren und Themen freier umgehen zu können. Von daher stellte dieses Buch gewissermaßen den Türbogen in die Unermesslichkeit des literarischen Raums dar. Natürlich hätte ich „Auf dem Weg nach Messara“ auch geschrieben, wenn Griechenland nicht Gastland der Buchmesse gewesen wäre.

Michaela Prinzinger: Warum steht in deinem ersten Buch so auffällig, quasi wie ein Motto vor dem ersten Kapitel, die Anmerkung „Alle Figuren und Ereignisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit toten oder lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind zufällig“? Hätte man sonst gemeint, das Ich ist Andreas Schäfer und die Mutter ist die tatsächliche Mutter von Andreas Schäfer und der Großvater ist der tatsächliche Großvater von Andreas Schäfer? War dieses Buch vielleicht auch für dich eine „Therapie der Erinnerungen“?

Andreas Schäfer: Wegen der teilweise autobiografischen Bezüge wollte ich damals wohl diesen Fiktionshinweis im Buch haben. Ich weiß noch, dass ich nach Beendigung des Romans in der Nacht aufgewacht bin und das Gefühl hatte, ich müsste durch einen Feuerring springen. Das war der Ring des Verrats. Mit Verrat meine ich nicht, dass ich Figuren aus der Wirklichkeit auf eine unlautere oder diffamierende Weise beschrieben hätte. Der Akt des Schreibens selbst, die Tatsache, das eigene Leben als literarisches Material zu nutzen, hat etwas Skandalöses. Peter Handke hat mal gesagt: „Schreiben ist verboten.“ Die Interviewerin hat nicht verstanden, wahrscheinlich hat sie selbst nicht geschrieben. Ich wusste sofort, was er meinte. Man nimmt etwas aus der Wirklichkeit und transformiert es. Auch wenn man – wie man vielleicht hofft – dabei im Sinne einer höheren Wahrheit vorgeht, zerreißt man doch erst einmal das heilige Gewebe der Wirklichkeit, man verstößt gegen das Tabu. Damals war diese Erfahrung noch neu – und etwas erschreckend für mich.

buchcover roman andreas schaefer wir vier

Michaela Prinzinger: Christos, „Therapie der Erinnerungen“, schon mit dem Titel öffnest du den Raum für zwei große Themen: Therapie setzt ja ein Leiden voraus, genauso wie die Erinnerung das Vergessen. Es geht um eine schmerzhafte Trennung, um eine problematische Kindheit, um eine Panikattacke während einer Lesung, um eine schwierige Vater-Sohn-Beziehung der Hauptfigur. Die Hauptfigur ist ein US-amerikanischer Komiker und Schriftsteller mit griechisch-irischem Migrationshintergrund. Um welches Leiden und um welche Therapie geht es in deinem Roman?

Christos Asteriou: Die Therapie, um die es im Titel geht, gibt es tatsächlich und sie betrifft Alzheimer-Patienten. Es handelt sich um eine Therapie ohne Medikation, in deren Verlauf die Patienten in Zimmer geführt werden, die mit Gegenständen aus ihrer Jugendzeit gefüllt sind. Sie hören Lieder aus dieser Zeit, verfolgen Nachrichtensendungen aus der fernen Vergangenheit, lesen Zeitschriften, die sie als jungen Menschen lasen. Erwiesenermaßen wird durch diese konkrete Methode ihr Gedächtnis aktiviert. Der Titel des Buches verweist auch auf das problematische Verhältnis der Hauptfigur, eines Komikers, zu seinem Vater, der griechischer Zuwanderer ist, und auf die Erinnerungen an eine schwierige Vergangenheit, die der „Heilung“ bedürfen.

Michaela Prinzinger: Christos, du hast im Zuge eines Stipendiums sechs Monate in New York verbracht, während dessen du für deinen Roman recherchiert hast, in einer ganz bestimmten Gegend von New York mit einem hohen Griechenanteil, aber nicht im erwartbaren Astoria, sondern in Washington Heights, dem Geburtsort von Maria Callas. Dein Roman „Therapie der Erinnerungen“ spielt auf zwei Zeitebenen, 2015 und 1958, und er spielt zu zwei Dritteln in den USA und im letzten Drittel in Athen.

Schon in deinem erstem Buch „Die Reise des Iasonas Remvis. Eine wahre Geschichte“ kehrt ein nach Australien emigrierter griechischer Maler auf der Suche nach seiner verlorenen Kreativität in seine Geburtsstadt Athen zurück. In deinem Roman „Isla Boa“, der auf einer entlegenen Insel spielt, auf der eine TV-Show gedreht wird, befindet sich unter zehn Teilnehmer*innen eine Griechin.

Ich will damit sagen, dass du das Griechentum in deinen Büchern auf ganz bestimmte Weise einsetzt. Sie spielen sozusagen nie von A bis Z in Griechenland mit griechischen Protagonist*innen in rein europäisch-griechischen Zusammenhängen. Was mich interessiert ist: Wie konstruierst und erschaffst du deine Hauptfiguren? Was sind die Knackpunkte, die dich an ihnen interessieren? Wie findest du dann die Erzählform, in die du alles gießt? Aufspaltung in Erzählfiguren, -stimmen, -perspektiven?

Christos Asteriou: Mich interessiert das Bild des Griechen, der sich (als Migrant zum Beispiel) auf fremdem Boden wiederfindet oder in einer Umgebung, wo er sich – wie in meinem Roman „Isla Boa“ – der Herausforderung stellen muss, zusammen mit anderen Nationalitäten zu überleben. In „Therapie der Erinnerungen“ ist die Hauptfigur ein ehemaliger Stand-up-Comedian, der zum humoristischen Schriftsteller geworden ist. Ich habe auf zwei Vorbilder zurückgegriffen, um seine Figur zu schaffen, und zwar auf die extrem erfolgreichen US-amerikanischen Comedians David Sedaris und Zach Galifianakis, die beide griechische Wurzeln haben.

Als Bewunderer der jüdischen Stand-up-Comedians habe ich die Handlung nach New York verlegt. Dorthin hat mich auch das Thema des Buches – also Humor, Migration und Identitätssuche – geführt. Im Verlauf des Buches ändere ich den Erzählstil, je nachdem, was der Erzählung am besten dient. Der erste Teil ist leichtfüßiger und enthält eine Art Theatereinakter und ein Interview, der zweite Teil ist im klassichen, direkten Stil von Memoiren gehalten, während der dritte Teil einem schnelleren Rhythmus folgt und an Kriminalliteratur erinnert.

Michaela Prinzinger: Unausweichlich kommen wir auch zum Thema „Krise“, das heißt also zunächst Finanzkrise und Flüchtlingskrise: Andreas hatte das Glück, 2002, in der Zeit vor Ausbruch der Finanzkrise, sein erstes Buch zu veröffentlichen. „Gesichter“, 2013 erschienen, greift diese Thematik auf, in sehr subtiler und wirkungsvoller Weise. Christos’ „Isla Boa“ hat den etwas kryptischen Klappentext: „Ein vielstimmiger Roman, ein indirekter politischer Kommentar zum modernen Menschsein und seinen „Kollateralschäden“ vor dem Hintergrund der Krise, die nicht nur eine Finanzkrise ist.“

War und ist die Finanz- und Flüchtlingskrise hinderlich für die Literatur oder ist sie ein Türöffner für das Interesse von Verlagen?

Andreas Schäfer: Ich gelte nicht als „griechischer Autor“, von daher erwarten deutsche Verlage von mir auch keine vermeintlich „griechischen Themen“. Deshalb: nein.

Christos Asteriou: Politisch engagierte Literatur und Bücher, die im Verlauf von Krisen mit einer bestimmten Absicht geschrieben werden, stoßen mich ab. Aus diesem Grund habe ich die Versuche von Autoren mit Zurückhaltung beobachtet, die nach Lesbos eilten, um über die Flüchtlingskrise zu schreiben und rasch Romane mit Helden aus Syrien zu veröffentlichen. Kern meiner Bücher bilden immer Menschen, die in einer – privaten, künstlerischen oder familiären – Krise stecken. Aber ich fange nie mit dem Schreiben an, um die Aktualität einzufangen. Mit „Isla Boa“, einer Allegorie auf die Möglichkeiten des Zusammenlebens im globalen Dorf, habe ich zum Beispiel bereits vor dem Ausbruch der griechischen Finanzkrise begonnen.

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Christos Asteriou, Andreas Schäfer, ©Panagiotis Paschalidis

Michaela Prinzinger: Im Vorgespräch kam die Rede auf die einengende Atmosphäre der (griechischen) Familie. Ich habe in Christos letztem Buch ein Zitat über deine Hauptfigur gefunden, das dies bestätigt: „Meine Kindheit war von da an durch Neurosen geprägt, die wie Pilze im Treibhaus der Familie wucherten.“ Überhaupt sehe ich, Christos, bei deiner Hauptfigur Woody Allen mit Neurosen, Dyslexie und Hypchondrie vor mir.

Andreas schreibt in seinen Büchern über menschliche Beziehungen Mutter-Sohn, Frau-Mann, Vater-Tochter, zwischen Brüdern, über den Verlust eines Kindes, den Verlust eines Partners. Christos in „Therapie der Erinnerungen“ über eine Vater-Sohn-Beziehung und das Ende einer Beziehung und den Beginn einer neuen Liebe mit all den damit behafteten Ängsten und Vorbehalten.

Was ist der Unterschied zwischen einer griechischen und einer deutschen Familienkonstellation oder – sagen wir – Gefühlskonstellation und wie wirkt sie sich auf das Schreiben aus?

Andreas Schäfer: Das ist eine Frage, auf die es entweder keine oder nur eine romanlange Antwort gibt. Hier in einem Interview besteht die Gefahr, sich in Klischees zu verfangen, zum Beispiel in dem von der manipulativen Mutter, die ja angeblich nicht nur in der griechischen Familie, sondern in der südländischen Familie allgemein eine ziemlich dominante Rolle spielt. Ein griechischer Freund sagte dazu mal etwas sehr Drastisches: In griechischen Familien seien Manipulation und Übergriff totaler, sagte er, aber sie spare den sexuellen Missbrauch aus – im Gegensatz zur deutschen dysfunktionalen Familie. Nein, das ist wirklich ein sehr weites, heikles Feld.

Christos Asteriou: Die Familie ist eine Art Treibhaus, in dem ihre Mitglieder leben und sich entwickeln, das sich aber als Gefängnis erweist. Manchmal wird es auch zum idealen Umfeld für die Persönlichkeitsentwicklung von Romanhelden. Der Satz von Tolstoi, dass unglückliche Familien literarisch interessanter seien, hat nichts von seiner Gültigkeit eingebüßt – unabhängig davon, ob es sich um deutsche, griechische oder irgendwelche anderen Familien handelt.

Michaela Prinzinger: Ich wollte ein wenig auf die Cover eurer Bücher eingehen. Das Interessante daran ist ja, dass sie Bilder sind mit wenig Text (dem Titel und dem Namen des Autors), also eigentlich gegenläufig zum Romangenre. Das Umschlagbild eröffnet Assoziationsräume. „Therapie der Erinnerungen“ zeigt einen vollen Veranstaltungssaal. Dieses Foto spielt auch eine Rolle in deinem Buch. Wie bist du, Christos, darauf gestoßen? Ich nehme ja an, du hast es entdeckt und dann beschlossen, es in dein Buch einzubauen, oder?

buchcover therapie der erinnerungen

Christos Asteriou: Auf Materialsuche für den Roman war ich 2015 am „Institute of Jazz Studies“ der Rutgers Universität in Newark, New Jersey. Dort fand ich in einem Archiv Fotografien der sogenannten Tournee der „Jazz Ambassadors“, genauer gesagt von Dizzy Gillespies Athener Konzerten. Im dritten Teil des Buchs geht es um Piräus, den Jazz, den die Angehörigen der 6. US-Flotte spielten, und inbesondere um das Konzert, das Dizzy Gillespie vor griechischen Studenten im Theater Rex gab. Es gelang mir, den Sohn des US-amerikanischen Journalisten ausfindig zu machen, der die Bühnenaufnahmen gemacht hatte, mir die Rechte zu sichern und sie für das Buchcover einzusetzen.

Michaela Prinzinger: „Auf dem Weg nach Messara“ verweist mit dem Titelfoto auf den europäischen Süden, Messara könnte auch ein Ort in Italien oder Spanien sein, jedenfalls ist keine Akropolis, also nichts eindeutig Griechisches abgebildet. Auf dem Buchcover von „Gesichter“ sehen wir einen Ausschnitt aus dem Deck einer Fähre, wo die Handlung des Romans auch ihren Anfang nimmt. Viele Leser*innen denken ja, dass Autor*innen oder Übersetzer*innen grundsätzlich Einfluss auf den Titel des Romans oder das Umschlagbild haben. Wie ist deine Erfahrung?

buchcover andreas schaefer messara

Andreas Schäfer: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man als Autor von einem Veto-Recht Gebrauch machen kann. Bei meinem aktuellen Roman, der von dem Schicksal eines Hauses in Berlin Dahlem erzählt, gefielen mir die ersten Cover-Entwürfe ganz und gar nicht. Da hat sich der DuMont-Verlag großartig verhalten. Die Verlegerin hat mich angerufen, und wir haben zusammen überlegt, in welche Richtung es stattdessen gehen könnte und in dem Zusammenhang auch noch mal den Titel in Frage gestellt. Mit dem Endergebnis waren wir alle sehr zufrieden.

Michaela Prinzinger: Eine kleine Frage zu eurem Brotberuf – das ist Journalismus beim einen, Lehrtätigkeit beim anderen. Wie kombiniert ihr das mit eurem Schreiben? Erfordert das tagtägliche Disziplin oder nehmt ihr euch Ausszeiten oder ist es eine Kombination aus beidem? An welchen Orten arbeitet ihr?

Andreas Schäfer: Die Regel lautet: Der Vormittag gehört der Literatur. Ich arbeite auch als Schreibcoach, und diese Tätigkeit ist leicht mit dem eigenen Schreiben zu kombinieren. Aber keine Regel ohne Ausnahme. Wenn ich größere Radio-Features abschließe oder Artikel mit Abgabetermin habe, kann es vorkommen, dass das eigene Schreiben für ein paar Tage in den Nachmittag rutscht – oder auch ganz ruht.

Christos Asteriou: Die Schriftstellerei ist ein Vollzeit-Job, sie fordert große persönliche Opfer. Vor allem braucht sie Zeit, ein wirklicher Luxus in der Epoche, in der wir leben. Diesbezüglich habe ich großes Glück, da ich Unterrichten und Schreiben verbinden kann. Nachdem ich ein paar katastrophale Jahre als Bankangestellter hinter mir habe, schätze ich jede einzelne Sekunde, die mir geschenkt wird. Ich schreibe immer vormittags und nutze die Tage, an denen meine Lehrveranstaltungen am Nachmittag stattfinden. Ich schreibe nur an meinem häuslichen Schreibtisch.

Michaela Prinzinger: Christos hat einmal das Gegensatzpaar phlegmetisch und dramatisch ins Spiel gebracht, um seine Schreibweise zu beschreiben. Andreas, wie würdest du dein Schreiben betrachten, als phlegmatisch oder dramatisch? Oder sollte Christos uns erst einmal genauer erklären, was er damit meint…

Christos Asteriou: Die griechische Literatur ist durch übertriebenes Pathos gekennzeichnet und dadurch, dass sie sich selbst unerträglich ernst nimmt. Mit dem Begriff „Phlegma“ meine ich die Distanz, die man braucht, um eine Geschichte vom Standpunkt eines gelassenen Beobachters aus zu erzählen. Dieser Blickwinkel steht mit der vorhin erwähnten Ironie und dem geistreichen Humor in Verbindung. Leider trifft man in griechischen Büchern zahlreiche, in Leidenschaften verstrickte Charaktere, aber keine coolen Helden. Aber ich hoffe, dass sich das ändert.

Andreas Schäfer: Obwohl ich verstehe, was Christos meint, möchte ich widersprechen. Christos´ Bücher sind humorvoll und haben Witz. Das erfordert einen sprühenden Geist, und der ist das Gegenteil von phlegmatisch.

Interview: Christos Asteriou/Andreas Schäfer/Michaela Prinzinger. Fotos: Panagiotis Paschalidis. Teil-Übersetzung: Michaela Prinzinger.

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