Gespaltene Erinnerung, 1940-1950

Artikel von Florian Schmitz

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Noch bis 30. April 2017 wurde „Gespaltene Erinnerung 1940-1950. Zwischen Geschichte und Erfahrung“ im Makedonischen Museum Moderner Kunst in Thessaloniki verlängert. Florian Schmitz hat die in Zusammenarbeit von Goethe-Instituts Thessaloniki, Jüdischem Museum Thessaloniki und dem Deutschen Historischen Museum in Berlin erarbeitete Ausstellung für diablog.eu besucht.

Frank-Walter Steinmeier in der Ausstellung
Frank-Walter Steinmeier in der Ausstellung „Gespaltene Erinnerung“, ©Goethe-Institut Thessaloniki/George Kogias

Eine Kunstausstellung in Thessaloniki erinnert an das jüdischen Leben der Stadt. Unter dem Titel „Gespaltene Erinnerung 1940-1950 – Zwischen Geschichte und Erfahrung“ werden im Museum für zeitgenössische Kunst Werke präsentiert, die von tragischen Schicksalen erzählen und daran erinnern, dass Thessaloniki sich nie mit dem Verlust seiner jüdischen Tradition auseinandergesetzt hat.

Als die Nazis 1941 in Griechenland einmarschierten, lebten etwa 50.000 Juden in Thessaloniki. 1943 begann die Deportation nach Auschwitz und Bergen-Belsen. 96% der Deportierten sind in den Lagern umgekommen. Heute leben knapp 1000 Juden in einer Stadt, die früher zu den großen jüdischen Metropolen Südosteuropas gehört hat. „Thessaloniki hatte nicht einfach nur eine große, jüdische Gemeinde. 50% der Bevölkerung war jüdisch. Thessaloniki war eine jüdische Stadt“, erzählt ein Mitglied der kleinen Gemeinde, die im aktuellen Leben der Stadt kaum noch eine Rolle spielt. So macht die Ausstellung, die eine Zusammenarbeit des Museums für zeitgenössische Kunst, des deutschen historischen Museums in Berlin und des Goethe-Instituts ist, vor allem auf eine schmerzhafte Lücke in der Geschichtsaufarbeitung aufmerksam.

Gerahmte Buchseite
Ausstellung „Gespaltene Erinnerung“, ©Goethe-Institut Thessaloniki/George Kogias

Kunst – Scham – Schweigen

Der große Mehrwert der Kunst ist ihr Anspruch auf Subjektivität. Kunst unterliegt nicht dem Prinzip der Rechenschaft, sondern erforscht den komplexen Raum der Gefühle. Sie liefert ästhetische Momente zwischen Künstler und Betrachter, löst somit einen individual-emotionalen Prozess auslöst und vermag auf diese Weise, Vergessenes und Verdrängtes an die Oberfläche des Bewusstseins zu befördern. So erklärte Museumskurator Dennys Zacharopoulos: „In der Ausstellung geht es nicht einfach um die Historie zwischen 1940 und 1950 in Griechenland, sondern stellt eine Verbindung her zwischen Kunst und Geschichte. Jedes Exponat hier ist eine ganz eigene Erfahrung.“

So dürften nicht wenige dieser Werke beim Betrachter auch jene Scham auslösen, die das Resultat des Schweigens und des gezielten Vergessens sind, mit dem man die jüdische Geschichte der Stadt nur allzu gern aus dem Gedächtnis gelöscht hätte. Weder Nachkriegsdeutschland, noch die nicht-jüdischen Griechen zeigten nach dem Holocaust großes Interesse an einer Wiederbelebung des jüdischen Lebens in Thessaloniki. Zwar geistert nach wie vor jener Mythos durch die Stadt, nach dem Juden, Christen und Moslems hier einst in Frieden koexistierten. Doch von antisemitischen Strukturen, die nach der Befreiung Nordgriechenlands vom Osmanischen Reich 1913 immer stärker wurden, will man dabei nichts wissen. Erst seit den Neunziger-Jahren wird in diese Richtung geforscht und der Austausch zwischen Institutionen gefördert, die sich mit der Thematik auseinandersetzen.

Zeichnungen in der Ausstellung
Ausstellung „Gespaltene Erinnerung“, ©Goethe-Institut Thessaloniki/George Kogias

Urbane Märchen vs. Geschichte

„Nach dem großen Feuer von 1917, das weite Teile des Zentrums zerstört hat und dem vor allem Orte des jüdischen Lebens zum Opfer fielen, gab es eigentlich keine Bestrebungen, die Juden wieder im Zentrum anzusiedeln“, erklärt Maria Kavala, Historikerin an der Aristoteles-Universität in Thessaloniki. Vielmehr habe man in Zeiten der ‚großen Idee‘ , welche die politischen und kulturellen Bestrebungen hin zu einem großgriechischen Nationalstaat beschreibt, kein Interesse gehabt, das jüdische Leben der Stadt wieder in die Mitte der Stadt zu holen. Man habe aus Thessaloniki vor allem eine griechische Stadt machen wollen.

So spaziert man in Thessaloniki vorbei an aufwendig restaurierten Kirchen aus Zeiten des byzantinischen Reichs und ein paar wenigen Hamams, die an die 500-jährige osmanische Besatzung erinnern. Wer Spuren des jüdischen Lebens sucht, muss genauer hinschauen oder eines der wenigen Bücher lesen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. Dann findet man auf dem heutigen Universitätsgelände, das sich in unmittelbarer Nähe zum Museum für zeitgenössische Kunst befindet, ein Mahnmal für die ermordeten Juden der Stadt. Außerdem erfährt man, dass sich genau dort, wo heute studiert wird, früher ein jüdischer Friedhof mit beinahe 350.000 Gräbern befand.

Wer dann noch Menschen wie Rena Molcho begegnet, Historikerin und Expertin für den Holocaust in Griechenland, lernt überdies, dass es Griechen waren, die bei der deutschen Besatzungsmacht Baumaterial zur Wiederherstellung der prächtigen Demetrios-Basilika bestellten und sich an den Grabsteinen des jüdischen Friedhofs bedienten. Wer über das weite Gelände des ehemaligen Friedhofs spazieren geht, wo heute Parks und Wohnsiedlungen stehen, stolpert mitunter über alte Reliquien, umgestürzte Grabsteine, die bei der Räumung vergessen wurden. Würde man hier graben, würde man auf Knochen stoßen.

Frau steht vor einer Tafel mit 120 Porträtfotos
Ausstellung „Gespaltene Erinnerung“, ©Goethe-Institut Thessaloniki/George Kogias

„Geschichte ist kein Gefängnis – Geschichte muss Schule sein“

Mit diesem Satz beschreibt Griechenlands Außenminister Nikos Kotzias die Philosophie der Ausstellung, die einen wichtigen Schritt in Richtung Erinnerungskultur tut. Für die Besucher geht es nun darum, Antworten auf jene Fragen zu finden, die von den Kunstwerken aufgeworfen werden. Wer waren diese Leute? Warum ist so lange geschwiegen worden? Wie konnte das jüdische Leben in Thessaloniki einfach aus dem Gedächtnis verschwinden? Dabei wird man sich bewusst machen müssen, dass man den bequemen Weg gegangen ist. Und auch, dass Vergessen die Übel der Vergangenheit vielleicht überdeckt, sie aber sicherlich nicht am Ausbruch in neuer Gestalt hindert.

Jeder wird hier seine eigenen Schlüsse ziehen müssen. Die Menschen in Thessaloniki werden beginnen müssen, die vielen Lücken in ihrer Stadtnarration mit neuem Wissen zu füllen. Und in Deutschland muss man sich darüber bewusst werden, dass das Kapitel Nationalsozialismus noch lange nicht abgeschlossen ist. Die jüdische Gemeinde Thessalonikis hat den damals noch als Außenminister amtierende Frank-Walter Steinmeier, der die Ausstellungseröffnung besuchte, zum Ehrenmitglied erklärt. Dieser sprach diesbezüglich von einem „Wunder der Versöhnung“. Eine Versöhnung, die für die wenigen Juden von Thessaloniki angesichts ihrer Verdrängung aus dem öffentlichen Raum, wohl eher ein schwacher Trost ist.

Text: Florian Schmitz. Fotos: Goethe Institut Thessaloniki/George Kogias.

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