Kriege, Festungen und Verfolgte

Interview mit Alkinoos Ioannidis, Singer/Songwriter

Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: Ελληνικά (Griechisch)

26. Mai 2016: Anlässlich des Konzerts des zyprischen Singer/Songwriters Alkinoos Ioannidis im Kesselhaus der Kulturbrauerei Berlin führte Michaela Prinzinger ein Interview mit dem populären Künstler, der mit seinen Ansichten zu aktuellen und künstlerischen Fragestellungen nicht hinter dem Berg hält. Zum wiederholten Mal bereist Alkinoos den deutschsprachigen Raum, in der Vergangenheit des öfteren in kleinerer Besetzung, diesmal jedoch mit voller Band. Ein Muss für jeden, der sich für das qualitätvolle griechische Liederschaffen interessiert. Das Konzert bildet den vierten und letzten Teil der “Zyprischen Miniaturen”, die in diesem Jahr zum vierten Mal in Folge von der Kulturabteilung der Zyprischen Botschaft organisiert wurden.

Konzertdaten: Alkinoos Ioannidis & Band. Kesselhaus der Kulturbrauerei, Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin. Donnerstag, 26. Mai 2016, 20.30 Uhr.
Veranstaltung: https://www.facebook.com/events/1736906046521031/.  Tickets: https://www.eventbrite.com/e/alkinoos-ioannidis-band-zyprische-miniaturen-2016-tickets-20071087162

BERLIN ALKINOOS POSTER 2016

Du bist 1969 in Nikosia auf Zypern geboren und deine erste Erinnerung ist Krieg, ein Panzer in eurem Garten, die Festnahme deiner Mutter. Der Krieg hat dich geprägt. Heutzutage sind Hunderttausende von Menschen – nicht nur Europa, das darf man nicht vergessen – unterwegs auf der Flucht vor Krieg und Gewalt. Ist der Krieg der „Vater aller Dinge”?

Der Krieg ist etwas Schockierendes, da er das Leben ganzer Völker schlagartig und tief beeinflusst. Es ist ein schmerzhafter Einschnitt in die Gesamtheit des kollektiven und des persönlichen Lebens. Es ist, als würde sich plötzlich ein abgrundtiefer Schlund mitten auf einer Wiese auftun, auf der bis gestern noch unsere Kinder spielten. Krieg ist ein gemeinsamer, ein dauerhafter Bezugspunkt: „Vor dem Krieg …“, „Im Krieg …“, „Nach dem Krieg …“. Krieg ist ein unerschütterlicher Beweis unseres Versagens. Er offenbart, dass wir nicht in der Lage waren, unsere Beziehungen zu den anderen auf eine für alle Seiten nutzbringende Art zu gestalten. Egal, ob man jetzt gewinnt oder verliert, man hat immer versagt. Ich hatte das Glück, nur einen Krieg mit zu erleben. Meine beiden Großmütter haben mehrere Kriege mitgemacht, beide wurden zu Flüchtlingen. Meine beiden Großväter kamen – als Zivilisten – im Zweiten Weltkrieg um. Meine beiden Eltern wuchsen als Waisen und in bitterer Armut an zerstörten Orten auf. Diejenigen, die einen Krieg überleben, haben nur zwei Optionen: Entweder, den Rest ihres Lebens voller Hass zu verbringen und dabei alles, was den Menschen und seine Kultur ausmacht, zu negieren, oder, sich selbst und die Welt neu zu erfinden. In diesem Sinne hatte Heraklit wahrscheinlich doch Recht.

Alkinoos Ioannidis vor seinem Publikum

Es hat immer wieder Migrationsbewegungen in der Geschichte der Menschheit gegeben, die Motive sind fast immer politischer oder wirtschaftlicher Art. Gerade jetzt werden wieder Zäune errichtet. Warum fällt es uns so schwer, unseren Reichtum zu teilen? Was hältst du von der “Festung Europa”?

Eine „Festung“ hält nicht nur das Böse fern, sondern umschließt es auch. Wir alle tragen und nähren in unserem Inneren sowohl Engel als auch Ungeheuer. Wenn sich unser Kampf ausschließlich gegen das Ungeheuer, das die Anderen verkörpern, richtet, wird er erfolglos bleiben. Dieses Ungeheuer hat im Fall der Islamisten auch wegen der von uns Europäern jahrhundertelang betriebenen monströsen Politik riesenhafte Dimensionen angenommen. Der fragile wirtschaftliche Reichtum Europas fußt weitgehend auf der unmenschlichen Ausbeutung anderer Weltregionen. Der wahrhafte europäische Reichtum ist jedoch die europäische Kultur, die in den letzten Jahrzehnten kränkelt und die in unserer Gesellschaft, die den Gewinn vergöttert, eine rein dekorative Rolle spielt. Wenn unsere Kultur tatsächlich so stabil ist, wie wir Europäer gern glauben wollen, dann hat sie vor den Verfolgten nichts zu befürchten: Sie wird den Reichtum, den sie uns bringen, erkennen und sich aneignen können. Wenn unsere Kultur diese innere Stärke aber nicht hat, dann liegt das Problem nicht bei den Verfolgten, sondern bei uns.

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Griechenland und auch Zypern liegen an der Peripherie dieser “Festung” und sind von den neuesten Migrationsbewegungen betroffen. Die Türkei spielt im Mittelmeerraum und auch in der Flüchtlingsfrage eine entscheidende Rolle. Gerade Zypern liegt an der Grenzlinie zwischen “Orient und Okzident” – so nennst du auch eine Platte, die auf die zyprische musikalische Tradition eingeht. Hat die Türkei einen Platz in der Europäischen Union – unter Voraussetzung der Lösung des Zypernkonflikts? Der Nordteil der Insel ist ja immer noch von türkischen Truppen besetzt und völkerrechtlich nicht anerkannt.

Ganz tief in mir drin habe ich den großen, glühenden Wunsch, dass diese tragische Situation ein Ende findet und die türkische Armee, die seit 1974 halb Zypern widerrechtlich besetzt hält, abzieht, so dass alle Bewohner Zyperns wieder in Frieden zusammen leben können. Ich denke, dass die griechischen und die türkischen Zyprioten zusammen etwas Großes, etwas Visionäres aufbauen könnten. Dieses Projekt kann nur auf gegenseitigem Vertrauen beruhen, das wir unter allen Umständen bewahren müssen. Aber solange es Drittländer gibt, die bereit sind, dieses Vertrauen zu untergraben und die Bewohner Zypern abermals zu opfern, nur um ihre eigenen Interessen zu verfolgen, bleibt die Lage gefährlich.

Der griechische Staat befindet sich in einer extrem schwachen Position. Und das ist vielleicht das kleinere Übel, denn jedes Mal, wenn sich Griechenland stark und mächtig fühlte, musste das gesamte Griechentum sowohl innerhalb als auch außerhalb der griechischen Staatsgrenzen dafür die Zeche zahlen. Das klingt wie ein Bonmot, aber leider steckt darin ein großes Stück Wahrheit. Meiner Meinung nach ist die Türkei das große Problem. Sie ist ein expansiver und unberechenbarer Staat, eine lokale Supermacht, die in einem besonders instabilen und explosiven Gebiet mit dem Feuer spielt. Während das türkische Militär das unabhängige Zypern widerrechtlich besetzt hält, versucht die Türkei die Staatengemeinschaft davon zu überzeugen, dass sie selbst nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung sei.

Ich bin sicher, dass die Türkei niemals eine Vereinbarung unterzeichnen wird, die ihr die Tür zu späteren expansionistischen Einsätzen verschließt. Und ich fürchte, dass „wir alle“ schließlich doch wieder etwas unterschreiben werden, das der Türkei ein solches Recht einräumt. Darin würde sich eine neue, zukünftige Tragödie sowohl für die griechischen als auch die türkischen Zyprioten abzeichnen. Wenn man in diesem ganzen Szenario auch noch die Interessen anderer Länder, Unternehmen und Organisationen sowie die unserer eigenen zyprischen Nationalisten – deren Aktivitäten immer schon katastrophale Folgen für Zypern hatten – berücksichtigt, so erscheint alles noch schwieriger. Ich hoffe von Herzen, dass eine Lösung gefunden wird, die den Zyprioten Frieden und Wohlstand sichert. Ich wünsche mir eine Brüderlichkeit, die eine Zukunft fern aller Fehler der Vergangenheit garantiert. Das wünsche ich mir mehr als alles andere in meinem Leben! Nichtsdestotrotz verfolge ich die Entwicklungen mit Sorge…

Alkinoos Ioannidis sitzend mit Gitarre

Zypern ist still und leise aus der Medienberichterstattung verschwunden, und das Land ist dabei, wirtschaftlich wieder auf die Füße zu kommen. Warum gelingt Zypern, woran in Griechenland scheitert? Liegt es an der Mentalität, an den politischen Voraussetzungen, an der größeren Effektivität der öffentlichen Verwaltung?

Ich denke, dass die internationalen Medien ein anderes, interessantes Spielzeug gefunden haben: die Griechenland-Krise. Dasselbe taten die internationalen Finanzaufsichtsbehörden, die ihr Experimentierfeld von einem kleinen auf einen mittelgroßen Staat übertrugen. So wird Zypern bis zu einem gewissen Grad in Ruhe gelassen und versucht nun, die erlittenen Wunden zu verarzten. Auf dem Papier sieht es so aus, als würde es Zypern tatsächlich besser gehen. Aber meinem eigenen Erleben und Aussagen von Landsleuten zufolge hat diese theoretisch positive Entwicklung im „wirklichen Leben“ bisher keine erheblichen Verbesserungen gebracht. Zypern ist ein kleines Land, dessen öffentliche Verwaltung erheblich vereinfacht werden könnte. Ohne die übliche Bürokratie und Sesselkleberei könnte der Verwaltungsapparat wesentlich effektiver sein.

Auf deiner letzten Platte “Kleiner Koffer” beschreibst du im Lied “Politische Stellungnahme” das Psychogramm eines Angepassten, eines Mitläufers, eines Menschen, der auszug, die Welt zu verändern, und als Sushi-Esser und Salonkommunist auf dem Sofa endet. Beschreibst du damit die politische Klasse Griechenlands?

Nein, damit beschreibe ich mich selbst.

Alkinoos Ioannidis auf der Bühne

Du hast den Wahlsieg von Syriza Anfang 2015 als große Hoffnung auf Veränderung und auf das Aufbrechen alter Strukturen begrüßt. Du konntest eine Vision erkennen. Wie sieht dein heutiges Fazit aus? Bist du ernüchtert? Hast du es bereut, deine Position als “leidenschaftlich Parteiloser” verlassen zu haben?

Die Position als “leidenschaftlich Parteiloser” habe ich nie verlassen. Ich habe damals meine Hoffnungen zum Ausdruck gebracht, die auch ein Großteil der Bevölkerung teilte. Es war gleichzeitig auch eine Botschaft an die neue Regierung, was wir von ihr erwarten. Genauso war es auch ein Eintrag in einem persönlichen Tagebuch, der für die nächsten Jahre dort stehen bleibt und der dich daran erinnert, was du dir gewünscht und was du dir von einer neuen Lage der Dinge erwartet hast. Seither ist viel geschehen. Vieles hat sich verändert. Einen Tagebucheintrag löscht man aber nicht einfach, weil ihn die spätere Wirklichkeit Lügen gestraft hat. Man hebt ihn auf, um sich darüber klar zu werden, wer man damals war und wer man jetzt ist. Und auch darüber, wer die Regierenden damals waren und wer sie jetzt sind.

Vor deiner Platte “Kleiner Koffer” hattest du die Koffer fast schon gepackt, um Griechenland mit deiner Familie zu verlassen. Was hat dich bewogen, deine Meinung zu ändern? Was macht dir Hoffnung?

Der Fall, dass wir uns bereits auf die Auswanderung vorbereiteten und dann doch geblieben sind, ist in den vergangenen Jahren drei Mal eingetreten. Es war immer das gleiche Procedere: Wir haben mit den dortigen Schulen Kontakt aufgenommen, um unsere Kinder unterzubringen, wir haben nach einer Arbeitsstelle bzw. einer Weiterbildung für meine Frau gesucht, wir haben Immobilienmakler im Internet konsultiert wegen einer Mietwohnung, wir haben uns mit dort lebenden Freunden und Bekannten kurz geschlossen. Aber wir sind immer noch hier… Beim letzten Mal hatte ich das Gefühl, ich hätte kein Recht, wegzugehen. Weil ich nicht aufgrund einer Notsituation fort muss, sondern weil ich es mir leisten kann. Dieses Land – Griechenland und seine Bewohner – haben mir in den “guten” Zeiten Zuneigung, Anerkennung und künstlerische Freiheit geschenkt. Jetzt, in den schwierigen Zeiten, würde ich mich wie ein Verräter fühlen, wenn ich wegginge. Ich bin geblieben – und zwar nicht, weil ich dadurch den anderen etwas Gutes tun würde, sondern weil ein Weggang eine persönliche Niederlage wäre, die ich in den kommenden Jahren innerlich schwer verarbeiten könnte.

Alkinoos Ioannidis sitzend mit Gitarre

Angesichts von Veränderungen und Bevölkerungsverschiebungen wirkt der Angst-Reflex und ausländerfeindliches Gedankengut, das immer da zu sein scheint, wird an die Oberfläche gespült und sichtbar. Überall erstarken populistische Argumente von Rechts-Außen. In Griechenland ist die “Goldene Morgenröte”, eine Schlägertruppe erster Güte, drittstärkste Partei im Parlament. In Österreich steuern wir auf einen rechtspopulistischen Bundespräsidenten zu. Du hast dagegen mit einem Lied an-geschrieben “Und es wird immer wieder Tag”. Was kann Kunst und Kultur hier an Aufklärung leisten? Erreicht sie nicht immer nur diejenigen, die ohnehin einer Meinung sind? Dient sie nicht ausschließlich der “Selbstbestätigung” einer intellektuellen Minderheit?

So kann man nicht denken, wenn man ein Lied schreibt. Eigentlich interessiert mich in diesem Moment überhaupt nicht, ob sich je ein Mensch findet, der sich dieses Lied anhören wird. Das Lied entsteht, weil du es schreiben musst. Danach wächst und gedeiht es und geht hinaus in die Welt – entweder durch die Plattenproduktion oder durch Lievauftritte in Konzerten oder vor einem kleineren Kreis. Unabhängig von seinem Schöpfer gewinnt es ein Eigenleben in den Lebensumständen der Menschen. Die einen berührt es tief, die anderen ein bisschen, manche gar nicht. Trotzdem hinterlässt es seine Spuren. Andrew Fletscher, ein Schotte aus dem 18. Jahrhundert, hat es so gesagt: “Es ist mir egal, wer die Gesetze verfasst, wenn ich nur immerzu Balladen verfassen könnte.” Auch heutzutage spielt das Lied, das Herz und Seele hat, trotz der enormen Veränderungen eine starke Rolle für uns und beeinflusst unser Leben.

Alkinoos Ioannidis, Autogrammfoto

Zuerst war von der “Griechenlandkrise” medienberrschend die Rede, dann von der “Flüchtlingskrise”. Die Aufmerksamkeitsökonomie braucht negative Schlagzeilen, andernfalls macht sich Schweigen breit. Die zeitgenössische Kultur Griechenlands und Zyperns bekommt wenig Aufmerksamkeit. Trotzdem werden deine Konzerte auch immer mehr vom deutschsprachigen Publikum besucht. Wieso wirkt deine Musik und deine Präsenz, die sehr autenthisch rüberkommt, auch auf Menschen, die deine Texte nicht oder wenig verstehen? Und dabei sind die Texte deiner Lieder ein wichtiger Bestandteil ihrer Wirkung. Wieso kann sie die Menschen, losgelöst von der Sprache, berühren?

Wenn ich im Ausland auftrete, sage ich manchmal im Scherz zum Publikum: Macht nichts, dass ihr meine Texte nicht versteht. Ich verstehe sie ja selbst kaum… Ein echt empfundenes Lied wispert einen geheimen Text in einer gemeinsamen Sprache, die jenseits von Wörtern und Noten hörbar ist. Und diesen Text verstehen wir genau deshalb, weil wir ein Lied mögen – oder auch nicht. Daher gibt es – theoretisch gesprochen – immer wieder Lieder mit mittelmäßigem Text und mittelmäßig guter Melodie, die jedoch direkt zum Herzen des Publikums sprechen. In anderen Fällen kommt es vor, dass uns ein hervorragend getexteter und komponierter Song gar nichts sagt. Auch wenn ganze Werbekampagnen einen “Hit” promoten, auch wenn der Song die Nummer Eins der Hitparade wird und wir diesen Ohrwurm tagtäglich hören, wissen wir, dass er uns bald nicht mehr betreffen wird. Ganz so, als ob wir zufällig jemanden kennen lernen, eine intensive Zeit mit ihm verbringen und ihn dann wieder vergessen. Ein schönes Lied zu schreiben, ist schwer. Aber um ein wahrhaftiges Lied zu schreiben, musst du dich ganz hingeben.

Interview: Michaela Prinzinger. Übersetzung: A. Tsingas/M. Prinzinger. Fotos: Kostas Stamoulis, Nickolas Chryssos.

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1 Gedanke zu „Kriege, Festungen und Verfolgte“

  1. Es ist kein Wunder, dass dieses Interview so viele likes bekommen hat. Und das liegt nicht nur an Alkinoos: Die gestellten Fragen, die den Gesprächspartner zum Sprechen bringen, sind hochinteressant und für sich bereits informativ. Das Interview könnte Teil einer Buchveröffentlichung werden!

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