Der Koloss von Rügen

Gedicht von und Interview mit Giorgos Lillis, Autor

Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: Ελληνικά (Griechisch)

Prora auf Rügen, ein größenwahnsinniger Monumentalbau aus der Nazizeit:  Ursprünglich für 20.000 Feriengäste konzipiert, die “Kraft durch Freude” finden sollten. 6 Stockwerke mit ingesamt 10.000 Zimmern sollten es werden, und alles nur 150 Meter vom Sandstrand der Ostsee entfernt. Die gigantische Ferienanlage wird nach dem Zweiten Weltkrieg von Roter Armee und NVA genutzt. Selbst die Bundeswehr nutzt das Gebäude nach 1990, doch bald schon wird es unter Denkmalschutz gestellt. Heute kann man dort wieder Ferien machen, zum Beispiel in der längsten Jugendherberge der Welt. Unser Redaktionsmitglied Giorgos Lillis ließ sich bei einem Besuch davon zu einem Gedicht inspirieren, das in seinem zweisprachigen Lyrikband “Die Grenzen des Labyrinths” enthalten ist.

1934: „Wir nennen es Programm.
Vergnügungsorganisation. Kraft durch Freude.“
Fünftausend Quadratmeter Beton
direkt am Meer. Die Wirkung einer furchterregenden Mauer,
„ein erstes Bild unserer Allmacht.“ Und sonst
ein ganz gewöhnlicher Urlaubsort.
Von hier aus sind die Soldaten nicht sichtbar, auch nicht
Gefängnisse, Panzer. Hinter den Dünen herrscht
eine andere Wirklichkeit: das Erbe der Nazis.
„Unsere unschuldigen Kinder, die sich mit Völkerballspiel vergnügen.“
Stacheldraht trennt den benachbarten Strand ab, wo
das Warnschild steht:
„Betreten strengstens verboten.“

2004: Graue Mauern
zwischen langgezogenem Strand
und Kiefernwäldern.
Wie Gespenster stehen Trümmer
zersprungene Scheiben, zugestaubte
Gitter. Die Wände mit Parolen besprüht:
„NIEDER MIT DEN NAZIS“, „FASCHISTENSCHWEINE“.

Der Bus fährt in Richtung Strand.
„In einer so schönen Landschaft ist das pervers“,
wispert Martha. Alles wie ein Spuk. Kein
Bauunternehmer wird in eine
so ruhmreiche Vergangenheit investieren wollen.
„Der Koloss von Rügen!“, ruft Vassilis und knipst
das Meer, das ab und zu aus den
Gebäuden herausblitzt.
Wir steigen den Hügel zum Leuchtturm hinauf.
Setzen uns in ein Restaurant, um etwas zu essen.
Von da aus kommt man zu schlichteren Folgerungen:
Die Länge des Strandes
das eindrucksvolle Blau des Wassers
und die finsteren Betonbauten endlos
hintereinander gereiht. Guten Appetit!

Übersetzung: Birgit Hildebrand. Entnommen aus: Giorgos Lillis: Grenzen des Labyrinths. Verlag Leben in der Sprache 2014. Fotos: Frieder Schubert.

Lillis, Cover

Wie kam das Gedicht “Der Koloss von Rügen” zustande? War ein Familienausflug zur Ostsee-Insel Rügen der Auslöser?

Als ich die Insel zum ersten Mal besuchte, war der Anblick dieser Betonburg ein richtiger Schock für mich. Das Gedicht ist spontan in mir entstanden. Aber als ich nach Hause zurückkehrte, las ich zunächst einmal die Geschichte dieses merkwürdigen Gebäudes nach, bevor ich es aufschrieb. Ich sah es auch als eine Art Mahnmal, damit sich so etwas nicht wiederholt. Dieses Gedicht aus dem Jahr 2004 sieht in gewisser Weise die heutigen Verhältnisse voraus, in denen das Neonazitum wieder verstärkt auftritt. Es trägt eine Botschaft in sich: dass wir die Menschen unabhängig von ihrer Herkunft respektieren und endlich lernen müssen, über Grenzen hinweg zu lieben. Das Gebäude steht immer noch da. Es erinnert uns an den Aufstieg und den Fall eines Regimes, das lediglich der Abklatsch eines politischen Systems war.

Du legst einem gewissen Vassilis (ein Freund?) den Ausspruch “Koloss von Rügen” in den Mund. Hat er diesen Ausspruch tatsächlich gemacht? Funktioniert die dichterische Inspiration auf diesem Weg, über ein Wort, einen Ausdruck, der zum Ausgangspunkt für ein Gedicht wird?

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Alles kann mich inspirieren. Die Poesie ist überall gegenwärtig. Manchmal bin ich selbst ganz erstaunt, wie die Dinge, die mich inspirieren, bei mir ihre Wirkung entfalten. Ich hatte gar nicht vor, auf dieser Reise etwas zu schreiben. Die Poesie überkam mich einfach. Die Personen sind real, die Landschaft auch, aber in mir drin verbinden sich Gedanken und Gefühle und werden zu Versen. Das ist merkwürdig und überrascht mich selbst. Vor einigen Jahren war ich auf Mallorca und befand mich durch einen puren Zufall in einem kleinen Dorf, in dem ich wiederum auf einem Friedhof landete, wo das Grab des Dichters Robert Graves liegt. Ich hatte keine Ahnung, dass er dort begraben ist. Plötzlich war ich wie im Delirium und schrieb stundenlang, ohne zu wissen, was ich da schrieb. So konnte ich, durch diese zufällige Begegnung mit dem englischen Dichter inspiriert, den Text „Kleines Testament“ fertigstellen.

Wie fühlst du dich als griechischer Autor im deutschsprachigen Raum? Ergeht es dir ähnlich wie Amanda Michalopoulou, die nach GR zurückkehren musste, um ihre Sprache nicht zu verlieren?

Giorgos Lillis

Ich fühle mich als griechischer Dichter, weil ich in meiner Muttersprache schreibe. Auf Deutsch könnte ich nicht schreiben. Vielleicht nur, wenn ich aufhörte, in meiner Sprache zu träumen. Aber noch träume ich auf Griechisch. Trotzdem beschränkt sich meine Thematik nicht auf Griechenland. Die Texte sind von dem Umfeld beeinflusst, in dem ich lebe. Deutschland hat eine Melancholie an sich, die ich liebe. Es bietet mir eine stabile Lebensgrundlage, die mir hilft, zu schreiben. Ich brauche Ruhe und Abgeschiedenheit, um kreativ zu sein. Das ist in Griechenland schwer zu finden. Die Griechen sind aufgrund ihres Klimas eher extrovertiert. Also schreibe ich deutsche Gedichte auf Griechisch. So ungefähr würde ich es beschreiben. Ich habe die deutsche Sprache gelernt und liebe die deutsche Kultur und Literatur, obwohl ich nicht in literarischen Kreisen verkehre. Ich glaube nicht, dass ich jemals meine Sprache verlieren werde. Da ich jeden Tag in ihr lese und schreibe, befürchte ich nicht, dass so etwas geschehen könnte.

Du hast als Lyriker begonnen, hast dich in den letzten Jahren jedoch verstärkt der Prosa zugewandt. Wie empfindest du diese Entwicklung?

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Eines Tages wandte ich mich der Prosa zu, weil ich der Poesie Zeit geben wollte, wieder zu mir zu sprechen, wenn ich bereit dazu wäre. Man kann nicht ununterbrochen Dichtung schreiben und auch nicht ständig Gedichte veröffentlichen. Außerdem bin ich der Meinung, dass es besser ist, für eine Weile zu schweigen, wenn man gerade nichts Neues zu sagen hat, anstatt sich zu wiederholen. So begann ich also Prosa zu schreiben und habe die Dichtung ruhen lassen, bis sie mich wieder inspirieren würde. So kamen die „Spuren im Schnee“ heraus, mein erster Roman. Inzwischen schreibe ich wieder Gedichte. Den ganzen Sommer über arbeitete ich an dem neuen Gedichtband, der im nächsten Jahr erscheinen soll.

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