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„Ein Liter Suppe und 60 Gramm Brot. Das Tagebuch des Gefangenen 109565“: Zeugnis von Heinz Kounio, sephardischer Jude aus Thessaloniki, über seine Erfahrungen in Auschwitz, Mauthausen, Ebensee und Melk in den Jahren 1943-45 nun in deutscher Übersetzung von Michaela Prinzinger und Athanassios Tsingas im Berliner Hentrich&Hentrich-Verlag.
Thessaloniki, 1943: Der 15-jährige Heinz Kounio wird zusammen mit all seinen Familienmitgliedern von den deutschen Besatzern seiner griechischen Heimat inhaftiert und unter entsetzlichen Bedingungen ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. 23 Mitglieder seiner Familie und 23 Familienmitglieder seiner späteren Ehefrau werden gleich nach der Ankunft dort ermordet. Er selbst arbeitet unter unvorstellbaren Lebensbedingungen zwei Jahre lang als Zwangsarbeiter in vier unterschiedlichen Lagern.
Im Mai 1945 wird Heinz Kounio von US-amerikanischen Truppen unter General George Patton aus dem Lager Ebensee in Oberösterreich, einem Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen, befreit. In einem Notizbuch vermerkt er stichwortartig seine Erlebnisse. Diese Notizen bilden die Grundlage für Heinz Kounios Autobiographie, in der er die menschenunwürdige Behandlung in den NS-Lagern, das dort herrschende Terrorsystem und die unvorstellbaren Entbehrungen beschreibt, die er während seiner Inhaftierung durchleiden musste.
Die 1981 erstmals erschienene Ausgabe erlebt in Griechenland gerade ihre dritte Auflage und wurde auch bereits auf Englisch veröffentlicht.
Heinz Kounio (Jahrgang 1927) stellt im November sein Buch im deutschsprachigen Raum vor.
Termine:
08.11.2016 19:00 Rathaus, Dachau
09.11.2016 19:30 Evangelisches Migrationszentrum (Griechisches Haus), München
10.11.2016 19:00 Zeitgeschichte Museum, Ebensee (Österreich)
12.11.2016 17:00 Buchhandlung Artificium, Berlin/ Anwesenheit der Übersetzer
13.11.2016 11:00 Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin/ Anwesenheit der Übersetzer
Mehr Informationen zu den einzelnen Veranstaltungen erhalten Sie hier auf der Website des Verlags.
Die Familie Kounio
Heinz Kounios sephardischer Vater Salvator führte seit 1917 ein florierendes Fotogeschäft im Zentrum von Thessaloniki (das heute in der vierten Generation fortgeführt wird). In der Stadt lebte damals die größte sephardische Gemeinde Europas. Ladino war die dominierende Sprache. Seine aschkenasische Mutter Hella wuchs behütet in Wien und Karlsbad als Tochter des Architekten Ernst Loewy auf. Als sie Salvator Kounio kennenlernte, brach sie 1925 ihr Medizinstudium in Leipzig ab und folgte ihrem Angetrauten nach Thessaloniki.
Salvator und Hella Kounio bekamen zwei Kinder: Erika (1926) und Heinz (1927). Die Geschwister wuchsen unbeschwert und ohne materielle Sorgen in einem bürgerlichen Haus direkt am Meer auf. Der große Freundes- und Bekanntenkreis der Eltern umfasste in der damals multikulturellen und weltoffenen Stadt Thessaloniki Menschen aller Konfessionen. Die zwei Kinder verbrachten jedes Jahr einen Teil der langen griechischen Sommerferien bei den österreichischen Großeltern.
Um 1900, als Thessaloniki noch zum osmanischen Reich gehörte, machten die jüdischen Einwohner etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung von über 170.000 aus. Man sprach vom „Jerusalem des Balkans“, es herrschte ein reges kulturelles Leben. Der Londoner Vertrag von 1913 schlug das Gebiet Makedonien und damit auch Thessaloniki dem griechischen Staat zu. Danach verringerte sich die jüdische Bevölkerung bis 1940 durch Auswanderung in die USA und nach Palästina auf unter 50 000. Während der faschistischen Metaxas-Diktatur 1936-41 wurden weder Rassengesetze eingeführt noch eine antisemitische Politik verfolgt.
Nach den Novemberpogromen von 1938 in Deutschland und der Zerschlagung der Tschechoslowakei im März 1939 verbrachten Erika und Heinz Kounio ihren Sommer zum ersten Mal nicht in Karlsbad. Die Großeltern siedelten im selben Jahr besorgt nach Griechenland um.
Am 9. April 1941 nahmen die deutschen Truppen Thessaloniki ein. Am 8. Februar 1943 wurden die sogenannten Nürnberger Gesetze auch in Griechenland eingeführt, das Tragen des gelben Sterns wurde Pflicht. Bis zum 25. Februar 1943 war die jüdische Bevölkerung der Stadt in Ghettos zusammengepfercht, am 20. März 1943 starteten die Deportationen nach Auschwitz. Die Macht der Besatzer war einschüchternd, eine Rettung der jüdischen Bevölkerung faktisch nicht mehr möglich.
Um den erbärmlichen Lebensumständen im Ghetto zu entgehen, beschloss Familie Kounio – auch aufgrund falscher Versprechungen eines neuen Lebens in Polen – beim ersten Transport mit weiteren 2.800 weiteren Juden mitzufahren. Ziel des Zuges war das damals unbekannte Auschwitz. Die Kounios waren jedoch die einzigen Griechen dieses Transports, die deutsch sprachen. Sie wurden bereits auf der Rampe als Dolmetscher für die ab nun zahlreich eintreffenden griechischen Gefangenen eingesetzt. Mutter Hella und Tochter Erika überlebten die über zweijährige Internierung als Schreiberinnen in verschiedenen Frauenlagern, Vater Salvator und Sohn Heinz in mehreren Männerlagern.
Nach unbeschreiblichen Aufenthalten in den Konzentrationslagern und den sogenannten Todesmärschen fanden die vier Mitglieder der Familie Kounio im Sommer 1945 in ihrer Heimatstadt Thessaloniki schließlich wieder zusammen.
Text über die Familie Kounio: A. Tsingas. Foto: Artemis Alcalay, www.alcalay.com
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Never again… nie wieder!
von Horst Möller
Das am 25.01.2012 veröffentlichte youtube-Video „il racconto di un sopravvissuto ai campi di concentramento“ zeigt den 85-jährigen Heinz Salvator Kounio – asketisch, lebhaft, unaufgeregt, munter englisch parlierend. Nicht anklagend, sondern nüchtern, sachlich berichtend gibt er Auskunft: Ja, das ist mir widerfahren, und zwar einzig und allein, weil ich ein Jude bin. So bin ich in Thessaloniki verfolgt und deportiert worden, wurde meiner Würde beraubt, litt Hunger, erlitt Schläge, lebte in ständiger Angst, hoffte auf Befreiung, zweifelte am Weiterleben. Nachdem 1996 die deutsche Ausgabe der Erinnerungen seiner Schwester erschienen ist (Erika Myriam Kounio-Amariglio: Damit es die ganze Welt erfährt), ist nun (nach den seit 1981 drei griechischen Auflagen) auf Deutsch auch von Heinz Kounio zu lesen, was ihm, seinen Eltern und seiner Schwester in den Jahren von März 1943 bis Mai 1945 in Auschwitz-Birkenau, Mauthausen und Ebensee angetan worden ist. Erspart blieb ihm, wozu Hafenarbeiter seiner Heimatstadt gezwungen waren. Diese hatten die Getöteten aus den Gaskammern in die Verbrennungsöfen zu schaffen, um dabei letztlich selber ihr Leben zu verlieren. Die Kounios entkamen diesem Schicksal. Sie waren mit der deutschen Sprache vertraut, was sie rettete. „Bei der Befreiung des Lagers [Ebensee] befand er sich in einem Zustand lebensbedrohlicher Erschöpfung. Eine spätere Befreiung hätte sicher seinen Tod bedeutet“ lautet die Unterschrift unter einem der beigefügten Fotodokumente, das Heinz S. Kounio, abgemagert und nur noch Haut und Knochen, zeigt.
Wie ist aus dieser unsagbar schlimmen Lebenserfahrung eine Haltung von beeindruckender Noblesse erwachsen? Kounio berichtet, dass beim Zusammenbruch des Lagerregimes als unmittelbare Reaktion zunächst Rache verübt worden ist. Aber die wieder gewonnene Freiheit in Hass zu ersticken war für ihn keine Perspektive. Er hat viel dazu beigetragen, dass die heute nur noch kleine jüdische Gemeinde von Thessaloniki wieder zu sich gefunden hat. Über antisemitische Ressentiments um ihn herum, die ihm nicht verborgen geblieben sein dürften, verliert er kein Wort. Im Gegenteil, er spricht davon, dass vormals an Nicht-Juden verteilte Waren aus dem Fotoladen seines Vaters – teure Fotoapparate, tausende von Filmrollen – peu a peu seinen Eltern zurückgebracht worden sind, und wie er betont: freiwillig. Vielfach gewürdigt worden ist Heinz S. Kounio dafür, dass er sich gegenüber Gesten der Wiedergutmachung deutscherseits offen gezeigt hat (Bundesverdienstkreuz, Einladung in die Deutsche Schule in Thessaloniki, Lesereise durch die Bundesrepublik und so weiter). Zweifellos steht er über diesen Dingen. Schließlich hat es hierzulande bis in die jüngste Zeit gedauert, dass – zumal aus vornehmlich rein privatem Impuls heraus, wie zum Beispiel von Hermann Frank Meyer und Christoph U. Schminck-Gustavus, – die von Deutschland an Griechenland im 2. Weltkrieg begangenen Verbrechen thematisiert und einer breiteren Öffentlichkeit bewusst gemacht worden sind, allerdings ohne dass das bisher zu dem wiederholt geforderten Schuldenausgleich geführt hätte. Heute gebietet nicht nur der Umstand, dass die Zahl der Zeitzeugen endlich ist, sie umso vernehmlicher zu Wort kommen zu lassen, worum sich neuerdings sogar mit behördlicher Unterstützung ein breit angelegtes Forschungsprojekt bemüht. Zu schnell erwächst aus Geschichtsverdrängung übelste Geschichtsverfälschung. Hiergegen aufzutreten weiß sich Heinz S. Kounio mit allen Gutwilligen aufs engste verbunden. Sein mit gebührender übersetzerischer und editorischer Verve von Michaela Prinzinger und Athanassios Tsingas vorgelegtes Erinnerungsbuch kommt genau zur richtigen Zeit und bleibt eine bittere Mahnung für immer.
Heinz Salvator Kounio: Ein Liter Suppe und 60 Gramm Brot. Das Tagebuch des Gefangenen 109565, Hentrich & Hentrich, Berlin 2016, 255 Seiten, 19,90 Euro.