Ross Daly und die modale Musik

Vortrag des irischen Musikers

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Der irische Musiker Ross Daly, der auf Kreta ansässig ist, beschreibt in einem Vortrag, wie er zum ersten Mal mit dieser für das westliche Ohr fremdartigen Musik in Berührung kam, die in Indien „Ragas“ heißt, in der arabischen und türkischen Musik „Makam“, bei den alten Griechen „Tropoi/Modi“ und in der byzantinischen Kirchenmusik „Ichoi/Klänge“.

Mein Interesse für modale Musik wurde relativ früh geweckt, ich muss damals 14 gewesen sein. Ich besuchte ein Konzert von Musikern aus Nordindien, die eine bedeutende modale Tradition haben. Dort hörte ich den Sarod-Virtuosen Ustad Ali Akbar Khan. Das Konzert fand in einem recht kleinen Theater auf einem College südlich von San Francisco statt, wo ich damals lebte. Bis dahin hatte ich Cello gespielt und klassische und moderne Gitarrenmusik. Doch als ich diese klassische indische Musik hörte, fühlte ich eine seltsame Nähe, ja Vertrautheit zu dieser mir bis dahin unbekannten Tradition.

Ross Daly und sieben Musiker auf der Bühne
Konzert in Berlin, Werkstatt der Kulturen 2015, ©Daniela Incoronata

Sie berührte mich anders und viel tiefer als jede frühere musikalische Erfahrung, die ich gemacht hatte. Als ich nach Hause zurückkehrte, versuchte ich, mit meiner Gitarre, so gut es ging, die Klänge nachzuahmen, die ich während des Konzerts gehört hatte, doch schnell wurde mir klar, dass ich, um sie zu spielen, ein Instrument brauchte, das genau für diese Art von Musik geschaffen war. So wurde dieses Konzerterlebnis zum Ausgangspunkt für eine lange Studienreise in verschiedene Weltgegenden unter der Anleitung einiger der bedeutendsten Lehrer, die mir viele Traditionen nahe brachten, die zum weiten Kosmos der modalen Musik gehören.

Diese Reisen und dieses Studium führten mich an viele Orte. Dadurch begann ich etwas zu begreifen, das viele Menschen aus dem Okzident nicht wissen: Die Welt der modalen Musik reicht im Großen und Ganzen von Westafrika bis Westchina und umfasst beinah die ganze dazwischen liegende Region. Und nicht nur das: Viele sehr unterschiedliche Traditionen aus diesem riesigen geografischen Gebiet scheinen so eng miteinander verbunden zu sein, dass sie fast seiner gesamten Bevölkerung vertraut und nachvollziehbar sind. So erscheint ein Mugam-Stück eines uigurischen Ensembles aus dem Westen Chinas einem Marokkaner seltsam vertraut, und auch ein Naubat-Stück eines marokkanischen Ensembles hört sich für einen Uiguren aus Qashgar nicht allzu fremd an.

Ross Daly
Ross Daly, ©Daniela Incoronata

Ein Deutscher oder Belgier andererseits findet darin möglicherweise gar nichts Vertrautes wieder. Je intensiver ich den Spuren dieser vielseitigen Musiktraditionen folgte, desto mehr wurde ich in meiner Annahme bestärkt, dass es in der riesigen Gemeinschaft der modalen Musik eine klare und deutliche historische Dimension gibt, die mehrere tausend Jahre zurückreicht. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle eine kurze Erläuterung geben, was genau mit modaler Musik gemeint ist.

Die modale Musik ist ein musikalisches Genre, das auf den „Modi“ fußt, die jedoch nicht ganz einfach und mit Genauigkeit zu beschreiben sind. Des Öfteren werden sie als Tonmaterial oder Tonleitern angesehen, die ähnlich wie abendländische Dur- und Moll-Tonleitern funktionieren. Doch diese sehr zahlreichen Tonleitern (sie können je nach Überlieferung bis zu mehreren Hundert umfassen) verwenden über die für das westliche Ohr befremdlichen Klanggebilde hinaus auch die sogenannten „mikrotonalen Intervalle“. Das heißt, es gibt nicht nur die wohltemperierte Tonleiter der westlichen Musik, in der eine Oktave aus 12 gleich großen Halbtönen besteht, sondern es gibt eine ganze Bandbreite anderer Intervalle, die auf genauen und konkreten mathematischen Berechnungen fußen und eine große Vielfalt an genauso präzisen melodischen Ausdrucksmöglichkeiten bieten. Diese Vielfalt als Tonleitern zu bezeichnen ist für das Verständnis ihrer eigentlichen Natur nicht besonders hilfreich.

Kelly Thomas
Kelly Thomas ©Daniela Incoronata

Seit vielen Jahren bin ich der künstlerische Leiter des Musikzentrums „Labyrinth“, das im kretischen Dorf Houdetsi liegt. Eine unsere wichtigsten Aktivitäten ist die regelmäßige Durchführung von Seminaren und Meisterklassen, die sich auf die zahlreichen Traditionen der internationalen modalen Musik konzentrieren. Im Zuge unserer Tätigkeit haben wir Dutzende hochkarätige Musiker und Tausende Schüler beherbergt. Während dieser Zeit haben wir uns selbst keine Förderung einer bestimmten Tradition zum Ziel gesetzt, geschweige denn der Gesamtheit der modalen Musik.

Was wir tun ist, den Besuchern einen Ort und eine Gelegenheit zu bieten, sie selbst zu sein und einander auf Augenhöhe zu begegnen. Dabei wollen wir so wenig wie möglich Einfluss nehmen. Das führt ganz von selbst dazu, dass ein jeder die anderen für sich „entdeckt“ und auf seine eigene Art und Weise und mit seiner eigenen Geschwindigkeit Schritt für Schritt einen Dialog aufbaut, der immer wieder zu Kooperationen und gemeinschaftlichen Projekten führt – je nachdem, was für Bedürfnisse ein jeder hat und was seiner Natur und seinem Charakter entspricht.

auf der Bühne
Konzert in Berlin, Werkstatt der Kulturen 2015, ©Daniela Incoronata

Ich könnte stundenlang davon erzählen, was ich in all den Jahren im „Labyrinth“ erlebt habe und was die wunderbare Fähigkeit der Menschen widerspiegelt – ganz unabhängig von der ethnischen, religiösen oder kulturellen Herkunft – zusammenzuarbeiten, oder auch nur die Gesellschaft der anderen zu genießen. Jedem vernünftig denkenden Menschen wird dabei bewusst, dass die einzig mögliche nachhaltige Zukunftsvision für uns Menschen folgende ist: eine engere Zusammenarbeit herbeizuführen zwischen unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Ursprüngen, aber unter gleichen Bedingungen und Voraussetzungen, mit einer Zielsetzung, die für alle eindeutig und nachweisbar nützlich ist.

Wenn wir diese Forderung auf meine „fixe Idee“ der modalen Musik anwenden, glaube ich fest daran, dass Kreta, das im Zentrum des Mittelmeers liegt, mit seinen kulturellen Beziehungen nach Ost und West, Nord und Süd der ideale Ort sein kann, um einen solch vielseitigen Dialog zu initiieren – mit aller erforderlichen Großzügigkeit, Rücksichtnahme und Bescheidenheit. Denn dieser Dialog ist für den Fortbestand der kulturellen Integrität und Nachhaltigkeit aller Betroffenen unabdingbar. In kleinem Maßstab findet das bereits bei uns im „Labyrinth“ statt. Das habe ich nicht nur an der Art festgestellt, wie die Musiker als Personen harmonisch miteinander umgehen, sondern auch an der Art, wie die Kreter auf eine solche Herausforderung reagieren – mit ihrer langen Tradition der Gastfreundschaft und ihrer kreativen Aneignung unendlich vieler kultureller Einflüsse.

im Probenraum
Workshop im Konservatorium für Türkische Musik Berlin 2015, ©Daniela Incoronata

Es ist kein Zufall, dass sich Menschen, die aus so nahen und fernen Regionen kommen wie Afghanistan, Nordafrika, der Arabischen Halbinsel, dem Transkaukasus, dem Balkan, der Türkei, Indien, Spanien und unzähligen anderen Orten sich hier wie zu Hause fühlen. Dabei ist ganz wichtig, dass auch die kretische Musik eindeutig in diese große Familie der modalen Tradition gehört. Wenn es nun uns schon gelingt, einen Dialog zu initiieren und eine Zusammenarbeit, die sich auf das eingegrenzte Gebiet der modalen Musiktradition konzentriert, wie sollten dann nicht andere Dialoge möglich sein, die weiter gefasste Themen betreffen, die für das Überleben der Menschheit vielleicht entscheidender sind?

Übersetzung: Michaela Prinzinger. Fotos: Daniela Incoronato. Die Website des Houdetsi Musikfestivals: www.houdetsifestival.com

Weitere Informationen zu Ross Daly und dem „Labyrinth“ finden sie unter: www.rossdaly.gr, www.labyrinthmusic.gr

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