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Karwoche auf diablog.eu: Bis 29. April 2017 läuft die Ausstellung „Kreuzigung – Hommage an Matthias Grünewald“ von Ifigeneia Avramopoulou noch in der Athener Galerie PERITECHNON KARTERIS in Kolonaki. Die junge Malerin, die teils in Berlin, teils in Athen lebt, setzt sich darin mit dem Isenheimer Alter, dem berühmten Werk des deutschen Renaissance-Malers, künstlerisch auseinander. Auf diablog.eu lesen Sie dazu die Texte des Malers und emeritierten Professors an der Akademie für Bildende Künste Athen Jannis Psychopedis und der Kunsthistorikerin Lida Kazantzaki.

Kreuzigung – ein künstlerischer Neuansatz
von Jannis Psychopedis
Das Motiv der Kreuzigung war in der langen Tradition der westlichen religiösen Malerei stets ein Anlass für die Kunst, Bestialität und Horror sowie die strafende Brutalität des Menschen auszudrücken. Gleichzeitig stellte es aber auch den Höhepunkt des göttlichen Dramas, den körperlichen und seelischen Schmerz des gequälten Gottmenschen am Kreuz, dar.
Sowohl in ihrer wortwörtlichen, als auch in ihrer metaphorischen Dimension zielt die Kreuzigung – als Symbolisierung des tragischen menschlichen Geschicks oder als göttlicher Weg zur letztendlichen Erlösung – auf das menschliche Sein ab und verkörpert die ewige Suche nach geistiger Transzendenz und das tiefe existenzielle Verlangen nach Glaube und Hoffnung.
In Matthias Grünewald (1470-1528) und seinem richtungsweisenden Werk treffen wir auf einen großen Künstler aus dem Elsass, der uns eines der erschütterndsten Bildzeugnisse der Kreuzigung in der abendländischen Kunstgeschichte hinterlassen hat.
Im „Isenheimer Flügelaltar“ (1512-16) mit seinen Wandelbildern, die den leidenden Christus, die Jungfrau Maria, den Apostel Johannes und in kleinerer Darstellung Maria Magdalena und Johannes den Täufer mit dem antiken Symbol des Lammes zeigen, liegt uns eine reine, zu Herzen gehende Abbildung des göttliches Martyriums vor. Es ist ein emotional stark aufgeladenes Martyrium, das gleichzeitig göttlich und menschlich ist, das uns vor einem düsteren Himmel mit unbarmherziger, brutaler Härte den aufgedunsenen, entwurzelten, wunden Leib des gekreuzigten Christus zeigt. In diesem Meisterwerk religiöser Ausdruckskraft äußert sich das Bild des Leidens zwischen Leben, Tod und Auferstehung.
Dieses Werk bildet Bezugspunkt und Ausgangsmaterial für Ifigeneia Avramopoulous künstlerische Arbeit. Auf Grünewalds unerbittlichen, tiefschürfenden Beobachtungen und Botschaften über das Göttliche und Menschliche aufbauend erfolgt Ifigeneia Avramopoulous kreative Beschäftigung mit dem Kreuzigungsmotiv. Dabei entstand dieser ausdrucksstarke Werkzyklus mit seiner modernen künstlerischen Fragestellung, die sich an die historische Kunst und ihr Erbe richtet.
Ifigeneia Avrampoulous Zyklus „Kreuzigung“ ist eine Hommage an den großen Elsässer Renaissancemaler, der in seinem verstörten Jahrhundert mit einzigartiger Treffsicherheit das dunkle Rätsel unserer Existenz ausgelotet hat. Dieser große Künstler hat der ursprünglich religiösen Erzählung eine pralle, menschliche Dimension verliehen, die den heiligen, göttlichen Leib vergänglich wie einen menschlichen Körper erscheinen lässt. Der göttliche Tod verwandelt sich durch seine Farbpalette zu einem Ereignis des harten, realen menschlichen Lebens.
Ifigeneia Avramopoulous Projekt ist lebendig und interessant. Mit langsamen und methodisch durchdachten Schritten dekonstruiert sie Grünewalds traditionelles Gemälde und setzt die Grundbausteine seines Werks neu zusammen. Dabei verliert sie jedoch keineswegs ihre Spontaneität, sondern erobert mit jedem Schritt neue Freiräume. Es gelingt ihr, das gewählte Thema durch ihre innovativen Zielsetzungen und Varianten – umfassend und in die Tiefe gehend – neu zu gestalten.
Mit einer ausdrucksstarken, freizügigen Malweise, mit schlichten und treffsicheren malerischen Ausdrucksmitteln, mit dynamischen Gesten und mit Gefühl verleiht sie intensiven Linien und Farbflecken einen dramatischen Ton. Das gelingt ihr mit einer klaren, dichten und abstrakt wirkenden Farbgebung – aber nicht im Sinn einer ikonografischen Ergänzung, sondern als tiefgründiges Ausdrucksmittel von Erlebnissen, als direkte Widergabe von Gefühlen, als äußeren Ausdruck und als eine innerliche, existenzielle und dramatische Erzählung.
Ifigeneia Avramopoulou, eine junge, suchende und sinnliche Künstlerin mit großer Ausdrucksstärke, begibt sich auf ihren persönlichen künstlerischen Weg, wagemutig und offen für die essenziellen Herausforderungen. Mit ihrer erprobten und entschlossenen Bildsprache stellt sie sich den schwierigen Fragen des Lebens und der Kunst – so erfolgreich, dass es ihr und ihrer Kunst zur Ehre gereicht. Und sie beweist, dass die Gespenster der (Kunst-)Geschichte nicht der Vergangenheit angehören, sondern gegenwärtig in uns weiterleben. Ifigeneia Avrampoulous Beziehung zur sogenannten Malertradition äußert sich nicht als akademische Studie, sondern als durchdachter Dialog eines heutigen Künstlers mit den Vorläufern aus der Vergangenheit, die einen ganzen Stammbaum bilden.
So erweitert sich Grünewalds großartige „Kreuzigung“ zu einer breiter gefassten Leidensgeschichte und wird zu einer bildhaften Neuinterpretation des heutigen, tragischen Menschseins, der Qualen, Leiden und Hoffnungen des modernen Menschen, der tagtäglich mitten in einer unbarmherzigen Welt ans Kreuz geschlagen wird.
Ifigeneia Avramopoulou spricht für das Heute, und bringt dabei – mit Leidenschaft und Stärke – das Vergangene an die Oberfläche. Durch eine dynamische, zeichnerische und farbbetonte Bildsprache offenbart sie, wie offenkundig die Analogien zwischen den früheren und heutigen Zeiten sind. Dabei überlässt sie Wesen, Inhalt und Standpunkt ihrer Kunst nicht irgendwelchen selbstverliebten, Nabelschau treibenden und dem Postmodernismus frönenden Privatiers. Im Mittelpunkt dieser lebendigen künstlerischen Ausdruckskraft stehen das menschliche Schicksal und die Anteilnahme am Kreuzweg des modernen Menschen. Die Kunst übernimmt bei Ifigeneia Avramopoulou Verantwortung für den leidenden Körper und die menschliche Existenz. Sie leistet durch das malerische Handeln Widerstand. Sie bringt uns zum Nachdenken über unsere gemeinsame Verantwortung für die heutige Welt, die unter einem schwarzen, düsteren Grünewaldschen Himmel Gefahr läuft, sich in eine Schädelstätte zu verwandeln.
Ketzerische Begegnungen
von Lida Kazantzaki
Die Geschichte des Menschen konstituiert sich durch das Gedächtnis. Dort, wo das kollektive dem individuellen Unbewussten begegnet, mutieren die Fakten zu traumhaften oder alptraumhaften Landschaften, verknüpfen sich die Mythen und Märchen, die uns geprägt haben, mit der Alltagsrealität und bestimmen letztendlich unsere Existenz.
Die Kreuzigung bildet einen neuralgischen Punkt bei der Differenzierung der modernen westlichen Welt von den Kulturen des Orients, aus denen sie ja hervorgegangen ist. Ebenso gilt dies für die künstlich herbeigeführten, kriegerischen und zerstörerischen Konflikte, welche die moderne Welt erschüttern und in denen die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Sie lassen uns in den finsteren, irrationalen Stereotypen versinken, die beide Lager auf ihren „Kreuzzügen“ verwenden.
Das Werk von Ifigeneia Avramopoulou schöpft seine Dynamik aus der gestischen Malerei, die sich in klare Umrisse und in einen gut strukturierten malerischen Raum einordnet, aus dem ihre verborgenen Figuren emportauchen. Die Bilder, die sie in einer Mischtechnik aus Acrylfarben und Kohle auf die Leinwand bringt, führen den Betrachter hin zur bewegten und gerade heutzutage wieder aktuellen Geschichte des deutschen Expressionismus.
Die künstlerische Begegnung, die sie mit dem ketzerischen Renaissancemaler Matthias Grünewald herbeiführt, demonstriert ihre konsequente Suche nach gestalterischen und plastischen Ausdrucksformen. Der heute fast vergessene Grünewald, der durch seine plastische Gestaltung, die in die Länge gezogenen Gliedmaßen und den manieristischen Ausdruck der Figuren beeindruckt, war ein Wegbereiter für den grundsätzlichen Bruch mit der gegenständlichen Kunst.
Ifigeneia Avramopoulou schafft durch ihre großflächigen Malerei mit den klaren Farben der „Neuen Wilden“ der 1980er-Jahre rythmische, einander gegenüberstehende Figuren. Sie setzt die besondere Sprache des Neoexpressionisten Markus Lüpertz ein, die aus Elementen des Neokonstruktivismus besteht, um ihren archaischen Formen und ihren vom Schmerz gezeichneten Gesichtern Ausdruck zu verleihen. Sie verwandelt die malerische Oberfläche in einen lebendigen, explosiven Ort, an dem sich die Emotionalität des von jeder Obsession befreiten Menschen ausdrückt.

Ifigeneia Avramopoulou, geb. 1989 in Patras in einer deutsch-griechischen Familie, studierte 2007-12 an der Kunsthochschule Florina. Seit 2014 lebt sie in Berlin, nach zahlreichen Gruppenausstellungen ist „Kreuzigung“ ihre erste Einzelausstellung.
Text: Jannis Psychopedis, Lida Kazantzaki. Übersetzung: Michaela Prinzinger. Fotos: Petros Avramopoulos, Eleftherios Karteris.
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