Extra Ball

Kostproben aus dem Buch von Yiannis Valtis

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Diagnose: Krebs. Yiannis Valtis lässt sich nicht unterkriegen und macht daraus sein erstes Buch: Extra Ball. Der Tumor raubt ihm nicht den Humor. Fassen Sie Mut mit dem frechen und freizügigen Umgang des Autors mit seinem Körper und seinem „Schicksal“. Michaela Prinzinger übersetzte einen Ausschnitt daraus für den Athener Verlag Potamos und diablog.eu.

Yiannis Valtis neben Maskenkopf
Yiannis Valtis mit Alter Ego

Krieg die Kurve!

„Yiannis! Yiannis!“ Die Stimme im dunklen Korridor kam auf mich zu.

Ich musste reagieren, wusste aber nicht genau, worauf.

„Krieg die Kurve!“

„Wie? Was denn?“

„Yiannis, krieg die Kurve!“

„Wer ist denn da?“
Etwas teils Weiches, teils Hartes flog mir ins Gesicht.

„Krieg die Kurve!“, rief Panagiotis genervt.

Ich begriff, dass er mir ein Kissen entgegengeschleudert hatte.

„Ich kann nicht schlafen. Du schnarchst.“

„Uff, sorry, Panagiotis“, sagte ich und drehte mich auf die andere Seite.

Seit ich nach Vourvourou gezogen bin, fahre ich jeden Dienstagmorgen nach Thessaloniki zur Psychotherapie. Danach trinke ich Kaffee mit Freunden, erledige Behördenwege, esse bei Mama zu Mittag und übernachte bei Panagiotis, der etwa dreißig Kilometer von Thessaloniki entfernt in der Nähe von Nea Michaniona wohnt.

Bevor ich totmüde ins Bett falle, muss ich auf Panagiotis’ Befehl hin zwei Kissen, ein Spielzeug-Bärchen und noch ein paar weitere Dinge im Schlafzimmer aufsammeln, die er mir letzte Nacht wutentbrannt um die Ohren gehauen hatte, weil ich so heftig schnarchte.

Es tut mir wirklich leid, dass ich ihn so quäle. Aber als er nach Vourvourou auf Urlaub kam und wir eine Woche lang im selben Zimmer schliefen, hat er sich seltsamerweise kein einziges Mal beschwert.

„Ich schnarche halt. Warum stört dich das? Deine Nerven liegen ja völlig blank.“

„Heute schläfst du vor der Tür, du Armleuchter.“

Als es Nacht wurde, hatte er zum Glück Mitleid mit mir.

Fünfzig Jahre lang versuche ich schon, mich auf das Fallen der Sternschnuppen einzustellen. Aber sie sind immer schon verglüht, bevor ich es schaffe, einen Wunsch zu formulieren. Jedes Mal nehme ich mir vor, eine Idee parat zu haben. Dann vergesse ich wieder darauf. Es ist nicht leicht, sich den einen, großen Wunsch zurechtzulegen. Mittlerweile allerdings kenne ich ihn genau.

Vergeblich habe ich mich mit dem Unternehmertum befasst. Vergeblich mit der neurotischen Welt des Marketing. Umsonst habe ich geflirtet, gelächelt, mir stundenlang Unsinn angehört, umsonst habe ich versucht, mich anzupassen. Es gibt viele Ursachen, die mir die Eitelkeit der Welt vor Augen geführt haben. Ich war der falschen Überzeugung aufgesessen: Je größer dein Erfolg, desto größer deine Freiheit.

Zuerst schwanden mir die Kräfte, dann die Geduld, dann das Interesse, dann das Geld auf den Märkten und zuletzt die Gesundheit und die Fähigkeit zur Selbsttäuschung.

November in Vourvourou. Auf der Halbinsel Sithonia, gleich nach der Ormos Panagias-Bucht. In einer Siedlung von 120 leer stehenden Sommerhäusern. In einem Haus im Bauhaus-Stil, das vor zehn Jahren renoviert wurde, allein, mit guter Internet-Verbindung, mit täglicher, selbst liebevoll zubereiteter Hausmannskost, mit Hausarbeit, Kleinreparaturen, Spaziergängen, Schreiben, Filmarbeiten und Skypen. Oben auf dem Felsen, mit Blick aufs Meer und dem Berg Athos im Hintergrund.

Mit achtzehn räkelte ich mich nach einem heißen Schaumbad – gehüllt in meinen nicht gerade kuscheligen braunen Bademantel – auf dem Wohnzimmersofa. Bis zum Einbruch der Nacht, wenn ich in die Bars gehen konnte, hörte ich die LP Music for Airports von Brian Eno, als meine Mutter, diskret wie immer, eintrat. Als sie gleich wieder kehrt machen wollte, fragte ich sie, was los sei.

„Ach, mein Junge, sei mir nicht böse, aber… Was willst du aus deinem Leben machen?“, lispelte sie.

„Mama, kleine Gegenfrage: Reichen unsere Mieteinnahmen nicht aus?“

„Nicht, wenn du sie mit deinen beiden Schwestern teilen musst, mein Junge“, lispelte sie weiter.

Ich interessierte mich nicht für die Wissenschaft, sondern für Fotografie. Ich hatte eine Kamera mit verschiedenen Linsen, eine Dunkelkammer mit allem Zubehör und entwickelte meine Farbbilder sogar auf Cibachrome-Fotopapier.

So bewarb ich mich für ein Studium in Deutschland, da es in Griechenland nichts Vergleichbares gab.

Schon eindrucksvoll, wie sich die Sonnen- und Mondaufgänge um den Heiligen Berg Athos drapieren. Einmal tauchen sie links, dann wieder rechts vom Berg auf, mal mitten im Meer, dann wieder dort, wo ich Porto-Koufo vermute. Morgens streiten die Möwen um die Plätze auf dem Felsen, den wir als Sprungbrett nutzen, die Bienen schlürfen am violetten Heidekraut und summen um die Felsen, Vodafone hockt im Funkloch, der Meerfenchel vergilbt, der Regen riecht nach Humus und Kiefern, die Nordwinde fegen den Staub vom Himmelsblau, der Lichtkontrast wird härter, der Thermostat klickt, am Kamin ist es gemütlich warm, an den Fensterscheiben lagert sich Salzlake ab. Auf der Veranda spielt die Katze mit ihren schwarzweißen Jungen. Und Kazantzidis, der bullige Kater, sieht zu.

Cuvée aus Xinomavro, Merlot und Cabernet Sauvignon, Jahrgang 2007, Lithinoi-Wein vom Weingut Panagiotidis, Kefalotyri-Käse aus Amfilochia, Parmesan von Lidl, Johannes Cernota plays Erik Satie.

Ich wurde in Köln angenommen, hatte anfangs Probleme, mich einzugewöhnen, auch in die Gefühlswelten, setzte alles daran, in den engeren Kreis des Professors vorzudringen, was mir auch gelang, lernte beim Reiten meine zukünftige Frau kennen, fand einen Job, erlangte das Diplom.

Wir zogen nach Griechenland um, weil ich Angst bekam, mein Lebensweg sei nun vorgezeichnet. In Köln, und nicht dort, wo ich aufgewachsen war, wo ich Freunde, meine Mutter, Schwestern, Besitz und einen Namen hatte.

Alles andere weiß ich nicht mehr so genau. Wie und warum ich heiratete, wie die Kinder kamen, wie ich zum Militär ging, wie ich wieder entlassen wurde, wie ich mein Geschäft aufbaute, wie ich mich verliebte, wie ich mich trennte, wie ich litt, wie die Leidenschaft aufflammte, der Schmerz, die Freude, der Sex, wie eifersüchtig, wie verletzt, wie frustriert ich war, wie verzweifelt ich mich an alte Beziehungsmuster klammerte. Wie ich nach Berlin ging, wie ich mein Herzleiden und meinen Krebs entdeckte, wie es in Essen ans Eingemachte ging, wie ich nach Thessaloniki zurückkehrte, wie fremd ich mich fühlte und wie ich mich entschloss, in Vourvourou zu leben.

Aber warum sage ich: vergeblich? Das Geschäft lief wie am Schnürchen. Ständig war ich auf Reisen, lernte Leute kennen, entwickelte Sympathien und Antipathien, stritt mich, flirtete, betrank mich, erlitt Misserfolge, feierte Erfolge, stand vor Gericht. Ich machte Geld, gewann Anerkennung, warf mich in Positur.

Ich lernte tausend Dinge über die Menschen und noch mal so viel über Bilder und Töne. Aber warum tat ich das alles? Welchen Plan hatte ich auf dem lachsfarbenen Sofa für mein Leben entworfen?

Schon den vierten Tag tobt ein Höllenwind. Die Glaswand ist im Sommer herrlich, wenn man sie beiseite schiebt und das Innere des Hauses und die hölzerne Veranda verschmelzen. Doch im Winter weht kalte Luft herein. Ich hebe den Blick vom Laptop und betrachte zerstreut die See. Hoch peitschende Wellen. Das Meer schäumt vor Wut.

Wie viele Flüchtlinge werden heute wieder auf dem Weg nach Lesbos ertrinken? Wann werden wieder Tote an Land gespült? Warum bin ich hier?

„Schrei nicht so laut, du alter Sack, das bringt mich ganz durcheinander.“

„Ach, du mein Sensibelchen“, spottete Panagiotis.

„Und was soll „Krieg die Kurve!“ heißen?

„Keine Ahnung. Reiß das Ruder herum, tu was, wach auf.“

Yiannis Valtis mit Mozartstrümpfen vor Flügel
Yiannis Valtis à la Mozart

Sigi

„Wann ich zuletzt mit dem Notarztwagen unterwegs war? Ich glaube, als ich den Magendurchbruch hatte.“

„Warst du da ganz allein?“

„Nein, ich…, das heißt, der Esel, und vermutlich mein Freund..“

„Esel? Welcher Esel?“

„Der Esel nennt sich selbst zuerst. Das sagt man so, wenn man einen Satz mit Ich anfängt.“

Ich musste lachen.

Beim Gedanken an ihren letzten Lebensgefährten, der im Vorjahr an ihrer Seite gestorben war, begann sie zu weinen. Lange streichelte ich ihr über den Rücken, dann fiel sie mir in ihrem gelben Morgenmantel um den Hals und weinte an meiner Schulter weiter. Sie meinte, sie wolle nicht weiter heulen, aber sie habe große Schmerzen, wenn sie die Tränen hinunterschlucke. Ich küsste sie auf die Stirn und brachte sie zum Lachen. Sie küsste mich auch auf die Stirn und sagte: „Danke.“

Es sind jetzt drei Wochen her, dass ich Sigrid kennengelernt habe. Ihr Freund nannte sie immer Sigi. Fünfundsechzig, gut aussehend, kurz geschnittenes, schütteres blondes Haar, deutsche Militärpension, verschwollenes Gesicht, Mundkrebs.

Ich hatte zufällig neben ihr auf der kleine Bank unten an der Klinik Platz genommen. Dass sie jemanden sehr streng abkanzelte, hatte meine Aufmerksamkeit erregt.

„Dein Verhalten finde ich daneben. Du hattest keine Zigaretten und kein Geld mehr. Verständlich, das kann jedem passieren. Deshalb habe ich dir gestern Abend mein Päckchen gegeben. Aber warum grüßt du mich heute nicht einmal? Oder lächelst mir wenigstens zu?“

Während sie schimpfte, floss die dickflüssige beige Flüssigkeit aus dem Tropf durch die Kanüle und verschwand in ihrem Ärmel.

„Was gibt`s heute bei dir zu Essen?“, fragte ich sie, nachdem der andere, der Abgekanzelte, davongeschlichen war.

„Filetsteak mit Pfeffersoße und Speckkartoffeln“, antwortete sie. „Ohne Salat.“

„Mmhh, lecker!“, sagte ich.

„Im Ernst, genau das habe ich mir gerade vorgestellt. Noch fünf Monate Geduld, dann esse ich das wirklich. In zwei Monaten kommt der Tumor raus, dann werden alle Zähne gezogen und die Implantate eingesetzt. Oder, wenn das Geld nicht reicht, kriege ich ein künstliches Gebiss. Jetzt würde ich gern eins wissen: War ich zu streng mit ihm? Aber warum grüßt mich der heute nicht?“

„Nein“, sagte ich. „Das hast du gut gemacht.“

Mit der Zeit kamen noch andere auf dem Bänkchen dazu, allesamt verwitwet. Sie dachten an ihre verstorbenen Männer zurück, wurden melancholisch, weinten, dann lachten sie wieder. Sie freuten sich sehr, einen jüngeren Mann in ihrem Kreis zu haben, das gab ihnen neue Lebenskraft. Zwar schäkerte ich mit allen ein bisschen, aber Sigi hielt mich fest an der Kandare. „Finger weg, sonst müssen eure Kanülen dran glauben!“, rief sie unter allgemeinem Gelächter. An den Abenden versammelten wir uns ab und zu in einem leeren Zimmer und spielten Barbotte. Der Gewinner musste am nächsten Tag mit einem roten Cowboyhut herumlaufen. Bald hatten wir bei den Krankenschwestern den Spitznamen Die Ranger.

Ich hatte genug davon, die chemische Flüssigkeit in meinem Tropf zu beobachten, und ging zum Bänkchen hinunter. Keine war zu sehen. So machte ich mich auf den Weg zum Aufenthaltsraum, traf unterwegs aber zum Glück Kostis, einen jungen, sehr sympathischen Griechen, der Griechenland entflohen war, um hier einen Job als Arzt zu finden. Er hatte gerade Mittagspause und leistete mir Gesellschaft. Während unserer Unterhaltung tauchte Sigi auf und nahm neben uns Platz. Kostis sprach sie gleich an.

„Ihre Untersuchungsergebnisse sind da“, sagte er. „Der Tumor ist stark geschrumpft, die Operation steht jetzt fest.“

Diesmal gelang es mir nicht, sie am Weinen zu hindern. Sie weinte und weinte, auch vor Schmerzen. Und sie streichelte mich.

Am Nachmittag hatte ich Ausgang, meine Blutwerte waren in Ordnung. Ich suchte sie in ihrem Zimmer auf und wir tauschten unsere Handynummern aus. Am nächsten Morgen sollte sie in ein anderes Krankenhaus verlegt werden.

Ich weiß nicht mehr, womit ich abends im Zimmer gerade beschäftigt war, als mein Handy den Refrain von Ziggy Stardust intonierte. Ich griff danach und las die Nachricht.

„Lieber falscher Holländer…“ So nannte sie mich wegen meiner Aussprache und meiner blauen Augen. „Versprich mir eins: Wenn ich wieder Zähne habe, gehen wir zusammen Steak essen. Mit Pfeffersoße und Speckkartoffeln. Gute Nacht.“

Parkbank vor einer Klinik
Die Bank, auf der Yiannis Vatlis Sigi kennenlernte

Konstrastmittel

Ich spülte den duftenden Seifenschaum von den Händen, drückte auf den Knopf, hielt sie unter den warmen Luftstrom, wischte sie dann an meinen Hosenbeinen endgültig trocken und blickte in den Spiegel. „Auf geht’s!“, sagte ich mir.

Dann trat ich aus dem WC-Vorraum, wandte mich zum Fahrstuhl und drückte auf Minus Eins.

Dort nahm ich im Warteraum Platz, beobachtete heimlich meine Umgebung und musste über die Formulierung der Warnung grinsen: „Wenn Sie glauben, Sie sind schwanger, informieren Sie bitte das Personal.“ Dabei musterte ich die sehnigen Knöchel und die blau hervortretenden Venen der neben mir sitzenden Dame mittleren Alters, bis mich die junge blonde Krankenschwester, deren hornhäutige Fersen aus ihren Crocs lugten, zu sich rief, um mir die Schmetterlingskanüle zu setzen.

Seit zwei Stunden war ich schon in der Privatklinik, hatte das Kontrastmittel mit Anisgeschmack genommen, mit den Röntgenassistenten den üblichen Witz über das Ouzo-Aroma gerissen und wartete auf die Computertomografie von Brust und Bauchraum.

Ein kleiner Anflug von Furcht vor den Untersuchungsergebnissen flatterte mir durch den Magen, aber noch viel mehr Respekt jagte mir ein Satz ein, den die Krankenschwester gleich zu mir sagen würde, bevor ich die Liegefläche des Tomografen bestieg: „Ziehen Sie, bitte, Ihre Hosen bis zu den Knien herunter.”

Ich trug nämlich keine Unterhose.

Dabei war mir klar, dass ich mich nicht wegen meiner Nacktheit schämen würde, sondern wegen der Größe meines Penis, der durch die Macht der Gedanken auf die Ausmaße einer kleinen Pfeife geschrumpft war. So drückte es jedenfalls meine Ex immer aus, wenn sie ihn in diesem Zustand sah. Pfeifchen.

„Der Kanon des Polyklet“, meinte die Jetzige, die ganz besonders gebildet war. Polyklet bezog sich dabei auf die Spannkraft junger und die der Schwerkraft unterliegenden Penisse älterer Männer.

Ich stemmte mich ein paar Zentimeter aus dem bequemen schwarzen Sessel hoch, ließ dann meine hundert Kilo wieder auf die Sitzfläche plumpsen, klappte meine Schenkel ein paar Mal auf und zu, reckte meine Nase vorsichtig nach vorn und schnupperte diskret die aufsteigende Luft. Keinerlei Fäkal-Aroma. Ich entspannte mich.

Das Konstrastmittel verursachte mir immer Durchfall, diesmal jedoch sollte es eine wahrhaft höllische Nebenwirkung entfalten.

Vor zwei Stunden hatte ich den Inhalt von vier, bis oben hin mit Anisaroma gefüllten Bechern eingenommen. Es erheiterte mich, dass man es in Deutschland mit diesem fruchtigen Geschmack servierte.

Gelangweilt wartete ich im Aufenthaltsraum des Kellergeschosses ab, bis es seine Wirkung entfaltete. Darüber hinaus erwiderte die elegante Dame mit den hübschen Knöcheln keinen einzigen meiner durchdringenden Blicke. Ich beschloss, ins Erdgeschoss hochzugehen, um einen Espresso zu trinken, eine Zigarette zu rauchen und bei der Gelegenheit auch gleich die mir im Rahmen der Kapitalverkehrskontrollen täglich zustehenden sechzig Euro aus dem etwa einhundert Meter entfernten Bankautomaten der griechischen National Bank zu ziehen.

Gerade als ich dem Aufblättern der blauen Zwanziger im Inneren des Geräts lauschte, entwich mir unversehens ein gepresster Furz.

Und als sich die Euroscheine aus der Arschfalte aus Edelstahl schoben, rann die warme braune Soße bereits meine Schenkel runter.

Instinktiv machte ich die Beine breit, damit die Hose nicht beschmutzt wurde. Mir brach der Schweiß aus. Der Pullover begann zu zwicken und zu jucken. Mir wurde noch heißer.

Mühsam stelzte ich durch den Vorhof des Krankenhauses, trat gleichzeitig mit einem Herrn durch die glänzende Glasdrehtür, schwitzte erneut, ging am künstlichen Wasserfall vorüber, der aus schwarz glitzerndem Marmor entsprang, wandte mich nach rechts, gelangte zu den Toiletten, trat in den Vorraum, schloss die Tür hinter mir, ging in die Herrentoilette, verriegelte sie, zog die Schuhe aus, die Jacke, den Pullover, das Unterhemd, löste den Gürtel, zog vorsichtig die Hose hinunter, schob mit dem Innenrist meines Fußes die Boxershort nach unten, betätigte die Spülung und, ohne dass ich vorher die Brille auf gelbe Tropfen mit klebrigen Härchen untersucht hätte, explodierte mein Inneres unter donnernden Fürzen in die Klomuschel.

Einer Streubombe gleich wurden die Tröpfchen gegen die weiße Prozellanwand geschleudert.

Das Toilettenpapier war alle.

Ich angelte mir die Hose vom Boden, tastete die Innenseite ab, fand die feuchte Stelle und führte sie an die Nase. Dort, in Schenkelhöhe, war die Hose zum Glück nur ein wenig verschmutzt.

Vorsichtig stieß ich die Tür auf, schob den Kopf aus der Toilette und stellte sicher, dass keine Menschenseele im Vorraum war.

Dann schloss ich die Tür wieder, wischte mit den trockenen Teilen der Boxershort Schenkel und Anus sauber, rollte sie zusammen und vergrub sie ganz unten im kleinen Edelstahlmülleimer.

Dann öffnete ich die Tür wieder, lief nackt und nur mit den schwarzen Socken bekleidet, in die Damentoilette, packte ein Dutzend Papierhandtücher, kehrte zum Waschbecken im Vorraum zurück, feuchtete sie an und raste wieder zurück in die Herrentoilette.

Meine Socken waren nass geworden. „Blöde Fotze!“, dachte ich. „Musst du daneben pinkeln?“ Dann stopfte ich sie zur zusammengerollten Boxershort in den Mülleimer.

So gut es ging, wischte ich mich mit den feuchten Papierhandtüchern sauber und trocknete mich mit meinem weißen Unterhemd ab. Die feuchten, fleckigen Papiertaschentücher tat ich dann in den Eimer und legte das weiße Unterhemd obenauf.

Zum Schluss zog ich den Rest meiner Kleider bis auf die Unterwäsche wieder an und verließ die Toilette.

Im Vorraum wusch ich mir die Hände, trocknete sie ab und schlug den Weg zum Fahrstuhl ein.

„Herr Váltis?“, rief die Krankenschwester im Aufenthaltsraum, mit Betonung auf der ersten Silbe.

„Valtís!“, entgegnete ich mit Betonung auf der zweiten Silbe, genervt von der falschen Aussprache, aus der hervorging, dass ihr der Nachname zum ersten Mal unterkam.

„Kommen Sie weiter, Herr Váltis“, antwortete sie, wieder mit falscher Betonung, ungerührt.

Ich trat in den CT-Raum, stellte meinen Rucksack in einer Ecke ab, zog Jacke und Pullover aus und blieb vor der Liegefläche des Geräts stehen.

„Wissen Sie“, sagte ich mit fester Stimme zur jungen Krankenschwester. „Das Kontrastmittel hat mir heute gar nicht gut getan. Ich habe mir in die Hose gemacht. Haben Sie vielleicht ein Laken, mit dem ich mich zudecken könnte?“

„Aber klar, ich bringt ihnen eins“, sagte sie und trat aus dem Zimmer.

Kurz darauf kam sie zurück, deckte mich zu, schloss mich an die Schmetterlingskanüle an, wünschte mir alles Gute für die Untersuchung und ließ mich allein.

Das Kontrastmittel wärmte mir angenehm die Eier.

auf Pariser Platz vor Brandenburger Tor
Tänzchen mit dem Monster: Yiannis Valtis in Berlin

Aus der Haut gefahren

Der Hotelfahrstuhl ruckelte immer beim Stehenbleiben. Auf dem Weg hinunter zum Frühstücksraum im Mezzanin machte mir das nichts aus. Aber wenn ich mit einer Tasse heißen Kaffees wieder in mein Zimmer hochfuhr, musste ich eine kleine Kniebeuge machen, um den Ruck abzufedern. Sonst hätte ich mir die Hand verbrannt.

Noch ganz schlaftrunken stieß ich die schwere Fahrstuhltür auf, deren Scharniere etwas Öl vertragen konnten, säuselte das klassische „Guten Morgen!“ und ging nach rechts zum Frückstücksbüffet. Nur zwei Tische waren belegt, an denen zwei Paare zwischen Vierzig und Fünfzig saßen.

Ich wählte zwei Sorten Wurst, drei Würfelchen Butter, ein Schälchen Honig und zwei knusprige Brötchen. Drei Hälften würde ich mit Salami essen und die vierte ganz am Schluss mit dem Honig. Obwohl ich schon sechs Wochen hier war, konnte ich mich immer noch nicht entschließen, welche Hälfte ich lieber mochte: die obere oder die untere.

Als meine Tochter zu Besuch kam, versuchte ich, endlich Klarheit zu schaffen, und fragte sie nach ihrer Meinung. Aber auch sie war unschlüssig.

Als erstes bestrich ich eine der unteren Brötchenhälften mit Butter.

Die Paare waren mittlerweile in eine lebhafte Unterhaltung verwickelt.  Das heißt, vor allem die Frauen. Die Männer übten sich in Komparsenrollen, etwa, indem sie eine vollkommen nebensächliche Einzelheit korrigierten, oder wie auf Bestellung eine hanebüchene Schlussfolgerung zogen. In der übrigen Zeit zeigten sie sich mit den Worten ihres Ehegespons einverstanden, Jaja, wiederholten sie und nickten zustimmend. Die erste Person Plural schien die einzig erlaubte Kommunikationsform der Damenbegleitung zu sein. „Wir machen dieses und jenes, wir fahren dort und dorthin, wir werden operiert,“ und so weiter und so fort.

Das eine Paar kannte ich schon vom Sehen. Sie hatten am Vorabend an einem der Nebentische im eigentlich ganz guten Italiener „Venezia“ gesessen. Auch sie hatten die Pizza Speciale bestellt, eine der köstlichsten Pizzen, die ich je gegessen habe. Als sie aufbrachen, ließen sie eine halbe Portion auf ihrem Platz zurück. Augenscheinlich hatten sie keinen Appetit. Fast wäre ich aufgestanden und hätte mir den Rest unter den Nagel gerissen. Nur war ich mittlerweile vom „italienischen“ Temperament der türkischen Inhaberin, über die Vulgäres kursierte, so genervt, dass ich kühl nach der Rechnung rief und ging.

Die meisten italienischen Lokale in Essen werden von dumpfbackigen Türken aus dem tiefesten Orient betrieben. Nur die Deutschen schnallen es nicht. Wenn man ihre Lokale betritt, legen sie mit ihrer grässlichen Aussprache los: Bon giorno, come stai? Va bene? Zunächst fuhr ich wegen der Unverschämtheit der dunkelhaarigen, immer nach demselben Muster geklonten Typen aus der Haut, und ein zweites Mal wegen der Naivität der rotbackigen Wonneproppen. Jetzt antworte ich ihnen direkt auf Italienisch, stelle komplizierte Fragen, die sie nicht verstehen, worauf sie entnervt den Schmus sein lassen. Wenn sie mir das Essen bringen, fragen sie en passant, was für ein Landsmann ich sei. Wenn ich dann „Grieche“ sage, fangen sie die eklige Schleimerei an, von wegen Völkerfreundschaft, nur die Politiker seien Schuld, sie selbst hätten Kemals Geburtshaus besucht, Thessaloniki sei ja sehr schön, vor allem die alte Oberstadt. Und dann antworte ich ganz unterkühlt und einsilbig, um ihnen noch mal ordentlich eins aufs Dach zu geben. Die Sache ist nämlich die: Die Italiener sind die einzigen Lokale, in denen man ein bisschen leichtere Kost bekommt. Das jugoslawische Restaurant an der oberen Straße ist zwar lecker und der Gastraum gefällt mir gut, weil dort früher ein deutsches Bierlokal war mit dem klassischen Halbdunkel, schweren Holztischen, mit Spannteppich, deutschen Dauertrinkern als Stammgästen, mit Grüppchen grölender Rentner, mit einem kaputten Zigarettenautomaten und 8-Euro-Menü. Doch alle Speisen schmecken nach Bratfett, alle Soßen nach Knorr, alle Salate nach demselben Joghurt-Essig-Dressing. Der Chinese ist ganz okay, hat aber nur Pfannengerichte. Der Grieche aus Katerini an der Ecke geht so, aber sein bedrohlich gelangweilter Blick, seine giftige Neugier, seine lästigen Kommentare während des Essens, und die Tatsache, dass du weißt, er findet dich genauso unsympathisch wie du ihn, weil ihr beide Griechen seid, führt dazu, dass gar nichts mehr geht. Der Türke in der Straße gegenüber ist mittelmäßig, aber ich kann mich sowieso nicht auf die Dauer von fettigem Döner ernähren. Und der Montenegriner mit der geilen Frau ist teuer, unfreundlich und ein Vollidiot.

„Wir werden heute das Hotel wechseln, wir ziehen um ins Atlantis. Das Zimmer hier stinkt nach Zigarettenrauch, ja, das ganze Hotel ist in einem schrecklichen Zustand, schauen Sie sich nur die Krümel auf dem Tisch an. Ich frage mich, ob hier je sauber gemacht wird. Und besonders billig ist es auch nicht, 45 Euro die Nacht. Außerdem findet man in der Gegend keinen Parkplatz. Es wurde uns gestern vom Krankenhaus empfohlen, aber ich werde mich beschweren, dass sie uns Patienten diesen Schweinestall ans Herz legen.“

„Wir finden es hier auch ganz unmöglich!“, stimmte der weibliche Teil des anderen Paares zu. „Und das Internet hat Schneckentempo.“

Immer wieder bestätigten sie einander ihre Meinung über das heruntergekommene Hotel, während sie sich gegenseitig ins Wort fielen, um noch eins drauf zu setzen. Die endlose Beschwerdeliste dehnte sich noch auf weitere Themen aus. Was für ein Pech die Ehemänner mit ihrer Krebserkrankung hätten, wie sehr sie selbst unter dem Übel litten, wie sie sich abstrampelten, alles unter Dach und Fach zu bringen, dass die nervigen Versicherungen die Benzinkosten nicht decken würden, dass ihnen keiner aus der Familie zur Seite stünde, wie schrecklich die Restaurants in Essen seien, dass die gestrige Pizza im Venezia ungenießbar gewesen sei, aber dass trotzdem alles gut gehen würde, da sie rechtzeitig reagiert und vorgesorgt hätten.

Ich versuchte, das Frühstück schnell hinter mich zu bringen, um wieder die Ruhe meines Zimmers zu genießen, aber selbst die dicke Butterschicht auf meinem Brötchen konnte nicht verhindern, dass mir ihr verdammtes Genörgel auf die Nerven ging.

„Und Sie?“, sprachen sie mich an. „Sind Sie auch wegen einer Behandlung hier?“

„Ja“, antwortete ich.

„Sind Sie schon lange hier? Wo kann man in dieser… äh, Stadt, denn gut essen gehen?“, fragten sie.

„Keine Ahnung“, erwiderte ich. „Ich mache eine Haferkur.“

Dann stand ich auf, füllte eine Tasse mit heißem Kaffee und schlug den Weg zum Fahrstuhl ein. Bloß die Kniebeugen nicht vergessen, dachte ich und drückte auf die 3.

Hotelbett
Kleine Aufmerksamkeit des Hoteliers: die Gurte für die Strahlentherapie

Ich hatte – eine der Nebenwirkungen der Medikamente – Stuhlverstopfung, zog die statisch aufgeladene, schwarze, elastische isothermische Unterwäsche an, dann die klobigen, billigen Pseudo-Wanderstiefel und ging zur Klinik hinunter, um meine Nieren nach der gestrigen Chemotherapie-Dosis mit drei Liter Serum durchspülen zu lassen und die Lungenbestrahlung zu absolvieren.

Ein paar Mal kam ich auf dem spiegelglatten Bürgersteig ins Rutschen, wartete frierend auf das grüne Ampelmännchen, wich einem aggressiven Rollstuhlfahrer aus und musterte das Skelett und die Tragetasche mit dem Totenkopf im Schaufenster des Buchladens. Dann durchquerte ich die Lobby des Krankenhauses.

Drei Stunden später hatte ich alles hinter mir und machte mich auf ins Stadtzentrum, um die Zeit bis zum Nachmittag totzuschlagen, bevor ich mich wieder aufs Zimmer zurückzog.

Ich schlenderte durch fünf, sechs Warenhäuser, hatte aber keine Lust zum Shoppen, schließlich hatte ich die Nase voll und beschloss, mich in mein Lieblingscafé zu setzen, das mit den Heizpilzen und den Fleece-Decken auf den Gastgartenstühlen, wo das Rauchen erlaubt war und man den Passanten hinterhergaffen konnte.

Ich bestellte heiße Schokolade, die postwendend eintraf, zündete mir eine Zigarette an und begann mit der Beobachtung.

Mich zogen ihre Augen an. Die Figuren, die Kleider, das ganze Umfeld interessierten mich nicht, ich blickte nur in ihre Augen. Und ab und an auf einen Arsch.

Die Männeraugen blickten geradeaus, fahrig, ergeben, gehorsam, schafsnasig, komplexbeladen.

Die Frauenaugen aber… Unruhige, kühle, fordernde Augen, die registrieren, anzweifeln, vergleichen, klassifizieren, tadeln, verurteilen, anklagen, schelten, verraten.

Die keinen Kontakt, keine Aufmerksamkeit, keine Anerkennung, keine Ablehnung, keinen Schmerz, keine Freude, keine Vergebung, keinen Flirt, keinen Sex, keinen Anderen, keine Liebe anstreben.

Verbarrikadiert hinter Fleisch gewordenen Airbags.

Wie ihre glänzenden Wagen mit ABS, EBS, CDS, SS.

Wie ihre hochwertigen Fenster und Türen, die durchgestylten Duschkabinen, die perfekt gleitsicheren Bodenbeläge, die effizienten Haftpflichtversicherungen, die modischen Gadgets, die exotischen Kochbücher, die Hochglanzjournale fürs Reisen und Schöner Wohnen.

Wie ihre Werbeanzeigen für rundum abgesicherte Abenteuerreisen, ihr geschmackloser Rucola und ihr fades Obst.

Regenbogen über dem Meer vor Vourvourou
Regenbogen über dem Meer vor Vourvourou

Vourvourou

Nach anderthalb Jahren Single-Dasein erschreckt mich schon der bloße Gedanke an ein Zusammenleben. Zum Glück sind die Kinder schon groß und leben in Deutschland, Partnerin habe ich keine. Aber Freunde kommen jede Menge vorbei. Bei ihrer Ankunft freue ich mich noch, aber nach zwei Tagen warte ich schon ungeduldig auf ihre Abreise. Ich brauche viel Zeit für mich, um mich selbst zu verstehen. Es würde mich nicht stören, wenn sich das änderte, aber ich lege es nicht darauf an.

Und natürlich habe ich immer noch Angst. Aber es ist eine akzeptable Angst. Es ist weder Horror noch Panik. Eher so etwas wie Melancholie.

Yiannis Valtis vor Berliner Wohnhochhäusern
Yiannis Valtis in Berlin, auf dem Weg der Besserung

Zwei Welten

Ich segle durchs All. Früher wusste ich sogar, wie alles funktioniert. Jetzt ist es mir egal. Ich spiele nur noch.

Text und Fotos: Yiannis Valtis, übersetzt von Michaela Prinzinger, Ausschnitt aus seinem Buch Extra Ball, Potamos 2016.

Yiannis Valtis wurde 1964 in Thessaloniki geboren, studierte Fotografie in Köln und arbeitete als Fotograf, Regisseur und Video-Produzent im PR-Bereich. Für seine Produktionen wurde er auf interationalen Festivals in Frankreich und in den USA ausgezeichnet.

Er ist im Bereich Video-Blogging tätig und hat durch seine Web-Kampagne zur Wahl von Giannis Boutaris als Bürgermeister von Thessaloniki beigetragen, darüber hinaus unterstützt er in gleicher Weise Kulturorganisationen wie die Biennale in Thessaloniki, das Sani Festival auf der Halkidiki und die Aktivitäten des Makedonischen Museums für Zeitgenössische Kunst in Thessaloniki. Seine Texte werden in griechischen Online-Magazinen mit hoher Reichweite publiziert und er unterhält eine wöchentliche griechischsprachige Satiresendung bei Cosmo-Elliniko Randevou (WDR). Beim 18. Dokumentarfilm-Festival in Thessaloniki stellte er seinen Film „1.000 Miles“ vor.

Yiannis Valtis hat zwei Kinder und lebt in Berlin und Vourvourou, Halkidiki. „Extra Ball“ ist sein erstes Buch.

Buch-Cover: EXTRA BALL

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2 Gedanken zu „Extra Ball“

  1. Schmunzel.

    Aber:

    “Dann vergesse ich wieder darauf.”?

    “Ich machte Geld (…)” Texte lassen sich zu Geld machen, aber hier handelt es sich um einen vermeidbaren Anglizismus.

    “tiefesten? Orient”

    Antworten
  2. Beeindruckend.
    Und verstörend.
    Und toll:
    “Und natürlich habe ich immer noch Angst. Aber es ist eine akzeptable Angst. Es ist weder Horror noch Panik. Eher so etwas wie Melancholie.”

    (Habe selbst Krebs).

    Antworten

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