548 Tage unter falschem Namen

Buchvorstellung eines Zeitzeugenberichts

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„Meine Geburtsstadt ist Saloniki. Juden lebten dort seit der Antike“, so beginnt die Griechin Rosina Asser Pardo ihren Zeitzeugenbericht. Zwischen April 1943 bis Oktober 1944 versteckt sich die fünfköpfige Familie in der Wohnung christlicher Mitbürger, der Arztfamilie Karakotsos, im Herzen der Stadt und entgeht dadurch der Deportation in die Todeslager. In dieser Zeit führt die zehnjährige Rosina ein Tagebuch, das unser Redaktionsmitglied Athanassios Tsingas für die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas ins Deutsche übertragen hat.

Die jüdische Gemeinde von Saloniki zählte vor dem Zweiten Weltkrieg etwa 53.000 Mitglieder. Die durch die deutschen Besatzer von März bis August 1943 erfolgten Deportationen überlebten weniger als zweitausend von ihnen. Der historische Rahmen des schmalen Buches wird durch das erhellende Nachwort von Ulrich Baumann und Uwe Neumärker gesetzt. Der durch Familienfotos und selten publizierte historische Aufnahmen ansprechend gestaltete Band wird am 20. März 2018 in Anwesenheit zweier Kinder von Rosina Asser Pardo und des Übersetzers an der FU Berlin präsentiert.

Informationen zu dieser kostenlosen Veranstaltung finden Sie hier: https://www.facebook.com/events/249898655549299/. Um Anmeldung wird bis zum 16. März 2018 gebeten unter: veranstaltungen@stiftung-denkmal.de.

Die 1999 erstmals erschienene griechische Ausgabe wurde auch ins Englische übersetzt. Auf diablog.eu lesen Sie das Kapitel über die Flucht aus dem Salonicher Baron-Hirsch-Ghetto im April 1943.

Kennkarte für Eugénie, Rosina und Denise Pardo
15. März 1943: Kennkarte für Eugénie, Rosina und Denise Pardo, erstellt am ersten Tag der Deportationen, © The Jewish Museum of Greece, Athen

DAS VERSTECK

Nach all den Razzien der Deutschen galt es, keine Zeit zu verlieren, jeder musste sein eigenes Heil finden.

Einer der Rettungsvorschläge kam von Familie Negreponti, Marias Familie. Sie hatten vorgeschlagen, mich zu sich zu nehmen. Dieser Schlupfwinkel war aber sehr unsicher, die ganze Nachbarschaft kannte mich. Dann kam der Vorschlag von Dr. Giorgos Karakotsos. Er wohnte an der großen Straßengabelung Diagonios in der Tsimiski-Straße 113. Wir sollten vorübergehend in seiner Wohnung unterkommen. An diesen Sonntag, wahrscheinlich dem ersten im April 1943, kann ich mich minutiös erinnern. In meinem Tagebuch gibt es dazu aber keine Einzelheiten. Ich vermied sie für den Fall, dass die Deutschen es finden würden. Frau Phädra sollte auf uns im hinteren Bereich des Geländes der Internationalen Messe warten. Und zwar am Ende der Leoforos Stratou [Allee der Armee] – des breiten Boulevards, der parallel zur Via Egnatia verläuft – auf dem linken Gehweg in Richtung Zentrum.

Saloniki 1943, Umzug von Juden ins Ghetto
Saloniki 1943: erzwungener Umzug von Juden ins Ghetto, ©Comité International de la Croix Rouge, Genf

Es ist merkwürdig, wie sich manche Erinnerungen ins Gedächtnis einbrennen und dort feuerwerkartig die Nacht erhellen: Mein Mantel mit den braunen Lederapplikationen in Form von Kätzchen, meine Mutter, die den gelben Stern auftrennt, Denise im rosafarbenen Strickmantel, die eisige kleine Hand der Fünfjährigen in meiner. Wir spazierten aus dem Ghetto heraus, gingen in die Außenwelt, die uns schon lange vorenthalten wurde. Ich denke, dass das über einen unbewachten Durchlass geschah, zu dem wir gebracht wurden. Ich versuchte, gelassen zu wirken, hatte aber große Angst. Der Weg war lang und für meine kleine Schwester anstrengend. Wir gingen und gingen, meine Füße taten irgendwann weh und ich zog auch noch die Kleine hinter mir her – aber da sah ich sie schon: Frau Phädra trug das blauweiße Kostüm, das man mir beschrieben hatte. Auch sie erkannte uns prompt. »Du wirst Roula heißen«, sagte sie zu mir, »und du bist bestimmt Nitsa«, meinte sie in Richtung der Kleinen. Am selben Abend folgte Lily in die Tsimiski-Straße 113 und in der nächsten Nacht kamen – verkleidet – auch unsere Eltern.

Saloniki Baron-Hirsch-Ghetto
Saloniki: Eingang zum sogenannten Baron-Hirsch-Ghetto, ©Comité International de la Croix Rouge, Genf

Nach zwei Monaten »Gefangenschaft« verkleideten sich eines Abends Mimis bzw. Triantafyllos, also unser Vater, und Evgenia, vormals Eugénie, unsere Mutter, wieder. Sie nahmen ihre falschen Ausweise mit, betraten das Ghetto als Christen und kehrten am nächsten Abend zurück. Besucht hatten sie Lina und Maurice Recanati. Im Keller des Einfamilienhauses ihrer Freunde hatten meine Eltern Gold vergraben. Das brauchten wir zum Überleben. Dieses gewagte Unterfangen war zum Glück erfolgreich und sie kehrten unversehrt zurück. Nach einiger Zeit brach Lina mit ihren zwei Jungen, Lakis und Mimis, nach Athen auf – als Spanier, die Nationalität, die Lina vor ihrer Hochzeit innehatte. Maurice aber wurde aufgegriffen und kam in Auschwitz um.

Rosina Asser-Pardo und Familie
Chaim und Eugénie Pardo mit den Töchtern Lily (1929–2012) und Rosina (*1933), ©Archiv Victor Asser

Als ich diese Seite, Nummer 14 des Tagebuchs, schrieb, muss es nach meinen Berechnungen Juni 1943 gewesen sein. Meine Hauptbeschäftigung bestand darin, zu lesen, zu schreiben (offensichtlich in mein Tagebuch) und zu spielen. Das Spiel war eins meiner Hauptanliegen und ich hatte es nicht verlernt. Wir kletterten auf die Dachterrasse der Tsimiski-Straße 113 und spielten Dampfer. Das Podest, auf das wir dort hochkletterten, war für uns ein Schiff. Wir legten ab und reisten auf Meeren und Ozeanen in ferne Länder, die frei und nicht unterjocht waren. So beschäftigte ich die zwei Kleinen, Nitsa und Philon, den Sohn des Arztes. Aber auch ich schwebte dahin, spielerisch getragen von meinen Tagträumen.

Saloniki, Juden auf dem Weg zu den Zügen
Saloniki, heimliche Aufnahme zwischen März und August 1943: Juden auf dem Weg zu den Zügen nach Auschwitz und Treblinka, ©Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau

Rosina Asser Pardo: 548 Tage unter falschem Namen. Vom Untergang der jüdischen Gemeinde Saloniki, herausgegeben von Ulrich Baumann und Uwe Neumärker, übersetzt von Athanassios Tsingas; Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, 2018, 88 Seiten, ISBN: 978-3-942240-30-7.

Text: Rosina Asser Pardo. Übersetzung: A. Tsingas. Abdruck von Text und Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas.

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