„Himmelweg“ oder die Unsichtbarkeit des Grauens

Interview mit der Theaterregisseurin Elena Karakouli

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Die griechische Regisseurin Elena Karakouli inszeniert Juan Mayorgas „Himmelweg“ im Rahmen des diesjährigen Theater-Festivals von Athen und Epidaurus. Einige Tage vor der Premiere am 7. Juni sprach sie mit der diablog-Mitarbeiterin Elena Pallantza über das Stück.

„Himmelweg“. Ein zynischer Euphemismus der Nazis für die Rampe, die in die Gaskammern führte. Und der Titel des Theaterstücks von Juan Mayorga, dem prominenten spanischen Theaterschriftsteller, das auf einer realen Begebenheit basiert: dem Besuch einer Delegation des Roten Kreuzes im Lager Theresienstadt im Juni 1944 und dem Versuch der SS durch eine „Stadtverschönerung“ den Alltag im Lager als eine Idylle zu präsentieren, um die internationale Öffentlichkeit zu täuschen und etwaige „Gerüchte“ zu zerstreuen.

Juan Mayorga, Himmelweg
Juan Mayorga, „Himmelweg“, ©Elina Giounanli

Lass uns mit dem Faktum beginnen. Was hat Dich an dieser relativ unbekannten Geschichte fasziniert?

Was in Theresienstadt stattgefunden hat, ist zwar eine Nebengeschichte, doch auch ein Teil der Wirklichkeit und keine literarische Erfindung. Es gab Menschen, die diesen Plan geschmiedet, bis ins kleinste Detail vorbereitet und umgesetzt haben. Das monatelange Unternehmen der Beschönigung im Vorzeigeghetto war eine große Täuschung. Die Fassaden der Gebäude wurden gereinigt und gestrichen, eine Schule, Restaurants, ein Spielplatz wurden errichtet, die Straßen haben Namensschilder bekommen. Die Häftlinge wurden zu Stadteinwohnern, jemand wurde zum Bürgermeister der selbstverwalteten Stadt ernannt. Die Kulisse für ein Schauspiel, das offensichtlich überzeugen konnte, als die Delegation des Roten Kreuzes den geplanten Besuch durchgeführt hat.

„Ich habe nichts Unnatürliches gesehen, ich konnte ja nicht erfinden, was ich nicht gesehen habe. Hätten sie [die Häftlinge] mir geholfen, hätte ich die Wahrheit geschrieben“, entschuldigt sich im Nachhinein der leichtgläubige Vertreter des Roten Kreuzes. Gewissensberuhigung, gefährliche Naivität oder zynische Lüge?

Wir sollten hier zunächst die historischen Personen und Mayorgas Helden auseinanderhalten. Im Rahmen meiner Recherche für das Projekt sah ich in dem berühmten Dokumentarfilm von Lanzmann ein Interview mit Maurice Rossel, dem schweizerischen Delegierten des Roten Kreuzes, einem reuelosen alten Mann, sehr nüchtern. Das einzige, was eine Aufregung vermuten ließ, war die manische Art, mit der er rauchte. Er schien es sich in seiner eigenen Lebenslüge gemütlich gemacht zu haben. In Mayorgas Stück ist der Gesandte des Roten Kreuzes hingegen ein Mann, der von der Vergangenheit heimgesucht wird. 25 Jahre lang erlebt er jede Nacht den gleichen Alptraum und kehrt an den Ort zurück, den er zu jener Zeit besucht hat. Er behauptet jedoch, nichts gesehen zu haben, keine Öfen, keine abgemagerten Häftlinge, nichts. „Ich habe eine fast normale Stadt gesehen“, schrieb er in seinem Bericht, und besteht darauf, dass er auch im Nachhinein den gleichen Bericht wieder schreiben würde. Im Stück wird jedoch deutlich, dass da eine Reue ist, die ihn zurück an den Ort des Verbrechens bringt, zu einem öffentlichen Geständnis.

Juan Mayorga, Himmelweg
Juan Mayorga, „Himmelweg“, ©Elina Giounanli

Eine Version der „Banalität des Bösen“ …

Wir treffen des Öfteren die Wahl, nicht hinzuschauen, auf das, was neben uns geschieht. Es ist eine Entscheidung, und dieses Verhalten hat mit Sensibilisierung zu tun. Goebbels Sekretärin, Brunhilde Pomsel, gab legte mit 106 Jahren ein Geständnis ab: „Wir wollten es ja auch nicht wissen.“ Es ist diese Entscheidung, die Augen zu verschließen, das Geschehen nicht an sich heranzulassen.

Grausam ist es aber auch, den Opfern die Verantwortung zuzuweisen, sie hätten sich nicht ausreichend beschwert.

Es ist sicherlich viel bequemer, anderen die Schuld zu geben. Der Gesandte des Roten Kreuzes wirft den angeblich privilegierten Juden eine Passivität vor, weil sie ihn nicht um Hilfe gebeten und nicht protestiert hätten, statt sich selbst dafür zu beschuldigen, dass er nicht sah, was er hätte sehen müssen. Er sei, sagt er, „die Augen der Welt“ gewesen. Aber diese Augen sahen nur das, was man ihnen zu sehen gab. Es waren viele Türen da, die nie geöffnet wurden.

Also ist „Himmelweg“ nicht nur „Erinnerungstheater“ für den Holocaust.

Dazu möchte ich auf den Schriftsteller verweisen, der in wenigen Tagen bei der Premiere in Athen dabei sein wird. Er hat uns einen sehr wichtigen Brief geschickt, in dem er unter anderem schreibt: „Die Zuschauer sahen in „Himmelweg“ nicht nur einen Ausschnitt aus dem dunkelsten Kapitel der europäischen Geschichte abgebildet, sondern auch ein Werk über die Tötung von Unschuldigen, die Ausbeutung der Opfer, die Propaganda, die Euphemismen, die Unsichtbarkeit des Grauens. Schauen wir aufmerksam um uns herum, ist das alles heute leider wieder zu sehen. Und ich denke, es gibt eine zentrale Frage in „Himmelsweg“, die sich jeder selbst stellen kann: Ob ich, mitten auf der Bühne der Welt, nicht bloß eine Rolle bin, die von anderen geschrieben und inszeniert wurde.“

Juan Mayorga, Himmelweg
Juan Mayorga, „Himmelweg“, ©Elina Giounanli

„Die Unsichtbarkeit des Grauens“, diese nur angedeutete Präsenz des Alptraums, ist in der Tat ein immer wiederkehrendes Thema im Theater von Juan Mayorga. Wie bist du damit in deiner Inszenierung umgegangen? Was geschieht oder was geschieht nicht in „Himmelweg“?

Nichts ist im Stück realistisch. Es gibt Anspielungen, unausgesprochene Handlungen. Die Täuschung, die Manipulation – das hat mich sehr beschäftigt. Deshalb gibt es auch über die Aufführung hinaus eine Ausstellung mit visuellem Material dazu. Es gibt auch einen Moment in unserer Vorstellung, den es in Mayorgas Stück nicht gibt, in dem die Realität bis auf die Bühne vordringt. Mayorgas Anliegen ist nicht, die historische Wirklichkeit zu rekonstruieren. Er untersucht das komplexe Verhältnis zwischen Opfern und Tätern, die Mechanismen des menschlichen Bewusstseins, die Macht des Spektakels und der Überzeugung und die Natur des Tricks. „Himmelweg“ ist eine Studie der Täuschung.

… was in gewisser Hinsicht das Wesen des Theaters ausmacht?

Ja, das Stück ist auch ein Kommentar zur Kunst des Theaters. „Wenn ein Schauspieler einen Nagel einschlägt, dann schlägt er einen Nagel ein, während er gleichzeitig nichts tut“, so beschreibt der deutsche Kommandant die Melancholie des Schauspielers, wenn der Vorhang fällt. Aber wir müssen etwas Grundlegendes klarstellen: Theater hat nichts mit manipuliertem Betrug zu tun. Es setzt eine Wahrheit voraus, die Wahrheit des Schauspielers, des künstlerischen Schaffens. In den zwei Stunden, die ein Stück dauert, bietet das Theater die Erfahrung eines konzentrierten Lebens an.

Möchtest du uns von den beiden anderen Personen erzählen? Vom Kommandanten …?

Der deutsche Kommandant ist der Regisseur des Spektakels, ein gebildeter Mann, der Theater und Literatur liebt. Oft verwendet er Theaterbegriffe und er ist dabei, das Werk seines Lebens zu kreieren. Er ist von seiner Phantasie überwältigt, schreibt ein Drehbuch, verteilt Rollen. Und es bestätigt eine der tragischen Lehren aus der Geschichte der beiden Weltkriege, dass ein hoher Bildungsstand nicht ausreicht, um Barbarei und Entmenschlichung zu verhindern. Sein Alibi lautet: „Auch mich erstickt die Sprache der Bürokraten, es ist nicht meine Sprache, schau dir meine Bibliothek an… Aber es ist die Sprache, die der Situation entspricht, eine Sprache der Ziele und der Entscheidungen.“

Juan Mayorga, Himmelweg
Juan Mayorga, „Himmelweg“, ©Elina Giounanli

Und der jüdische Vermittler, der die Psychologie der Opfer für den Täter übersetzt? Ist er de facto eine positive Figur?

Der jüdische Vermittler ist derjenige, der als Dolmetscher dient. Dieser Mann hat die schwierige Aufgabe, seine eigenen Leute zu retten, indem er mit seinem Henker kooperiert. Er weiß nicht, ob er Zeit gewinnt oder ob er ihnen schadet. Er ist de facto eine positive Persona, er ist das Opfer. Und er ist auch ein Mensch, der lebenswichtige Entscheidungen zu treffen hat. Seine Rolle ist komplex.

Liest man das Stück, hat man den Eindruck, dass keine einzige eindimensionale Antwort gegeben wird.

Genial ist auch, wie das Stück endet: mit einer Probe, die niemals endet.

Und der Zuschauer kennt zwar die Wahrheit, bleibt aber zugleich in einer Distanz, da er das Grauen hinter den Kulissen nicht sieht. Wie wirkt sich das auf seine Teilnahme aus?

Im Idealfall wünsche ich mir, dass der Zuschauer in den gleichen Prozess wie der Gesandte des Roten Kreuzes einbezogen wird. Er soll getäuscht werden, die Lüge entdecken, die Wahrheit erkennen und seinen eigenen Bericht schreiben, seine eigenen Assoziationen herstellen – mit dem Wissen von heute.

Und die Hoffnung? Woraus entsteht sie neu?

In seinem qualvollen Versuch, Auschwitz’ Logik zu verstehen, schreibt Primo Levi: „Auschwitz war kein plötzliches Abschweifen, sondern die logische Konsequenz der Ereignisse.“ Darin sehe ich die Hoffnung. Wenn wir diesen Satz begreifen, sind wir vielleicht in der Lage, die Augen offen zu halten für das, was um uns herum geschieht.

Im Stück gibt es eine Szene, in der ein kleines Mädchen nach den Anweisungen aus dem Drehbuch des Kommandanten zu seiner Puppe sagen muss: „Sei höflich, Walter! Sag diesem Herrn guten Tag!“ Am Tag der Inspektion fällt es aus der Rolle und sagt: „Flieh, Rebecca, der Deutsche kommt!“ Und zerstört damit einen perfekt inszenierten Moment. In dieser Zerstörung liegt auch eine Hoffnung. Im authentisch unbeugsamen Teil des Menschen, das jeder von uns in sich trägt. Vorausgesetzt, es wird gesehen. Vorausgesetzt, es geht nicht in einer Maskerade unter.

Interview: Elena Karakouli/Elena Pallantza. Fotos: Elina Giounanli.

Juan Mayorga, „Himmelweg“
Übersetzung: Maria Chatziemmanouil
Regie: Elena Karakouli
mit: Nikos Psarras, Dimitris Papanikolaou, Thanassis Dimou, Ilias Andreou, Elli Papanikolaou, Melissanthi Regkoukou
Φεστιβάλ Festival Athen-Epidaurus
7., 8., 9. και 10. Juni 2019, 21:00
Piraios 260, 182 33 Tavros
*mit griechischen und englischen Übertiteln

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