Die Sprache der Musik

Band mit Essays und Interviews von Mikis Theodorakis

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„Der Kosmos des Mikis Theodorakis“: Reden, Interviews und Essays, soeben erschienen in einer Sonderausgabe für das toskanische Weingut Nittardi. Der Komponist hat für das Ettikett des Chianti Classico 2017 eine Musik-Schemata-Zeichnung zur Verfügung gestellt. Sie können den Band und auch den „Casanuova di Nittardi, Vigna Doghessa“ über die Firma Stefania Canali, Grüneburgweg 123, 60323 Frankfurt am Main, Tel. 0049 69 720999, info@stefania-canali.de bestellen. Übersetzt wurden die Texte von Asteris Koutoulas, Michaela Prinzinger und Theo Votsos. Lesen Sie auf diablog.eu exklusiv das Interview zur „Sprache der Musik“!

zwei buecher vor rotem hintergrund

Titelgrafik: „Musikalischer Kosmos“ von Mikis Theodorakis, vom Komponisten gezeichnet für das Buch: Asteris Kutulas, Werkverzeichnis von Mikis Theodorakis, Athen 1997.

Die Sprache der Musik

Jede Kunst hat ihre eigene Sprache. Ein Gemälde, der Parthenon, ein Musikstück „sprechen“ die Menschen in ihrer eigenen Sprache an. Wie „spricht“ die Musik? Wie drückt sich der Komponist durch die Musik aus?

Ich glaube nicht, dass es darauf eine prosaisch-logische Antwort gibt. Wenn es sich um eine wirklich künstlerische Schöpfung handelt, dann führt sie zurück zum mystischen Kosmos des geistigen Schaffens, des Entstehens einer neuen Welt aus dem Nichts, aus dem Chaos, das die uns unbekannte, seelische und geistige Seite des Menschen ist.

Wie entsteht eine Komposition, wenn es keine Textvorlage gibt?

Die Musik ist autark. Wenn sie aus dem Unbewussten zum Verstand vordringt, hat sie jedes Mal ihre eigene Klangform, ihren eigenen Körper, ihre eigene Bewegung, Dauer und Dynamik. Sie ist eine Klangquelle, die wie das Wasser aus einem großen oder kleinen, reichlichen oder spärlichen Klangreservoir quillt, das der Komponist in seinem tiefsten Innern verschlossen hält und das einen Weg nach draußen sucht.

Die verschiedenen Formen wie Lied, Oratorium, Symphonie etc. sind die „Gefäße“, die von Volk zu Volk, von Gesellschaft zu Gesellschaft variieren und in die das Wasser der Quelle fließt, die ohnehin darauf sinnt, entweder als Fluss ins Meer zu strömen oder durch die Sonne zum Himmel aufzusteigen.

Was sind die Auslöser dafür?

Ich würde sagen, hauptsächlich sind es innerliche Auslöser und weniger äußerliche. Zu den äußerlichen würde ich zunächst klanglich-musikalische Anregungen und in der Folge private oder allgemeine Begebenheiten zählen. Es ist ein hübscher Mythos, dass der Komponist von einer Person, einer Tatsache, einer Leidenschaft, einer Idee oder Ähnlichem beeinflusst wird. Sicherlich trägt auch das zur letztlichen Ausformung des Werks bei, doch wie gesagt stammt die schöpferische Kraft vorwiegend aus dem seelischen Erleben, das teilweise übermächtige Formen annehmen kann. Daraus entstehen Angst, Schmerz und Verzweiflung. Dann strömen die Klänge empor wie ein Gegengift und füllen die Seele des Komponisten mit Freude, ja Glückseligkeit. Dieser Seelenschmerz ist möglicherweise der Tatsache geschuldet, dass sich ein musikalischer Embryo bildet und zu einem kleinen Körper heranwächst, der geboren werden muss.

Was kann die Musik dem Zuhörer vermitteln?

Die Musik spiegelt getreu die Sphärenharmonie wider. Die Grundlagen des Komponierens werden ja im Unterrichtsfach „Harmonielehre“ vermittelt. Da gibt es beispielsweise Intervalle oder Akkorde, die wir konsonant und dissonant nennen. Warum? Was macht den Unterschied? Warum empfinden wir den einen Intervall zwischen zwei Tönen als „konsonant“ und den anderen als „dissonant“? Von diesem einfachen Bespiel ausgehend könnten wir annehmen, dass sich auf dem Grund jeder Menschenseele ein dunkles, regloses Klangidol verbirgt, das zum Leuchten und Pulsieren gebracht wird, sobald es mit einem wahrhaften musikalischen Werk in Kontakt kommt. Dieser Prozess löst beim Zuhörer – genauso wie beim Komponisten – ein Hochgefühl der Seele aus. Der Unterschied ist nur, dass es Letzterer ist, der die kleinen Klangsonnen hervorbringt, um die Planeten zu erhellen.

Wie würden Sie dieses „Hochgefühl“ genau definieren?

Dadurch unterscheidet sich der Mensch vom Tier- und Pflanzenreich. Einem verstandesgemäßen Hochgefühl kann man ansatzweise auch bei verschiedenen Tierarten begegnen, aber dem seelischen nur beim Menschen. Darin liegt der grundlegende Unterschied. Daraus speist sich auch die Kraft der Kunst, schon seit den primitiven Gesellschaften. Der Mensch hungert und dürstet nach seelisch-spiritueller Nahrung, und diese Bedürfnisse sind genauso groß wie die körperlichen. Menschen und Gesellschaften, die beide Nahrungen wertschätzen, sind ausgeglichen. Wer die Kunst unterschätzt, ist unausgeglichen, das heißt defizitär, rudimentär, unglücklich und schlussendlich gefährlich.

Porträt Mikis Theodorakis
Mikis Theodorakis, ©Asteris Kutulas

Wie wählt der Komponist den Text aus, den er vertonen will?

Das Gedicht ist eins der vorhin erwähnten „Gefäße“, die der Komponist aus seinem geheimen Reservoir füllt. In meinem Fall ist es so: Wenn ich ein Gedicht lese, spüre ich, dass es der musikalischen Empfindung entspricht, die ich momentan in mir trage. Das Gedicht ruft die Musik in mir nicht hervor. Es dient nur als Auslöser dafür, dass die Musik, die ohnehin darin enthalten ist, die entsprechende Form und den entsprechenden Inhalt annimmt, die mit Form und Inhalt des Gedichts vollkommen übereinstimmen. So erklärt sich die Tatsache, dass ich mit der Musik, die ich für ein bestimmtes Gedicht geschrieben habe, auch einen anderen Text „einkleiden“ kann.

Wird der Liedtext durch die Musik bloß wiedergegeben oder weist er über sich hinaus?

Mit Sicherheit weist er über sich hinaus. Immer wieder entgeht dem Durchschnittsleser der Bestandteil der Dichtung, der den Intellekt und das Hier und Jetzt überschreitet. Wenn es der Musik gelingt, das zu erfassen und auf ihre Art auszudrücken, nimmt es der Leser mit den Fühlern seiner Seele direkt und ohne Vermittlung des Verstandes wahr. So gelangt er auf einem anderen Weg zum Kern der Dichtung.

Gibt es von Ihnen vertonte Lieder, deren Worte der Zuhörer durch die Musik besser versteht als durch bloße Lektüre?

Ja, genauso ist es, wenn das momentane (darauf bestehe ich) musikalische Sammelbecken eins wird mit der Essenz des Gedichts, dann beleuchtet der Komponist, von seiner eigenen Inspiration ausgehend, die Schlüsselwörter und stärksten Aussagen des Gedichts, die wie die Armierungseisen eines Schiffs dem Ganzen Form und Kraft verleihen. Der den Intellekt übersteigende Bestandteil der Musik füllt die immateriellen Bedeutungen des dichterischen Wortes mit Fleisch und Blut.

Ihre Art zu dirigieren hat nichts mit der typischen Art eines speziell ausgebildeten, hauptberuflichen Dirigenten zu tun. Liegt es daran, wie Ihre Musik zu Ihrem Publikum „spricht“?

Als Komponist stecke ich klarerweise mehr als jeder andere in der „Haut“ meiner Musik. Über diese selbstverständliche Tatsache hinaus glaube ich, dass mich meine Auffassung des Rhythmus von vielen anderen Dirigenten unterscheidet. Während die Musik – und zwar jede Musik – vom Tanz her auf der Basis von Rhythmus entstanden ist, ist die westeuropäische Musik aufgrund eines verkopften Strebens bei dem Extrem angelangt, die verschiedenen Rhythmen als intellektuell entstandene, fleischlose und immaterielle Formen zu betrachten, als seelenlose Notation auf dem Papier. Das führte dazu, dass die westeuropäischen Musiker des Öfteren das Grundgerüst der Musik vergessen, seine rhythmische Substanz, dank derer der Corpus, also der Körper des musikalischen Werks zum Stehen, zum Gehen, zum Laufen kommt. Stellen Sie sich einen Körper ohne Wirbelsäule vor… Dieses Gefühl habe ich, wenn ich Dirigenten dieser Schule vor mir sehe.

Das Vorspiel Ihrer Lieder ist eine eigenständige Musik und nichts, was einer puren Konvention folgt. Bei anderen Komponisten könnte man meinen, dass sie bloß ein paar Noten an den Anfang setzen, um die Takte bis zum Einsetzen des Gesangs zu überbrücken. Bei Ihnen ist das eine eigene, großartige Melodie. Dafür gibt es unzählige Beispiele…

Ich bin in der Tat auf die Vorspiele, aber auch die orchestrierten Zwischenspiele, die sogenannten musikalischen Brücken in meinen Liedern stolz. Sie tragen dazu bei, dass das Lied ein vollständiger, ein vollendeter musikalischer Kosmos ist – mit Anfangsteil, Mittelteil und Schluss. Das Vorspiel führt uns in die geistige Welt des Werks ein. Das geschieht entweder durch Rückgriff auf bestehende musikalische Elemente oder, indem man einen neuartigen musikalischen Ausdruck für die essenzielle Botschaft des Liedes findet.

Welche Sprache spricht das einzelne Instrument? Wie „hören“ Sie den Klang eines jeden Instruments? Wie setzen sie es ein?

In meiner populär ausgerichteten Musik richtete sich die Wahl der Instrumente nach der Ebene, auf der das griechische Volk sie rezipierte. Ich wollte mich ihm annähern, sein Vertrauen und seine Akzeptanz gewinnen. Und der einzige Weg dahin war, meine Musik mit vertrauten Hörererlebnissen auszustatten, die seinen Vorkenntnissen und seinem Geschmack entsprachen. Gleichzeitig wurzelten meine ersten auf ein breites Publikum ausgerichteten Lieder wie „Epitaphios“, „Der tote Bruder“, „Politeia I und II“, „Archipel“ usw. in der Populärmusik. Das erklärt sich daraus, dass mir der Bürgerkrieg ein paar Wunden geschlagen hatte, die auch meine Empfindsamkeit geprägt haben. Damals schlugen die populären Lieder, die ich an den Exilorten (1947-1949) hörte, in meiner verwundeten Seele erste Wurzeln und prägten meine psychische Welt. Zehn Jahre lang war meine Seele damit beschäftigt, dies zu „verdauen“ und dann begann sie, all dieses Material über zwanzig Jahre und mehr mit ungebremster Kraft neu hervorzubringen.

Welche Sprache hat jede Stimme? Wie hören Sie die einzelne Stimmlage (Sopran, Mezzosopran, Alt, Tenor, Bass etc.)? Wie entscheiden Sie, welche Stimmlage eine bestimmte Rolle in einer Ihrer Opern am besten wiedergibt?

Der Klang hat eine Färbung. Die Stimme hat eine Färbung. Die Instrumente haben eine Färbung. Das Gehör hört das nicht nur, sondern visualisiert es auch. Das kann man aber logisch nicht erklären.

Aus welcher Notwendigkeit heraus sind die Lieder entstanden, bei denen Sie selbst die Liedtexte geschrieben haben?

Aus derselben Notwendigkeit wie meine ganze Musik.

Da wir gerade untersuchen, wie Musik zu uns „spricht“: Es gibt ein interessantes Phänomen, das man in etlichen Ihrer Lieder beobachten kann. Zu traurigen Versen („Brief“ z. B.) wählen Sie einen schnellen Rhythmus und umgekehrt. Welche Funktion hat dieser „Gegensatz“, wenn sonst Musik und Vers normalerweise denselben Sinn ausdrücken?

Das tritt ganz charakteristisch bei den beiden Liedern „Brief“ und „Schließ das Fenster“ nach Versen von Manos Elefteriou auf, die sich auf die Allgemeine Sicherheitspolizei beziehen. Darin ist meine Haltung sarkastisch. Eigentlich richtet sich mein Sarkasmus gegen mich selbst, da mir im Gefängnis bewusst wurde, dass ich ein weiteres Mal ganz allein die Kastanien aus dem Feuer holen sollte, während ich gleichzeitig die große Zahl derer verspottete, die sich nicht an diesem Ort befanden. So beschreibe ich die Haftbedingungen mit den Klangfarben eines sorglosen Ausflugs, als würde uns die Junta auf eine Kreuzfahrt mitnehmen… Dieser Sarkasmus ist in dieser ganzen Zeit vorherrschend, vor allem in der Lyrik von „Sonne und Zeit“. Ich bin nicht sicher, ob meine Botschaft beim Publikum in genügender Weise angekommen ist…

zwei weinflaschen vor blauem hintergrund

Weinflaschenetikett: „Lineare Musik“ (1962) von Mikis Theodorakis, veröffentlich im Buch: Asteris Kutulas, Werkverzeichnis von Mikis Theodorakis, Athen 1997.

Um beim Thema der „Unabhängigkeit“ der Musik vom zu vertonenden Liedtext zu bleiben: Oft verwenden Sie Ihre Musik erneut in einem anderen Werk in einer völlig anderen Rolle. Zeigt das vielleicht auch, dass die Musik doch nicht so unzertrennlich mit dem Liedtext verbunden ist, den sie ursprünglich vertonte?

Vorhin habe ich über den Prozess gesprochen, durch den ich persönlich mein musikalisches Reservoir mit dem poetischen Wort zur Deckung bringe. Wie Sie gemerkt haben, habe ich dabei den Zusatz momentan hervorgehoben. Das bedeutet, in einem anderen Augenblick würde ich dasselbe Gedicht in ein unterschiedliches musikalisches Gewand kleiden. Es bedeutet auch, dass die damit verknüpfte konkrete Musik, gäbe es momentan das konkrete Gedicht nicht, tausend verschiedene Formen annehmen könnte. Sie könnte sogar zu einem musikalischen Thema für eine Symphonie, für ein Konzert oder Oratorium usw. werden. Manchmal kommt es aber vor, dass die momentane musikalische Dynamik die Grenzen des Gedichts übersteigt. In diesem Fall sehe ich keinen Grund, diese Dynamik einzuschränken, vielmehr sollte man sie darin unterstützen, ihrer eigenen ursprünglichen Kraft und Ausstrahlung folgend über diese Grenzen hinauszugehen.

Noch mal zum gleichen Thema: Ihre Musik ist bekannt, sie bewegt und reißt das nicht-griechische Publikum manchmal sogar mehr mit als das griechische, obwohl es die Worte nicht versteht. Wie „spricht“ Ihre Musik zu den Menschen, die kein Griechisch verstehen? Entsprechend gilt das auch für die Konzerte des „Canto General“ vor dem griechischen Publikum Mitte der 1970er Jahre, wo das Werk mit größter Begeisterung aufgenommen wurde, obwohl man den Text nicht völlig verstand.

Das kommt von der Überlegenheit der Musik, die die Grenze des logischen Verstands und folglich der Sprache überschreitet, während das poetische Wort in den Grenzen der Sprache eingesperrt bleibt.

Die Musik spricht notgedrungen durch ein Instrument oder eine Stimme zum Zuhörer. Bekanntermaßen ist „Singen“ etwas anderes als „Spielen“, ganz zu schweigen vom „Interpretieren“. (Das hat sich anhand ihrer eigenen Interpretation Ihrer Lieder am klarsten erwiesen.) Worin liegt dieser Unterschied begründet? Was macht der Sänger oder der Musiker tatsächlich, der mit der Stimme oder dem Instrument ein Lied oder ein Musikstück „interpretiert“?

Das sogenannte Talent ist eine Gabe, die dem Interpreten die Möglichkeit gibt, durch seine Empfindung den Körper der Musik zu erfassen. Dieses Erfassen ist auch ein Wiedererkennen, indem der Interpret versucht, diesen Körper mit den ihm zur Verfügung stehenden technischen Mitteln wie Stimme oder Virtuosität neu zu schaffen. Einen Talentlosen könnte man einen „Rufer in der Wüste“ nennen, oder auf uns in Griechenland bezogen, einen „Rufer in der finstersten Unwissenheit“.

Hat Ihr wiederholter Wunsch, Lieder für ein großes Symphonieorchester zu orchestrieren, etwas damit zu tun? Glauben Sie, in ihrer neuen Form „sprechen“ sie besser oder anders mit dem Publikum? Oder gibt es für Sie einen anderen Grund, eine neue Form des Werks auszuprobieren?

Dieser Versuch hatte, von meiner Seite zumindest, eine klar pädagogische Zielsetzung und sollte dazu dienen, die Griechen an den symphonischen Klang zu gewöhnen. Das gilt sowohl für „Mythohistorie“ (Giorgos Seferis) als auch für „Mauthausen“ (Iakovos Kambanellis), aber nicht für „Lobgepriesen sei“ (Odysseas Elytis), wo der symphonische Klang ursprünglicher Bestandteil der Komposition war.

In den letzten zehn Jahren habe ich mich innerlich so weit entwickelt, dass ich mein Werk in seinem ganzen Verlauf im Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhundert vollkommen überblicke. So kann ich zur Melodie A aus der Epoche B zurückkehren und sie mit der musikalischen Entwicklung C der Periode D verschmelzen. So schaffe ich in meiner Einsamkeit letztendlich das einheitliche musikalische Ganze, wofür ich, wie ich glaube, geboren bin und bis jetzt gelebt habe.

Das Interview wurde entnommen aus: Der Kosmos des Mikis Theodorakis. Herausgegeben von Dr. Stefania Canali für Nittardi. Übersetzung: Michaela Prinzinger. Lektorat: Angelika Jodl. Fotos: diablog.eu, Asteris Koutoulas, Weingut Nittardi.

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