Begegnung in Thessaloniki

Bericht über eine alternative Stadttour von Gerda Böck-Magos

Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: Ελληνικά (Griechisch)

Angesichts einer Kampagne, die auf beispiellose Art die Wahrnehmungsmanipulation der Medien in Bezug auf “Deutsche” und “Griechen” enthüllt hat, nimmt diablog.eu die Aufgabe wahr, Brücken zu schlagen und Individuen zu Wort kommen zu lassen, die keinen Interessen von Medienkonzernen unterliegen. Wahre Unabhängigkeit lässt sich nicht kaufen. Auch halten wir weiter daran fest, nicht auf den Zug der Tagesaktualität aufzuspringen. Diese Entscheidung kostet uns momentan Leser, ist aber auf lange Sicht klüger. Kultur ist das, was bleibt. Nachhaltigkeit ist das, was zählt. 

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Hafenpromenade Thessaloniki, ©diablog.eu

Vor kurzem noch berichteten Medien über Touristen auf Kos, die kein Verständnis für das Leid der dort gestrandeten Flüchtlinge zeigten. Jetzt konnte eine Gruppe Frauen aus Deutschland in Thessaloniki zeigen, dass Tourismus auch anders geht. Sie nahmen an einer Führung teil, in der die Begegnung mit den Menschen der Stadt im Vordergrund stand. Insgesamt 20 Frauen waren Anfang Juni aus Nordrhein-Westfalen nach Thessaloniki gereist, um die zweitgrößte Stadt Griechenlands zu besuchen. Einmal im Monat treffen sich die Ruhrgebietlerinnen zum Austausch und Netzwerken.

Einmal im Jahr verreisen sie gemeinsam. Nach Orten wie Barcelona, Rom und Riga stand diesmal Griechenland auf dem Programm. Bei den Vorbereitungen half ihnen Florian Schmitz, Blogger, Texter und freier Journalist, der seit Dezember 2013 in Griechenland lebt.

Florian Schmitz
Florian Schmitz, ©Iraklis Georgiadis

Journalist als Reiseorganisator

„Eine der Frauen ist eine langjährige Freundin meiner Familie, und so ist die ganze Sache überhaupt entstanden”, berichtet der 35-jährige. „Als die Anfrage kam, ob ich eine kleine Stadttour veranstalten könnte, habe ich sofort zugesagt. Dabei kam ich mir irgendwie komisch vor, weil ich ja selbst noch relativ neu bin hier.“ Aus dieser Not machte er dann eine Tugend. Anstelle der üblichen Führungen, die sich in der Regel auf das byzantinische Erbe der Stadt konzentrieren, entschied er sich für ein Experiment.

Als Journalist interviewt er regelmäßig Menschen der Stadt und berichtet dann auf seinem Blog eudyssee.net über sie und die kulturellen Auswirkungen der Krise. Diese Menschen wollte er zu Wort kommen lassen. Sie sollten ihre Stadt selbst zeigen. „Ich wollte, dass die Frauen aus Deutschland das Griechenland sehen, in dem ich lebe. Ich werde immer wütend, wenn ich beobachte, wie die deutschen Medien die Griechen auf zwei Stereotypen reduzieren. Konservative reden vom faulen Steuerhinterzieher, der sich nicht an die Regeln hält, Linke sprechen vom Griechen vor allem als arbeitsloses Opfer ohne Krankenversicherung.“

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Zongolopoulos-Skulptur an der Hafenpromenade, ©diablog.eu

Sehenswürdigkeiten werden Treffpunkte

Davon, dass die Realität wesentlich komplexer ist, konnten sich die Besucherinnen aus Deutschland dann selbst überzeugen. An sieben Punkten der Stadt traf die Gruppe auf Frauen aus Thessaloniki. Sie erzählten etwas über den Ort, erklärten, wer sie sind und was sie tun. Eine Architektin gab Informationen zum Aristoteles-Platz und der großen baustilistischen Mischung der Stadt. Eine junge Unternehmerin, die mit ihrer Geschäftspartnerin das Projekt-Büro „ApoDec“ führt, erzählte über die Geschichte und die Entwicklung des Szenebezirks „Valaoritou“ und erklärte, wie ihre Geschäftsidee die kreative Szene der Stadt vernetzt.

Die Fotografin Lia Nalbantidou nahm die Gruppe mit auf das Dach ihres Studios im ehemaligen Hafenlager-Viertel „Ladadika.“ Dort berichtete sie von ihrer Kunst und welchen Einfluss die aktuelle Situation auf sie ausübt. Die Dokumentarfilm-Produzentin Irene Drossa gab Informationen zum „Hafen“ und über die Geschichte und Gegenwart Thessalonikis als Film- und Festivalstadt.

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Galeriusbogen Thessaloniki, ©diablog.eu

Nach dem Mittagessen ging es weiter zum Navarinou-Platz, wo eine Professorin der Universität und eine Architektin, die beide maßgeblich an der Wiederherrichtung der dortigen Ausgrabungsstätte aus dem 3. Jh. vor Christus beteiligt waren, Einsichten in ihre Arbeit gaben. Dann besuchte die Gruppe Ioanna Zikiri, Inhaberin und Designerin bei kitchen29, einem kleinen Laden in unmittelbarer Nähe des Platzes, wo sie Kleidung und Designartikel selbst herstellt und verkauft. Sie erzählte von ihrer Arbeit und von den Schwierigkeiten in Griechenland, (als Mutter) selbstständig zu sein.

An der letzten Station gab Architektin Vivianna Metallinou Einzelheiten zum Galerius-Bogen sowie dem Rotonda-Gebäude und referierte über den Stellenwert und den Wandel des öffentlichen Raums in Thessaloniki.

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Florian Schmitz, ©Iraklis Georgiadis

Stadt als Matrix des Lebens

Insgesamt fünf Stunden erkundete die Gruppe auf diese Weise Thessaloniki. „Ich wusste nicht, was passieren würde. Direkt vor der Tour dachte ich, dass das Ganze auch nach hinten losgehen kann. Lassen sich die Leute auf diese Begegnungsgeschichte ein? Fühlen sich die Teilnehmerinnen wohl in ihrer Rolle auf dem Präsentierteller?“, fragte sich der Blogger nach der Tour. Seine Zweifel bestätigten sich nicht. Weder die Besucherinnen noch die Gastgeberinnen schienen sich unwohl zu fühlen. Erklärte Absicht der Stadtführung war es, das Leben jenseits der Sehenswürdigkeiten zu zeigen.

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Hafen von Thessaloniki, ©diablog.eu

„Die Stadt ist voll von Menschen, die mit der bizarren Situation der Krise alltäglich leben und handeln. Zwischen den Ruinen und Erinnerungen der Vergangenheit müssen sie sich neu erfinden, mit alten Strukturen brechen und gegen die Widrigkeiten der Gegenwart kämpfen. Ihre Matrix dafür ist die Stadt- und um diese Stadt soll es heute gehen,“ schreibt Schmitz in der kleinen Broschüre zur Who-is-Thessaloniki-Tour.

Die praktische Durchführung der Idee zeigte vor allem eins: Thessaloniki lebt nicht nur von der Geschichte. Vielmehr befindet sich die Stadt in einem Wandel, der aufmerksam erkundet werden muss.

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Florian Schmitz, ©Iraklis Georgiadis

Journalistischer Tourismus – Konzept für die Zukunft?

Eine solche Stadttour ist kein Rahmen für vertiefende Gespräche oder den durchdringenden Blick. Das soll sie auch nicht sein. Vielmehr geht es um einen ersten Eindruck und darum, die Sicht auf das Unbekannte zu öffnen und Denkanstöße zu liefern. Anstelle von auswendiggelernten Informationen über Gebäude und Plätze, die ja auch Teil der Tour waren, verbindet das Konzept die Geschichte der Stadt mit der Gegenwart, macht authentische Gesichter und Geschichten hinter den Mauern der Vergangenheit sichtbar.

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Blick von der Hafenpromenade, ©diablog.eu

Und diese Gesichter bleiben hängen. Die deutschen Besucherinnen gaben ein gutes Trinkgeld, das von den Teilnehmerinnen der Tour in eine lokale Initiative zur Finanzierung neuer Projektideen weiterinvestiert wird. Sie selbst gehen mit Eindrücken zurück nach Deutschland, die in der voranschreitenden Distanzierung zwischen Griechenland und der Bundesrepublik dringend nötig sind. Gerade in Zeiten, in denen der mediale Einfluss auf unsere Wahrnehmung des Anderen mitunter groteske Züge annimmt, kann eine solche Stadttour dazu beitragen, bei den nächsten Nachrichten über Griechenland zweimal nachzudenken. Denn: Die Erinnerung an Individuen ist mächtiger als jede noch so geschickt medial inszenierte Stereotypisierung.

Fotos: Iraklis Georgiadis, Michaela Prinzinger.

Gerda Böck-Magos ist eine Österreicherin, die in Thessaloniki lebt, sie ist Absolventin der Politikwissenschaften in Wien und war in den letzten Jahren unter anderem in der Presseabteilung der Europäischen Agentur für Wiederaufbau und bei verschiedenen Institutionen im Kulturbereich sowie freiberuflich tätig.

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3 Gedanken zu „Begegnung in Thessaloniki“

  1. Tourismus heisst nicht, etwas aus fernen Welten mitnehmen, sondern etwas da hinbringen (zB. Aufmerksamkeit). Insofern macht es auch Sinn, dass der “Reiseführer” ein “Fremder” ist.

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