Die Rückkehr des Dionysos

Interview mit Theodoros Terzopoulos, Theaterregisseur

Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: Ελληνικά (Griechisch)

Publikation von Theodoros Terzopoulos im Verlag “Theater der Zeit”: diablog.eu bringt das Interview, das Herausgeber Torsten Israel mit dem berühmten griechischen Regisseur geführt hat, nun auch zum ersten Mal auf Griechisch in der Übersetzung von Elena Pallantza.

Theodoros Terzopoulos beschreibt in „Die Rückkehr des Dionysos“ die Grundlagen seines weltweit gefeierten Theaters: Die Neugeburt des modernen Theaters aus dem Geist der kreatürlichen Körperarbeit. Im Mittelpunkt der einzigartigen Methode der Schauspielerausbildung, die er in den letzten 30 Jahren entwickelt und vervollkommnet hat, steht die Reflexion zentraler Begriffe wie „Atem“, „Energie“ oder „Zeit“ in ihrem Bezug zur Körperlichkeit und szenischen Präsenz des Schauspielers. Darüber hinaus richtet sich der Fokus auf die darstellerische Praxis und die Probenarbeit: 40 Übungen zum Selbststudium für Schauspielerinnen und Schauspieler werden detailliert erläutert und auf einer beiliegenden DVD auch im Videomitschnitt vorgestellt.

Buch-Cover: Die Rückkehr des Dionysos, Theodoros Terzopoulos

Wie ist das vorliegende Buch entstanden?

Es ist das Ergebnis von fünfzig Jahren Theatererfahrung und bringt, was ich nach dieser Zeit als den Kern meiner Arbeit bezeichnen würde. Schon in den späten achtziger Jahren ging mir zum ersten Mal die Idee durch den Kopf, einige Gedanken zum Theater aufzuschreiben, zu seinem dionysischen Aspekt, zum Pathos, zur Energie, zur Ekstase. Damals habe ich das noch nicht gewagt. Aber nach vielen weiteren Inszenierungen, nicht nur von antiken Tragödien, sondern auch von bürgerlichen Dramen und zeitgenössischen Stücken, war ich mir dann doch ganz sicher, dass diese Erfahrung einen Wert hat, nicht nur im Hinblick auf die altgriechischen Klassiker, sondern für das gesamte Repertoire. Auch meine Workshops in den verschiedensten Ländern haben mir das gezeigt. Dazu kommt, dass in den letzten Jahrzehnten im Theater alle möglichen Moden gekommen und gegangen sind. Im Gegensatz dazu bin ich immer bei sehr konkreten Achsen geblieben, bei Körper, Energie und Stimme, also ganz elementaren Dingen. Natürlich hat sich auch meine Arbeit mit der Zeit verändert, aber mehr im Sinn einer Erweiterung. Am Anfang hat mich am energetischen Schauspieler zum Beispiel vor allem die Skala des Pathos interessiert. Später sind wir dann auch zu anderen Skalen übergegangen, zur Skala der Trauer, von der ungeheure Erschütterungen ausgehen, oder zur Skala des Zaubers, der dem ekstatischen Körper meiner Meinung nach innewohnt. Und jetzt hoffe und glaube ich eben, dass dieses Buch nützlich sein kann, vor allem auch für Schauspieler, denn im Zentrum meiner Arbeit steht der Schauspieler.

Schauspieler zu sein, heißt es an einer Stelle, bedeute, „Körper zu sein, die Definition des Körpers, sein Synonym“.

Genau so ist es. Man darf aber nicht übersehen, dass das nicht nur eine ontologische oder schauspieltheoretische Aussage ist. Sie hat auch eine politische Dimension. Der Körper ist etwas sehr Gefährliches. Wenn man sich wirklich auf ihn einlässt, ihn wahrnimmt, an ihm arbeitet, ihm Raum gibt, ihn kultiviert, dann wird er, glaube ich, zu einem unwiderstehlichen Werkzeug, zu einer schlagkräftigen Waffe gegen die Macht und gegen seine eigene Unterdrückung, zu einem Werkzeug der Erhebung, um nicht zu sagen, der Revolution. Denn es ist doch so, dass die ganze heutige Kultur nichts anderes ist, als maskierte Barbarei, die vor allem Mechanismen hervorbringt, die den menschlichen Körper zerstören. Der Mensch ist heute körperlos, weil die Systeme, weil Kapitalismus und Neoliberalismus ihn so haben wollen: sklavisch gekrümmt vor dem Bildschirm, mit Giftstoffen vollgepumpt, blasiert, apathisch, vernichtet. Aber wenn der Körper zum Verschwinden gebracht wird, dann verschwindet auch der Mensch und jede Hoffnung auf Erhebung und Widerstand. Körperarbeit, wie ich sie verstehe, also nicht in einem narzisstischen und autistischen Sinn, sondern eingebunden in die gesellschaftlichen Prozesse, als Teil von ihnen, ist insofern auch ein Fanal.

Nach einer orphischen Variante des Dionysos-Mythos wurde der Gott bekanntlich in Stücke gerissen, um dann mit neuer Kraft aufzuerstehen. Für das Gemetzel, das früher mythische Gewalten begingen, sorgen heute die sozialen Verhältnisse?

Mit dem Unterschied, dass Dionysos von den Titanen eben wirklich zerrissen wurde, während die heutige Gesellschaft auflöst und zersetzt. Aber das archetypische Schema mit den Hauptabschnitten Geburt – Dekonstruktion – Rekonstruktion bleibt natürlich gleich.

Attis Theater 2003, Sophia Michopoulou
Attis Theater 2003, Sophia Michopoulou, ©Johanna Weber

Eine entscheidende Rolle bei der Wiederherstellung oder sogar Neuschaffung des Körpers spielt nach Ihrer Beschreibung die Improvisation, die zur Befreiung der individuellen Energie des Schauspielers führt. Zugleich sind Ihre Inszenierungen streng strukturiert, durchchoreographiert und semantisch bis ins letzte Detail aufgeladen. Wie kann Impulsivität in einem so klar definierten Koordinatensystem funktionieren?

Man sollte Improvisation nicht mit Beliebigkeit oder Planlosigkeit verwechseln. Natürlich ist sie ungeheuer wichtig, aber nicht so im Allgemeinen, sondern immer fokussiert auf ein ganz konkretes Thema. Wenn diese Vorgabe fehlt, können die Schauspieler weder ihre Energie befreien, noch ihre Körperachsen entwickeln. Ich rede dabei übrigens von dreckiger Energie, denn insgesamt hat dieser Vorgang den Charakter einer Entladung, bei der der ganze Stress, die vom Alltag blockierte Energie nach und nach austritt. Häufig sage ich den Schauspielern z.B.: „Stellt Euch vor, dass Ihr in einem erstickend engen Raum seid, zwei mal zwei Meter groß, dass Ihr in einem Gefängnis lebt und jetzt die Grenzen dieses Raums öffnen müsst“. Wenn man so einen Raum dann von innen öffnen will, braucht man natürlich ein System, muss sich gut konzentrieren können und Ausdauer haben. Jedenfalls ist es so, dass der Körper wie von selbst den Schritt zur Abstraktion geht, wenn er diese dreckige Energie erst einmal losgeworden ist. An dieser Stelle beginnt dann die engere Zusammenarbeit zwischen dem Schauspieler und mir, die gemeinsame Gestaltung des Ereignisses. Dabei versorge ich ihn mit sehr konkreten Informationen und biete eine Struktur, die er nach und nach öffnen muss, aber mit großer Vorsicht. Ich beginne niemals eine Probe, ohne schon eine genaue Vorstellung von der gesamten Inszenierung zu haben, nicht nur von der einzelnen Szene, um die es gerade geht. Und diese Struktur gibt es dann nicht nur in meinem Kopf, sondern auch auf einem Blatt Papier. Das ändert aber nichts daran, dass es im Probenprozess immer dieses Verlangen nach Überschreitung, nach Transgression geben muss, danach, die Zeit selbst zu öffnen und neue energetische Achsen zu schaffen.

Im deutschsprachigen Theater würden viele Regisseure versuchen, dieses Verlangen gleichzeitig szenisch zu reflektieren oder zu hinterfragen.

Ich habe im deutschsprachigen Raum immer gute Erfahrungen gemacht, in meiner Zeit als Assistent und Meisterschüler am Berliner Ensemble, und später auch. Ich bin immer wieder zu Tourneen hierhergekommen, habe viele Workshops veranstaltet und auch inszeniert, zum Beispiel am Düsseldorfer Schauspielhaus oder 2010, als Essen Kulturhauptstadt Europas war, den Prometheus auf der Zeche Zollverein. Aber es stimmt schon, dass ich mich schon früh stärker für andere Traditionen interessiert habe, vor allem für Asien, das für mein Theater sehr wichtig geworden ist, aber auch für Lateinamerika und für Russland mit seiner großen Theaterkultur. Und der postmoderne Mainstream des deutschsprachigen Theaters, wie er sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, ist mir natürlich völlig gleichgültig. Mein Theater ist geradezu ein Gegen-Paradigma dazu, nicht ein Kontrapunkt, sondern ein Gegen-Paradigma, ein grundlegend anderes Paradigma auf der festen Basis einer fundamental anderen Position. Dabei besteht der wichtigste Unterschied darin, dass mein Theater versucht, an die Substanz der Dinge zu gehen. Es ist ein elementares Theater, das niemals aufgehört hat, sich mit dem gesamten Spektrum der Dispositionen und Zustände des Menschen zu beschäftigen und diese zu erforschen: das Leiden, den Schrecken, die Trauer, die Angst usw. Es nimmt keine Rücksicht auf Moden und ist nicht eklektizistisch, sondern  in sich geschlossen. Das postmoderne und neorealistische Paradigma hat keine Beziehung zu den Archetypen und Wurzeln. Was es bringt, das ist eine Abbildung der aktuellen Wirklichkeit. Es ist so aktuell wie ephemer. Wenn man aber eine fest verwurzelte Position hat, bei den Archetypen ansetzt, dann durchquert man die zeitgenössische Wirklichkeit und gelangt in die Zukunft, macht seine Arbeit zu einer Reflexion der Zukunft.

In Brechts Fatzer-Fragment heißt es: „Wie früher Geister kamen aus der Vergangenheit/So jetzt aus der Zukunft ebenso“. Heiner Müller hat den Satz immer wieder zitiert.

Um nichts Anderes geht es.

Also gibt es doch noch Spätfolgen Ihrer Zeit am BE, eine Verbindung zwischen Ihrer Arbeit und Brecht?

Die wichtigste Verbindung ist die Abstraktion und die Einfachheit. Brecht hat ein bewusst schlichtes, sehr effizientes, strukturell klares Theater gemacht. Auch mir geht es um die Reduktion auf das Wesentliche, natürlich mit einigen Akzentverschiebungen. Aber Brechts Theater war auch didaktisch, während meines zutiefst ontologisch ist. Genau gesagt, wurzelt es in der ontologischen Frage, die die altgriechische Tragödie stellt: „Worum handelt es sich?“. Unter dem Druck dieser Frage agiert der Schauspieler bei mir dann manchmal wie ein gehetztes Tier, was bei Brecht undenkbar wäre. Überhaupt dominiert bei mir auf der Bühne der Schauspieler, bedrohlich, wie ein Gladiator. In den verschiedenen postmodernen Theaterformen kann sich übrigens erst recht keine Bedrohung entfalten, die vom Schauspieler ausgeht, schon weil ein ganzer Mechanismus von Effekten, technischen Medien und sonstigen Hilfsmitteln aufgefahren wird, mit denen er irgendwie zu interagieren hat.

Das klingt dann doch so, als müsste man sich – gerade als Schauspieler – zwischen Ihrem Konzept und dem realistischen oder postmodernen Theater entscheiden, im Sinne einer Alternative, bei der das Eine das Andere ausschließt.

Bestimmt nicht. Auch wenn sich ein Schauspieler sonst nur im Bereich des konventionellen realistischen Theaters oder des heutigen Mainstreams bewegt, kann er durch meine Methode viel dazu lernen, seine Grenzen erweitern, sich entwickeln. Wenn er sich systematisch mit ihr beschäftigt, wird sich seine Konzentrationsfähigkeit verbessern, seine Körperkontrolle, seine Atemtechnik, seine Ausdauer. Er wird sogar unabhängiger von technischen Krücken wie dem Mikroport werden. Ich habe dazu schon viele Rückmeldungen bekommen, auch von Leuten, die nie an einem Workshop von mir teilgenommen haben oder mir sonst persönlich begegnet sind. Der verborgene Körper, um den es mir geht, ist immer aktivierbar. Am Anfang wollte ich sogar dieses Buch so nennen: „Der verborgene Körper“.

Jetzt heißt es aber anders.

Es wird niemandem entgehen, dass beinahe in jedem Kapitel in irgendeiner Weise vom verborgenen Körper und der eingeschlossenen Energie die Rede ist; diese Vorstellung durchzieht den ganzen Text. Aber letztlich war es mir doch wichtig, auch schon im Titel noch einmal die zentrale Bedeutung von Dionysos und dem Begriff des Dionysischen für meine Arbeit und mich zu betonen. Die Rückkehr des Dionysos ist eine Notwendigkeit, das ist meine feste Überzeugung, wenn man so will, meine fixe Idee, die Rückkehr des belebenden Gottes, des Gottes des Theaters, der in die Verbannung geschickt wurde. Aber nun ist es endlich an der Zeit, dass er zurückkehrt, mit den Instinkten, den Empfindungen, den Visionen und all seinem Reichtum, dass er Einzug hält in diese nur von Rationalität bestimmte, eingeebnete Epoche. Man sieht, Dionysos ist mein Gott.

Und was bedeutet das?

Er ist der Gott der Vielgestaltigkeit, der Vielfalt, der Vielsprachigkeit, der Universalität, und vor allem der Gott der Freiheit.

Interview: Torsten Israel und Theodoros Terzopoulos, mit freundlicher Genehmigung des Verlags entnommen aus: Theodoros Terzopoulos, Die Rückkehr des Dionysos. Mit einem Vorwort von Erika Fischer-Lichte. Inklusive einer DVD. Berlin, Verlag Theater der Zeit 2016. Fotos: Johanna Weber.

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