Kavala und die Austro-Hellénique

Eine Reise in die Hauptstadt des Tabaks von Christian Gonsa (Teil I)

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Tabak bildete eines der wichtigsten Handelsgüter zwischen Griechenland und Österreich. Der aus Wien stammende Journalist Christian Gonsa hat für diablog.eu eine Reise in die griechisch-österreichische Vergangenheit gemacht. Und schnell wird klar: Wir kommen um eine Diskussion um Entschädigungsfragen – auch in der Tabakindustrie – nicht herum. Die Illustrationen der Tabakkontore stammen aus einem Fotoprojekt von Kamilo Nollas. Teil II lesen Sie hier auf diablog.eu.

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Tabakkontore 2007, ©Kamilo Nollas

Ich liebe Zugreisen. Die Fahrt ging mit dem rollenden Kaffeehaus von Athen nach Thessaloniki, dann mit dem „KTEL“, dem Linienbus, nach Osten Richtung Kavala, der Hauptstadt des Tabaks. Ich sollte auf der Tagung „Tobacco Roads“ über die heute untergegangene österreichische Firma Austria Tabak und ihre griechische Tochtergesellschaft sprechen. Neben den Gleisen sind an manchen Stellen, vor allem im Gebirge, runde Bunker mit Schießscharten zu sehen. Die sind alt, sie stammen aus der Zeit der deutsch-italienischen Besatzung 1941-1944.

Sie sind mir von der Peloponnes bekannt, wo ich häufig mit dem Auto an so einem Bunker vorbeifuhr, auf der Straße Richtung Mykene beim Ausgang aus der Schlucht von Dervenakia, wo Kolokotronis einst ein osmanisches Heer vernichtete. Er steht direkt neben der Straße, unterhalb der alten Bahnlinie. Ich wollte ihn betreten, aber es war unmöglich, denn es schlug mir ein derart bestialischer, wilder Gestank entgegen, dass ich sofort die Flucht ergreifen musste. Man hat diese Bunker gebaut, um die Bahnlinien zu schützen – in Hitlers Europa wurden mit dem Fortschreiten des Krieges alle und alles mit der Bahn verschoben: Soldaten, Zwangsarbeiter, Juden; Kriegsmaterial, Rohstoffe, Mineralien – und Tabak, womit ich beim Thema bin.

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Tabakkontore 2007, Xanthi, ©Kamilo Nollas

Als ich im österreichischen Staatsarchiv über den Indizes der Austria-Tabak-Fabrik Hainburg saß, der letzten österreichischen Tabakfabrik, die der Globalisierung zum Opfer fiel, erinnerte ich mich an mein altes Interview mit Raul Hilberg, dem ersten großen Chronisten des Holocausts, den Wiener, der schon lange kein Wiener mehr sein will. Er sagte mir damals im fernen Vermont, in gepflegtem Wienerisch, dass Zugfahrpläne zu seinen wertvollsten Quellen gehörten.

Auch in den Indizes aus Hainburg geht es vor allem um ankommende und abfahrende Züge, auch im Jahr 1941 – Waggons, Frachtbriefe als Zeugen eines Raubzugs. Als die Deutschen im April 1941 Griechenland besiegt hatten, beschlagnahmten sie alle Tabakvorräte. Reemtsma und die Austria Tabakwerke kooperierten bei Abtransport und Verwertung. Doch davon später.

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Tabakkontore 2007, Xanthi, ©Kamilo Nollas

Busfahren ist weniger schön. Aber auch der Linienbus hat Fahrpläne und muss die Hauptstraße immer wieder verlassen, so parkten wir plötzlich vor dem Löwen von Amphipolis, der in der Nähe einer Brücke über den Strymonas thront. Der antike Löwe ist heute wieder im Gespräch, weil man jetzt glaubt, dass er einst auf dem gewaltigen mazedonischen Grab-Tumulus von Kastas stand, der im Sommer 2014 für Aufsehen sorgte. Es heißt, dass ihn die Briten, die seine Teile 1916 bei Schanzarbeiten am Fluss fanden, gerne mitgenommen hätten. Aber sie gerieten unter bulgarisches Feuer und hatten in der Folge andere Sorgen. Kurz vor Kavala parkten wir dann an einem Sandstrand am Meer, neben einem Volleyballfeld, auf dem gespielt und geschrien wurde.

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Tabakkontore 2007, Xanthi, ©Kamilo Nollas

Ich erinnere mich noch, dass ich mich wunderte, wie eben, weit und windig dort alles war. Die Zufahrt nach Kavala selbst ist eng. Man fährt die bewaldete Steilküste entlang und blickt auf Buchten hinab, dann erst öffnet sich Raum für Stadt und Vorstadt, die Straße senkt sich auf Meeresniveau und wird zum Strandboulevard. Deswegen hatte ich die Tage in Kavala immer das Gefühl, eingezwängt zu sein zwischen Berg und Meer, obwohl eigentlich genug Platz da ist für die Stadt. Zum Glück waren alle Hotels an der Uferpromenade voll, so bezog ich im „Lucy“ Quartier, das an der Stadteinfahrt liegt, auf einem kleinen Halbinselchen, einer Art Vorspiel für die Halbinsel, auf der sich ein paar Kilometer weiter die Altstadt hochschraubt. Das Zimmer war schön und relativ billig und ich konnte vor dem Frühstück einen Sprung in die Fluten gleich vor dem Hotel tun. Paradiesisch.

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Tabakkontore 2007, Volos, ©Kamilo Nollas

Ich kannte Kavala vor allem aus der Erinnerungsliteratur von Führungskadern der kommunistischen Partei Griechenlands, die hier in der Zwischenkriegszeit die Propagandaarbeit koordinierten und auch in Zeiten der Illegalität während der dreißiger Jahre den Kontakt zur lokalen Parteiorganisation halten wollten. Die Gewerkschaft der Tabakarbeiter war damals die Machtbasis der Kommunisten. Interessant, aber sicher eine begrenzte Sicht der Dinge, vor allem wenn man sich auf enge, verlauste Verstecke beschränken musste, und Kontakt nur mit einem unsicheren, von der Polizei unterwanderten Parteiapparat hatte. Physisch und optisch lernte ich eine ganz andere, offenere Seite der Stadt kennen, etwa die weite Mole hinter dem archäologischen Museum, wo früher auch Speicher standen, wie auf alten Fotografien zu sehen ist, wo die Schiffchen mit den Tabakballen ablegten, um die weiter draußen vor Anker liegenden großen Dampfer zu beladen, oder der schön renovierte Tabakspeicher der Gemeinde Kavala, in dem die Tagung stattfand, und die Villen der Tabakhändler und Konsulate.

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Tabakkontore 2007, Volos, ©Kamilo Nollas

Das war für mich die griechische „Neustadt“, mit den typisch rechteckigen Plätzen, den klassizistischen Fassaden, der Neugotik der Villen und den strengen Speichern. Auf der Halbinsel wird es wieder eng: Da drängt sich das antike Neapolis, das byzantinische Chrisoupolis und das osmanische Kavala den Hügel hinauf. Da sind die Burg, die Kirchen und Moscheen, das Geburtshaus des Muhammad Ali von Ägypten, das orientalische Luxushotel „Imaret“ und davor das große Aquädukt. In der Nähe meines Hotels aber vor der Stadt stehen die Siedlungen der Kleinasienflüchtlinge der zwanziger Jahre: Sie stellten bald die Mehrheit der Tabakarbeiter.

Ich muss gestehen, dass ich nicht rauche. Aber die alten Werbeplakate der österreichischen Orient-Zigaretten, allen voran der Marke „Nil“, die Zigarette der „feinen“ Kreise, haben mich immer gereizt. Noch mehr reizte mich das Gerücht, dass dieser Zigarette bis in die Mitte der zwanziger Jahre bis zu acht Prozent Hanf beigemischt wurde, um die Anziehungskraft beim Publikum zu stärken. Entscheidend für mein Interesse war aber der Anruf von Aaron Tchimino, einem alteingesessenen Tabakhändler aus Kavala. Er fragte mich, ob nicht die heutigen Eigentümer von Austria Tabak zu Entschädigungszahlungen für den im Krieg konfiszierten Tabak verpflichtet werden könnten.

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Tabakkontore 2007, Kavala, ©Kamilo Nollas

Ich konnte ihm nicht helfen, wollte aber mehr über seine Quellen wissen, und er sandte mir einen griechischen Artikel aus dem Jahr 1950, in dem berichtet wird, dass die Voruntersuchungen gegen führende Angestellte von Austro-Hellénique und Reemtsma wegen mutmaßlicher Vergehen im Zusammenhang mit den Beschlagnahmungen eingestellt wurden. Außerdem schickte er mir eine Liste mit 100 Namen entschädigter griechischer und jüdisch-griechischer Tabakhändler inklusive der ausgezahlten Entschädigungszahlungen. Sie erhielten neun Prozent des Wertes der konfiszierten Ware zurück. Auch davon später.

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Tabakkontore 2007, Kavala, ©Kamilo Nollas

Auch ohne Hanfbeimengung waren die Orienttabake von entscheidender Bedeutung für die österreichische Tabakregie, die spätere Austria Tabakwerke AG, noch später Austria Tabak AG. So wichtig, dass die Sektionschefs und Ministerialräte des österreichischen Finanzministeriums, die das Monopol leiteten, sich 1927 dazu entschlossen, eine GmbH mit drei Tochterfirmen in Griechenland, Bulgarien und der Türkei zu gründen, um sich billigen Nachschub an Rohmaterial zu sichern.

Die GmbH mit Hauptquartier in Wien hieß „Austria Einkaufsorganisation der österreichischen Tabakregie im Orient GmbH“ kurz: E.O. – zumindest was den Tabak betraf, war Griechenland immer noch Orient für die Österreicher. Die griechische Tochter, eine Aktiengesellschaft, hieß Avstroelliniki Etairia Kapnon AE, kurz und französisch: Austro-Hellénique, sie wurde im Dezember 1927 mit Sitz in Thessaloniki gegründet.

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Tabakkontore 2007, Kavala, ©Kamilo Nollas

Zwei Punkte sind im Zusammenhang mit dieser Gründung wichtig: Erstens waren die Geschäftsziele der Firma Neuland für die Tabakregie. Die Austro-Hellénique musste sich mit drei neuen Aufgaben anfreunden: dem direkten Ankauf des Rohtabaks bei den Tabakbauern, der Lagerung und Manipulation durch eigenes Personal in eigenen Speichern, und mit dem Transport zu den Absatzmärkten. Vor und im ersten Weltkrieg hatten der Tabakregie private Großhändler diese Arbeit abgenommen, allen voran die Oriental Tobacco Trading Company (L. M. Herzog & Cie.) des ungarischen Tabakhändlers Peter Herzog mit großen Einrichtungen für Speicherung und Manipulation in Kavala. Die österreichischen Beamten brauchten also Tabakexperten, die über das Fachwissen verfügten, das ihnen selbst fehlte.

So machten sie einen Mann, der Jahrzehnte auf Rechnung Peter Herzogs für das österreichische Monopol Orienttabake eingekauft hatte, zum Vizepräsidenten – und zum privaten Teilhaber an der Firma, mit drei Prozent, notwendig bei einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Das war Adolph Wix von Zsolnay, geadelter ungarischer Tabakhändler, Hobby-Archäologe und in der Epoche der Donaumonarchie Honorarkonsul in Kavala, später in Thessaloniki. Sein Sohn würde eines Tages den österreichischen Paul-Zsolnay-Verlag gründen, inspiriert von den literarischen Kontakten, die er im Wiener Salon seiner Eltern geknüpft hatte, aber das ist eine andere Geschichte. Nach dem Tod Adolph Zsolnays im Jahr 1932 übernahmen andere Tabakhändler die Rolle der privaten Teilhaber.

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Tabakkontore 2007, Kavala, ©Kamilo Nollas

Zweitens war die Austria Tabak von immenser Bedeutung für die österreichische Wirtschaft der Zwischenkriegs- und der unmittelbaren Nachkriegszeit. In den zwanziger und dreißiger Jahren war sie einer der größten Arbeitgeber des Landes; im Chaos des Wechsels nach dem Krieg stand sie für 30 Prozent der Staatseinnahmen an Körperschaftssteuer und 40 Prozent der Zolleinnahmen.

Diese Industrie war „importabhängig“, wie das wirtschaftsdeutsch heißt, das heißt die Einkäufe der Einkaufsorganisation hielten die Zigarettenproduktion mit den milden Orienttabaken, die sich gemeinsam mit der Zigarette durchgesetzt hatten, in Gang. (Auf den Geschmack der amerikanischen Mischungen mit Virginia-Tabak kam das europäische Publikum erst nach dem Krieg.) Wenn man an die Speicher und Büros in Thessaloniki, Kavala, Serres, Drama, Xanthi, Agrinio, Nafplion und Volos, an den Maschinenpark und die Angestellten denkt, dann erkennt man schnell, dass das eine Großinvestition war.

Lesen Sie gleich weiter auf diablog.eu Teil II.

Text: Christian Gonsa. Fotos: Kamilo Nollas.

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