Wo gehen die Rollläden hin, wenn sie hochgehen?

Erzählung von Dimitra Didangelou

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Am 31. Oktober gibt die Autorin und Psychologin Dimitra Didangelou einen Workshop in englischer Sprache zum Thema “Steps into Nature” im Berliner Viktoriapark. Als kleinen Vorgeschmack lesen Sie auf diablog.eu eine kleine, in Berlin entstandene Erzählung, in der Übersetzung von Nina Bungarten.

Maybachufer
©Dimitra Didangelou

„Habe Hunga“ steht auf dem kleinen Schild vor mir, Ecke Kottbusser Damm / Maybachufer, an einem weiteren Abend, wenn die Rollläden vor den Geschäften ihre Schattennetze nebeneinander auswerfen und auf den Sonnenaufgang warten, um dann zu verschwinden, und ich mich wieder einmal frage, wo sie hingehen, wenn sie hochgehen. Im selben Moment setzt Nieselregen ein, der die Luft mit feinen Tröpfchen besprüht, sich langsam auf die Materie legt, sich verteilt und auf den Bürgersteig fällt. Silbrige Tropfen rollen in die Tiefen der Abwasserkanäle und wecken alle dort unten lebenden Wesen. Tiere und Menschen haben denselben ausdruckslosen Blick, Regen und Sonne um Null Grad, Dunkelheit und Licht in Grautönen, eine trübe Atmosphäre, Kinder und Alte als abgenutzte Schatten, alle ziehen Tag für Tag an mir vorüber, Bilder, Leben, Stimmen, dort, Ecke Kottbusser Damm/Maybachufer an der Ecke, wo ich stehe, in einer Uhr, die keine Zeiger hat, aber immer die richtige Uhrzeit anzeigt.

Illu, Graffitti
©Michaela Prinzinger, diablog.eu

„Habe Hunga“ steht auf dem kleinen Schild vor mir, „Flüchtling aus meiner Heimat in meiner Heimat, ich kenne meine Grenzen nicht, habe meine Identität verloren, weiß nicht, wo mein Magen ist, ob ich mit meinem Hirn esse, mit meinen Händen sehe, mit meiner Seele berühre“, flüstert mein Herr von morgens bis abends, mein Herr, der mich täglich abwäscht, mich sorgsam säubert, sich liebevoll um mich kümmert, mich streichelt, als wäre ich aus Gold, als hätte er nur mich in dieser Stadt.

Graffitti
©Michaela Prinzinger, diablog.eu

Wenn die Münzen bis obenhin reichen und ungefähr fünf Euro beisammen sind, ist es Zeit für meinen Herrn, sich eine Käseteigtasche, ein kleines Wasser und eine Milch zu holen und mich an meinen Platz zu stellen, Kottbusser Damm/Maybachufer, die heruntergehenden Rollläden leisten mir Gesellschaft, er füllt mich mit Milch, dann kommt der Hund vorbei und trinkt langsam davon, den ganzen Abend. Auf diese Weise bleibt auch der Hund satt, und das Kästchen an seinem Platz, nämlich ich, dieses kleine Kästchen, das von morgens bis abends in seiner Ecke steht, fast unsichtbar ist, an dem man jeden Tag vorbeigeht und sich noch nicht mal nach ihm umdreht. Tritte wären mir lieber als eine solche Missachtung. Dieses bescheidene Kästchen bin ich, tagsüber werde ich mit Münzen gefüllt und die ganze Nacht lang passt der Hund auf mich auf bis zum Morgengrauen, wenn mein Herr wieder die Schicht übernimmt, das Schild „Habe Hunga“ vor mir aufstellt und ich mich wieder füllen lasse, das ist meine Arbeit, mein Leben, meine Aufgabe in dieser Stadt Berlin.

Es graut der Morgen, die Rollläden gehen hoch. Aber wo gehen die Rollläden jeden Morgen hin?

Fotos: Dimitra Didangelou, Michaela Prinzinger/diablog.eu
Schreib-Workshop: https://thereaderberlin.com/?page_id=1710

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