Die zerschmetterten Idole

Artikel von Christian Gonsa

Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: Ελληνικά (Griechisch)

In Kavos und Daskalio wurde das erste Kultzentrum der Ägäis ausgegraben – die zahlreichen Funde verändern unseren Blick auf die Kykladenkultur. In diesem und dem nächsten Post wird uns auf diablog.eu genau diese Kultur beschäftigen, einmal von Seiten der archäologischen Forschung, dann von Seiten der Literatur – aus der Perspektive von Emilios Solomous preisgekröntem Roman „Im Sternbild der Kykladen“.

Dem ersten Ausgräber kamen die Tränen, als er 1963 auf Keros an Land ging. Beim griechischen archäologischen Dienst hatte man damals von Raubgrabungen auf den Kleinen Kykladen, südlich von Naxos, gehört, und der junge Archäologe Christos Doumas besichtigte die geplünderte Stelle mit Namen Kavos am Nordwesteck der windigen Ägäis-Insel. Der Anblick war erschreckend: Aufgewühlte Erde, zerschlagene Ton- und Marmorgefäße, zerstückelte Marmoridole – anscheinend die Reste eines geplünderten und zerstörten Friedhofs der frühbronzezeitlichen Kykladenkultur.

Kykladenidole
Kykladenidole, ©Monika Hoffmann reise-zikaden.de und mit freundlicher Genehmigung der Archäologischen Staatssammlung, München

Die meist weiblichen Idole mit ihren verschränkten Armen, aus kunstfertig gerundetem Marmor gefertigt – das Markenzeichen dieser Ägäiskultur des dritten vorchristlichen Jahrtausends – waren nach dem Zweiten Weltkrieg bei Sammlern in Mode gekommen: Sie galten als perfekte Verkörperung der abstrahierenden Kunstauffassung, den die Moderne propagierte.

Archäologen systematisierten Stilgruppen und schwärmten, inspiriert von den sonnendurchfluteten, traumhaft schönen Fundplätzen, vom „Geist der Ägäis“, der in den stummen Zeugen dieser fernen Zeit zum Ausdruck kommt. Die Preise auf dem Kunstmarkt stiegen, Händler schwärmten zu illegalen Ausgrabungen aus. Im Fall von Keros war der einschlägig bekannte Händler Nikolaos Koutoulakis tätig, der einen Hort zerschlagener Marmoridole, später als Schatz von Keros bezeichnet, auf den Markt brachte.

Keros from sea
Keros, ©McDonald Institute for Archaeological Research

Doch der illegale Kunsthandel ist gar nicht an der Vernichtung der Objekte schuld, wie die Grabungen der Jahre 2006 bis 2008 endgültig zeigten. Ein Forscherteam unter Leitung des Kykladen-Papstes Colin Renfrew fand 150 Meter entfernt vom alten Fundplatz ein zweites, unversehrtes Depot der Kykladenkultur – eine archäologische Sensation. Neben tausenden Scherben von Ton- und Marmorgefäßen kamen die Überreste von hunderten Idolen zutage, alle zerschlagen. Menschliche Knochen fand man in diesem Spezialdepot Süd keine, es handelte sich also mit Sicherheit um keinen Friedhof.

Kykladenidole
©Johanna Klinar, British Museum

Offensichtlich waren die Idole für die Menschen der Kykladenzeit also keine Kunst-, sondern Kultgegenstände. Die Objekte wurden von ihren Erzeugern selbst vernichtet. Die Mehrzahl der an anderen Orten, vor allem Naxos, zerschlagenen Idole wurde auf den Langbooten der Insulaner zum Ort ihrer rituellen Beisetzung nach Keros gebracht – einem Platz mit zentralen kultischen Qualitäten für den Kykladenarchipel. Die Zahl der Fundstücke ist gewaltig: Um die 580 zerschlagene Idole wurden im südlichen Depot gezählt, dazu kommen an die 500 des verwüsteten Depots.

Modell eines bemannten Langbootes
©Monika Hoffmann reise-zikaden.de und mit freundlicher Genehmigung der Archäologischen Staatssammlung, München

Die zweite Sensation war das, was man auf Daskalio fand, einem kegelförmigen Inselchen kaum 90 Meter vor Kavos gelegen und damals wohl durch eine Landbrücke mit dem Fundplatz der Depots verbunden (der erste Band von fünf geplanten Grabungspublikationen: „The Settlement of Daskalio“, McDonald Institute, University of Cambridge 2013).

Insel Dhasaklio
Daskalio, ©McDonald Institute for Archaeological Research

Dort kam eine dicht verbaute Niederlassung zum Vorschein, zwischen 2750 und 2300 v. Chr. zu datieren. Sie fasste 300 bis 500 Personen, wurde aber offensichtlich nicht das ganze Jahr über genutzt. Hier versammelten sich nach den Erkenntnissen der Ausgräber die Kykladenbewohner, um anschließend die rituellen Bestattungen auf Kavos vorzunehmen, den Rest des Jahres blieben am heiligen Ort lediglich „Wächter“ zurück.

kykladenidol
©Monika Hoffmann reise-zikaden.de und mit freundlicher Genehmigung der Archäologischen Staatssammlung, München

Die Besonderheit der Stätte unterstreicht der Fund einer großen Halle auf dem Gipfel des Inselkegels, in ihr wurden Mengen von runden Kieselsteinen deponiert. Diese Kiesel wurden von den Besuchern offensichtlich auf anderen Inseln eingesammelt und in die „Halle“, wohl Heiligtum, von Daskalio gebracht. Derartige Kiesel sieht man auch in Kykladen-Friedhöfen, im minoischen Kreta, sie haben eine uns unbekannte symbolische Bedeutung. Alles deutet darauf hin, dass es sich bei der Halle um ein Vorläuferheiligtum von Kultstätten wie Agia Eirini auf Kea, die Gipfelheiligtümer auf Kreta – und die heilige Insel der Antike, Delos, handelt.

Kaum zu glauben war für die Ausgräber die Tatsache, dass die Marmorsteine, die für den Bau der Halle und der anderen Gebäude verwendet wurden, aus Naxos importiert worden waren. Es wurden Materialmengen nach Daskalio geflößt, deren Gewicht durchaus jenen Steinmassen entspricht, die in der monumentalen, etwa zeitgleich erbauten Kultstätte von Stonehenge in England verwertet wurden.

Anastasia Marangou, Harfenspieler, Keros
Harfenspieler, Keros, Archäologisches Nationalmuseum Athen, ©Anastasia Marangou

Keros, in Sichtweite von einigen der schönsten Sandstrände der Ägäis auf Ano und Kato Koufonissi, wurde vom archäologischen Dienst zur verbotenen Insel, zur Sperrzone erklärt. Tatsächlich birgt die Insel noch eine Reihe von Geheimnissen. Bei Oberflächenbegehungen wurden die Reste von zumindest zwei unerforschten Siedlungen und Gräber der Kykladenzeit lokalisiert – schon im 19. Jahrhundert waren auf ihr zwei der berühmtesten Idole, der „Harfenspieler“ und der „Flötenspieler“, heute im archäologischen Museum in Athen, gefunden worden. Die materiellen Ursprünge der symbolischen Bedeutung von Kavos und Daskalio liegen nach wie vor im Dunkeln, die Theorien reichen vom Handelszentrum bis zur „magischen“ Kunst der Metallbearbeitung.

Anastasia Marangou, Doppelflötenspieler, Keros
Flötenspieler, Keros, Archäologisches Nationalmuseum Athen, ©Anastasia Marangou

Bedauerte man vor Kurzem noch, dass die Kykladenkultur sich als Gräberkultur präsentiert, während die Siedlungen wohl für immer verloren seien, so macht man sich auf der Grundlage der Funde auf Daskalio – aber auch in Markiani auf Amorgos, in Skarkos auf Ios, in Strofilas auf Andros, in Ftelia auf Mykonos – ein ganz anderes Bild von der Geschichte und Vorgeschichte der waghalsigen Seemänner mit Strahlkraft aufs griechische Festland, nach Kreta und an die kleinasiatische Küste; es ist das Bild einer Seefahrergesellschaft mit komplexer, städtischer Organisation, die die Grundlage für die ägäischen Hochkulturen des zweiten Jahrtausends legte.

Text: Christian Gonsa, erschienen in “Die Presse” 2014. Fotos: Johanna Klinar (British Museum), Angela Marangou (Archäologisches Nationalmuseum Athen), Monika Hoffmann, reise-zikaden.de (Archäologische Staatssammlung München), McDonald Institute of Archaeological Research

Cover Emilios Solomou, letzte Fassung

Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: Ελληνικά (Griechisch)

4 Gedanken zu „Die zerschmetterten Idole“

  1. Wunderbarer und sehr informativer Artikel zur Kultur der Kyklden in der Bronzezeit. Ein enpfehlenswerter Lesestoff für Archäologie-Fans. Viele Grüße aus München, Monika

    Antworten
  2. hallo michaela,
    ich hab grad mit interesse & großer freude diesen artikel überflogen & werde ihn teilen! sehr informativ & ich freu mich schon auf die fortsetzung :-)))
    liebe grüße aus kärnten, johanna

    Antworten
  3. Interessanter Artikel!

    Jetzt wäre nur interessant, wann die Bewohner diese Idole zerstört hatten!

    Vielleicht zur gleichen Zeit, wie der Bronzediskus von Nebra?

    1627 v.Chr.?

    Dann hätte das etwas mit der Zerstörung von Santorin (“Atlantis”) zu tun, die im ganzen Mittelmeerraum Zerstörungen (Tsunamis) hinterließ und sicher zu einer religiösen Krise führte, die alles umwarf. Die Menschen verloren das Vertrauen in deren damalige Götter…

    Viele Grüße
    Tobias Schorr
    https://www.nature-discovery-tours.com

    Antworten
  4. Hier die Antwort von Christian Gonsa:

    Die Idole wurden im 3. Jahrtausend vor Christus zerschlagen. Mit der religiösen Krise im 2. Jahrtausend vor Christus kann es daher nichts zu tun haben.

    Die Idole stammen von anderen Inseln, werden dort oder auf Keros zerschlagen und dann auf Keros beigesetzt. Das hat man mehrere hundert Jahre lang getan, während der Phasen I und II. Aus der dritten Phase sind keine “Beisetzungen” bekannt, aber die Besuche der Stätte rissen nicht ab.

    Mich erinnert das irgendwie an Herxheim, wo die Bandkeramiker 5.000 v. Chr. zerschlagene Knochen beisetzten, die sie möglicherweise von woanders her an diesen Ort gebracht hatten.

    Es könnte die Vorstellung dahinterstecken, den Toten – oder seine Objekte – an einer Rückkehr zu hindern. Die Toten selbst (nicht an diesem Ort auf Keros, da gab es keinen Friedhof) sind meist in ganz engen Särgen, in Babystellung und gefesselt (!) beigesetzt worden.

    Aber da bin ich Laie, und ich warte schon mit Spannung auf die Bände zwei und drei des McDonalds-Instituts, wo diese Sachen wohl diskutiert werden.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar zu Monika Hoffmann Antworten abbrechen