Nord-Süd-Dialog

Filmessay von Nicos Ligouris

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Am 10. und 11. März 2017 zeigt der Berliner Filmemacher Nicos Ligouris auf dem Dokumentarfilmfestival Thessaloniki „Dialog von Berlin“, einen Filmessay bestehend aus Dokumentarischem, Fiktionalem und philosophischer Reflexion über das wechselvolle Spiel der verschiedenen Kulturen des europäischen Nordens und Südens anhand eines ständigen Hin und Her zwischen Deutschland und Griechenland. Eine Art Reise durch das Labyrinth der jüngeren europäischen Geschichte, in welcher sich Ethnographisches, Historisches, Kultur und Alltag, sowie Politik und Selbsterlebtes miteinander vermischen.

Filmplakat Ligouris Dialog von Berlin

DIALOG VON BERLIN
Ausschnitte aus dem Tagebuch eines griechischen Kulturkorrespondenten

„Die Zeit ist ein Kind, das beim Brettspiel Steine hin- und herschiebt.“  (Heraklit)

Berlin, Schlossbrücke

Ohne Datum. Das Erste, was mich beeindruckte, als ich nach Berlin kam, war diese Präsenz von klassizistischen Elementen in der historischen Stadtmitte: die Statuen der Nike und der Pallas Athene auf der Schloßbrücke, Schinkels Altes Museum im Lustgarten, die alte Nationalgalerie, im Stil des Parthenons erbaut und vieles mehr.

Was suchten diese Nachempfindungen einer vergangenen Kultur des antiken Südens in der Hauptstadt eines protestantischen Nordens?

Das Phänomen hatte mit Winckelmann begonnen, gefolgt von Goethe und vielen anderen. Beispielloses war geschehen: Philologen und Künstler des 18. Jahrhunderts entdeckten plötzlich die altgriechische Kultur und fühlten sich ihr so verwandt, dass sie beschlossen, Griechen der Neuzeit zu werden. Und sie schafften die Anverwandlung. Auf den Fundamenten des Fremden fanden sie zum Eigenen. Die deutsche Kultur erblühte.

Ich versuche, in die Haut dieser Menschen zu schlüpfen. Welche Energie, welche Identifikationskraft. So etwas hatte es bis dahin noch nicht gegeben: die Tragödie zu dichten oder an die Philosophie anzuknüpfen, etwas zu wagen, was andere Kulturen schon vorbildlich versucht hatten, setzt eine eigentümliche Kunst der Maskenspielerei voraus, sagt Gustav Seibt. Deutschlands Geheimnis.

Kreta, Hania, alter Hafen

Kreta Juni 2015. Drei Stunden mit dem Flieger und ich bin in einer anderen Welt. Im 19. Jahrhundert brauchte so was viele Monate. Die Aufhebung der Entfernungen lässt die unterschiedlichen Zeiten aufeinander stossen. Ihre Gleichzeitigkeit bewirkt eine Entzauberung: Das Exotische, ob im Süden oder Norden, wird banal und führt zuweilen bis zur Verdrossenheit.

Berlin, Spree

Seltsam: Keiner wundert sich mehr darüber, dass es inzwischen auch in Berlin Palmen gibt, dass Menschen draußen im Freien liegen, als ob sie sich am Mittelmeer befänden.

Berlin, Bebelplatz / Tristan und Isolde

Einmal pro Jahr überträgt die Berliner Staatsoper eine Vorstellung als live streaming auf den Bebelplatz. Bemerkenswert, mit welcher Andacht die Zuschauer im sommerwarmen Nieselregen der Musik lauschten. Eine französische Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts erfand für ihre Vorfahren den Begriff „Volk der Dichter und Denker“. Die Deutschen selbst verweigerten sich diesem Lob, mit dem man sie sogar noch bedachte, als längst Fabrikschornsteine das Bild der romantischen Nation mit Rauch verdunkelten. Die Wahrheit ist, dass Rauch und Mythos, Forscherblick und Enthusiasmus für die Deutschen zwei Seiten einer Medaille waren.

Kreta, Hania, Küste Honolulu

Immer wieder muss ich mich ermahnen: nicht die Beschäftigung mit dem Erinnern und dem Glauben an seine heilende Kraft soll mein Thema sein, sondern das Vergessen. Das Vergessen, das für das Gelingen jeden neuen Anfangs unerlässlich ist. Das Vergessen, das sein Objekt nicht vernichtet, sondern – so widersprüchlich es klingen mag – irgendwo in einem versiegelten Depot überdauern läßt, um eines Tages Chronisten als Material zu dienen.

Athen, Wochenmarkt Kallidromiou

Ohne Datum. Wochenmarkt in Athen. Ein Volk aus dem Gleichgewicht, ein Volk der Extreme. Ein altes Volk, plötzlich in die Moderne katapultiert. Über Jahrhunderte Untertanen fremder Imperien. Händler, Reisende, Auswanderer. Griechenland: Terra incognita Europas: Wer weiß schon, dass dieses Volk sich noch nach dem zweiten Weltkrieg in einem schlimmen Bürgerkrieg gegenseitig niedermetzelte, was bis heute offene Wunden hinterlassen hat?

Peloponnes, die verbrannten Wälder

Mein deutscher Freund Konstantin, der seit Jahren in Griechenland lebt, findet, dass der Süden nicht der pittoreske Ort ist, wie man immer meint, sondern ein existenzieller Zustand, in welchem, wenn das Feuer in heißen Sommern wütet, nichts mehr übrig bleibt. Das schmerzhafte Erleben von Vernichtung und Wiedergeburt, ein Phänomen, das dieses Land besonders prägt, scheint der Norden überwunden zu haben.

Aber ich muss mich ermahnen: Ich darf Norden und Süden nicht gegeneinander ausspielen, sondern muss beide Regionen als Manifestationen unterschiedlicher Lebenswelten betrachten.

Berlin, Osthafen

Ohne Datum. Osthafen. In den Brachen zwischen den Häusern dieser weit ausgedehnten Stadt, die kaum einer ihrer Bewohner so richtig kennt, an diesen Nichtorten, die es bald nicht mehr geben wird, suche ich nach Spuren der Zeit von vor der Wiedervereinigung. Berlin war immer die unendliche Geschichte von Abrissen. Jede neue politische Ära vernichtete die vorangegangene. Nach den Krieg baute man zweckbestimmt, nach der Wiedervereinigung im Stil der kritischen Rekonstruktion, zur Zeit im Retrostil. Allerdings werde das Meiste, das neu entsteht, schon in 50 Jahren nicht mehr existieren, prophezeit der Stadtentwickler Dieter Hoffmann-Axthelm.

Berlin, Infotafel Hitlerbunker

Das ist auch ein Grund für die gegenwärtige Touristenschwemme: das Erleben einer Stadt in permanentem Wandel. Tagsüber Besichtigung von Schreckensorten der Vergangenheit mit anschließendem Besuch in angesagten Clubs. Es lässt sich gut tanzen und spazieren auf der dünnen Decke, die das Vergangene notdürftig verbirgt.

Ich habe nichts gegen den Tourismus, er hat auch die Kraft die Sünden der Vergangenheit vergessen zu lassen.

Kreta, Vollmondfest auf Rokka Kissamou

August 2015. Auf dem Weg zu einem nächtlichen Konzert irgendwo im Westen Kretas. Das Schicksal des besiegten Alkyoneus lässt mich an Dostojewski denken, der, nach Sibirien verbannt, weinen musste, als er bei Hegel las, dass das sibirische Riesenreich genau wie Afrika weltgeschichtlich keiner Rede wert sei. Ich denke auch an Kostas Axelos, der schon 1954 das traurige Resumé zog, dass Neugriechenland lediglich mit Altertümern übersät sei und es trotz aller Mühen den Menschen nicht gelingt, neuzeitliche Produktionsstätten zu schaffen und sie statt dessen mit Leidenschaft Nabelschau betreiben.

Berlin, Breitscheidplatz

Juli 2015. Sommerfest auf dem Berliner Breitscheidplatz. Hier, wo Menschen sorgenfrei lachen und spielen, fielen früher Bomben und brachten Tod und Verwüstung. Was wäre, wenn eines Tages ein ähnlich schreckliches Verhängnis diese Stadt treffen würde? Keiner wird das in diesem Augenblick für möglich halten. Genauso war es auch mit der Berliner Mauer. Niemand glaubte, dass sie zu Lebzeiten von einem Tag auf den anderen fallen würde.

Berlin, Holocaustmahnmal

Europas Geschichte: Eine Folge von Schrecken, Kriegen und Verhängnissen, die sich in immer neuen Formen wiederholen.

Wie findet man da heraus? Hilft uns die Erinnerung, neues Unheil abzuwenden?

Ist es nicht so, dass der Kult des Gedenkens auch einen Wiederholungszwang hervorrufen kann? Damit sogar das Gegenteil des Erwünschten bewirkt?

Die Historiker können auf jeden Fall kein einziges Beispiel nennen, bei dem die Erinnerung an ein Gräuel ein anderes Gräuel verhindert hat. Wille und Wunsch waren immer stärker als Einsicht.

Kreta, Hania, Werkstatt Konstantin / Konstantin übermalt die Geschichtsbücher

Mein Freund Konstantin Fischer glaubt im Gegensatz zu mir, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Um den Kreislauf der historischen Schrecken zu unterbrechen brauchten wir keine Geschichtswissenschaft, sondern Gegenwartsforschung.

Als Künstler sammelt er alte Geschichtsbücher und übermalt ihre Deckblätter. Rot steht für die Besiegten, blau für die Sieger. Die Aktion nennt er „Die Geschichtswissenschaft wechselt den Beruf“.

Konstantin durchforschte Geschichtsbücher, um die gegenwärtige Situation Europas besser zu verstehen. Was er fand, war Mord und Totschlag.

Er sagt mit Paul Valéry: „Die Geschichte ist das gefährlichste Elaborat, das die Chemie des Intellekts produziert hat. Was immer man will, rechtfertigt sie. Sie lehrt uns nichts, denn es gibt nichts, was sich mit ihr nicht belegen ließe. Ich wünsche mir ein Ende des Systems zusammengewürfelter Erinnerungen, das man Geschichte nennt.“

Konstantin hat Deutschland den Rücken gekehrt, weil seine Eltern ihm die Verbrechen seiner Großeltern verschwiegen haben.

Ich mag seine Generation, aber zugleich befremdet es mich, dass sie,

in Ablehnung ihrer Vergangenheit auch das Gute und Schöne an ihr achtlos wegwirft.

Im habe keine Angst vor Worten wie „Deutsch“ und „Nation“. Ich habe keine Schwierigkeiten, Deutschland trotz seiner Historie zu mögen. In meinen Ohren klingt der verrufene Begriff Nationalkultur nicht negativ, für mich ist er besetzt mit vielem, was mir gefällt. Zum Beispiel Adalbert Stifter.

Kreta, Dromonero

Juni 2016. Westkreta. Kirmes in der Kirche des Propheten Elisäus.

Immer wieder beschäftigen mich die bizarren Umstände, die den Anfang der neugriechischen Nation bestimmten:

Nach der Befreiung von den Osmanen erhielten die Griechen von den Deutschen und König Otto ein neues Narrativ, das jedoch von einem idealisierten Griechenlandbild geprägt war und deshalb scheitern musste.

Die Griechen entsprachen nicht den weissen Statuen, sie waren zu bunt.

Eine Folge von Missverständnissen bestimmte den weiteren Verlauf:

So schlug während der deutschen Besatzung im zweiten Weltkrieg die Griechenlandliebe der Philhellenen bisweilen in Hass und Rassismus um.

In den 60er Jahren dann flammt eine neue Liebe auf, bei deutschen Touristen, unter Vorzeichen wie Sonne, Retsina und Bouzouki.

Vier Jahrzehnte später wiederum, als Griechenland pleite ging, kommt es jetzt zu deutschen Bestrafungsgelüsten. Georg Seeßlen dazu: „Im Griechen hasst der Deutsche seine eigene unterdrückte Lust und seinen eigenen unterdrückten Willen zur Rebellion“.

Berlin, DomAquarée, Jeppe Hein – Brunnen

Oktober 2015. Ich sichte mein Material, das ich inzwischen für mein Berlin-Projekt gedreht habe. Angefangen hatte es mit meinem Staunen über die Präsenz der klassizistischen Elemente im europäischen Norden. Jetzt gibt es vielleicht die Möglichkeit eines zweiten Erzählstranges, der dem Ganzen eine neue Dimension verleihen könnte. Etwas Fiktionales, eine Utopie, die sich mit dokumentarischen Mitteln erzählen ließe: Ein Mann erzieht ein Kind. Das Kind wächst schnell und erlangt bald übernatürliche Fähigkeiten: alles, was es träumt, wird zu einer realen Welt. Einer seiner Träume sind wir, Europa. Als das Kind aufwacht und auf seine Schöpfung blickt, staunt es: Überall Leid. Es versucht Abhilfe zu schaffen und träumt von der Medizin, von Neurowissenschaften, von sozialen Reformen. Aber das Leid bleibt. Irgendwann verliert das Kind sein Interesse und träumt von anderen Welten.

Alles, was von uns bleiben wird, ist eine kurze Erinnerung in seinem Gedächtnis.

Ich hoffe, dass beide Stränge zusammen finden, ein Ganzes bilden und in einen Dialog treten können.

Text und Fotos: Nicos Ligouris.

DIALOG VON BERLIN
Aus dem Tagebuch eines griechischen Kulturkorrespondenten

STAB
Buch, Regie, Kamera, Schnitt, Erzähler: Nicos Ligouris
Musikkomposition: Wolfgang Zamastil
Ton: Claus Wilbrandt
Mischung: Klaus-Peter Schmitt
Mitwirkende: Elektra und Olga Theodoridou, Konstantin Fischer
Produzent: Nicos Ligouris
Mit der unterstützung des Greek Film Centre
Co-Produzent: Jost Hering / Jost Hering Filme
80 Minuten, Color, 16:9.
Produktionsjahr: 2017

Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: Ελληνικά (Griechisch)

1 Gedanke zu „Nord-Süd-Dialog“

  1. “Aber ich muss mich ermahnen: Ich darf Norden und Süden nicht gegeneinander ausspielen”

    Aber genau das tut Herr Ligouris. Mit Deutschland als klaren Sieger des Spiels, und mit der Wiederholung verschiedener Griechenlands-Narrativen, die man aus den Feuilletons-Seiten erzkonservativer deutscher Zeitungen kennt. Eigentlich eine vernünftige Entscheidung, wenn man auf eine Kino-Karriere in Berlin hofft.

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