Toló – Von Kajiks und Plattfischen

Reisebericht von Andreas Deffner

Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: Ελληνικά (Griechisch)

Griechenlandliebhaber Andreas Deffner schreibt in seinem bislang vierten im Größenwahn Verlag erschienen Buch »Made in Greece« über seinen absoluten Lieblingsort auf der Peloponnes: Toló. diablog.eu bringt die Erstübersetzung ins Griechische durch Studierende des Masterstudiengangs für Dolmetschen und Übersetzung der Aristoteles-Universität Thessaloniki unter der Leitung von Despina Lamprou.

Die Fischerei ist seit vielen Jahrzehnten die Haupteinnahmequelle vieler Familien in dem kleinen Ort in der Nähe Nafplions, der ersten Hauptstadt des modernen Griechenlands. In Toló leben heute noch rund 1.500 Einwohner, an einer der schönsten Buchten Europas. Am Ende des Dorfes, gegenüber der zauberhaften, unbewohnten Insel Romvi, wurde vor vielen Jahren ein kleiner Hafen errichtet, in dem tagsüber die vielen bunten Kajiks, die typischen hölzernen Fischerboote, vertäut liegen.

Fisch liegt auf einer Hand
Seezunge, ein seltener Fang, ©Andreas Deffner

Nachts und in den frühen Morgenstunden starten die Fischer ihre tuckernden Schiffsdiesel und fahren hinaus zu den aussichtsreichen Fischgründen. Noch immer, so schätzt das Büro der örtlichen Küstenwache – denn eine exakte Statistik gibt es offenbar nicht – liegt die Anzahl der registrierten Fischer von Toló bei rund 100. Tendenz jedoch abnehmend. Früher wurde das Handwerk, ebenso wie das Kajik, von Vater zu Sohn weitergegeben, doch mit dem Einzug des Tourismus im kleinen Fischerdorf, tauschten immer mehr junge Männer ihre Boote gegen Souvenirläden, Tavernen oder Kafenions und kehrten dem Fischfang den Rücken.

Die Bucht von Toló galt lange als sehr fischreich. Und ebenso wie die unzähligen Doraden, Barsche und Brassen tummelten sich bald auch die Touristen im sauberen, türkisblauen Wasser. In den 1990er-Jahren bekam man im Sommer manchmal kein Bein auf den Boden der Dorfstraße, die dann abends einer kirmesähnlichen Flaniermeile glich. Rosenverkäufer gingen von Bar zu Bar, aus denen laute Musik auf die Straße dröhnte. An den Kreuzungen verkauften Zigeuner bunte, heliumgefüllte Luftballons für die Kinder und die jungen Männer des Dorfes saßen in den Straßencafés und lauerten wie die Seezungen auf frische Beute: junge, gestylte Engländerinnen, hübsche Ungarinnen oder auch einige Griechinnen aus der heutigen Hauptstadt, dem knapp 150 Kilometer entfernten Athen.

Feigenkakteen
Feigenkakteen, Toló in der Ferne, ©Andreas Deffner

Der große Boom ist längst vorbei. Toló ist bei den jungen Partyurlaubern out. Zwar verbringen immer noch viele Sommergäste ihren Urlaub hier, doch an den Trubel der Vergangenheit erinnern sich nur noch die Älteren. Das Dorf findet allmählich zu seiner ursprünglichen Ruhe zurück. Fast scheint es, als ob die Tolóner den Tourismusrummel satt haben. Immer mehr junge Männer und Frauen sitzen nachmittags am Hafen, angeln und genießen die Ruhe sowie den Ausblick auf die Insel Romvi. Der legendäre Käpt‘n Stavros*, der als Einhandsegler erst aus Amerika gekommen war und dann jeden Küstenstreifen Griechenlands besegelt hatte, behauptete stets, dass das wahre Paradies in Toló liege. Spätestens, wenn man im Sonnenuntergang mit Blick auf die Insel Romvi den Duft des wilden Oregano gepaart mit dem der Pinien einatmet, weiß man, dass Stavros eine sehr exakte Beobachtungsgabe hatte.

Der Europäischen Union müsste die Entwicklung hin zu einem sanfteren Tourismus mit wenigen Fischern, die nachhaltig mit ihrer Beute umgehen, eigentlich gefallen. Doch der Umbau der griechischen Fischfangflotte scheint ihr nicht schnell genug voran zu schreiten. Mit finanzieller Hilfe versucht die EU die Anzahl der Fischer weiter zu reduzieren, und sie bietet demjenigen eine Abwrackprämie an, der sein Fischerboot verschrottet.

»Mir blutet das Herz«, sagte erst kürzlich ein älterer Tolóner zu mir, »wenn ich sehe, wie die Bulldozer dann am Hafen die handgefertigten Holzboote zerstören.« Auflage der EU. »Die Kajiks kann bald niemand mehr bauen. Ein schwieriges Handwerk. Und wenn es keine Fischer mehr gibt, warum sollte es dann noch Bootsbauer geben?«

Junge mit zwei Fischen
Plastikboot und stolzer Fang, ©Andreas Deffner

Doch was sollen die Fischer, die die hohen Stilllegungsgelder bekommen haben, künftig tun? Schon früher, als die Touristen noch in Scharen kamen, war es nicht leicht, mit einer neuen Geschäftsidee Fuß zu fassen. Fischtavernen gab es ebenso reichlich wie Souvlaki-Grillbuden, und die Urigkeit der authentischen alteingesessenen Läden der ersten Stunde konnte man auch nicht erreichen. Jetzt in der Krise ist die Situation ungleich schwieriger. Fast jedes zweite Geschäft stand über Jahre leer, auch, wenn es sich langsam zum Besseren zu wenden scheint. Doch noch immer kämpfen das Dorf, die Hotels, Pensionen und die Tavernen ums Überleben und neue Arbeitsplätze außerhalb des Tourismus sind nicht in Sicht. Was macht also ein ehemaliger, dank EU-Unterstützung jetzt bootsloser Fischer? Er kauft sich von einem Bruchteil der Abwrackprämie ein neues, billiges Plastikboot, meldet es neu an und geht wieder seiner früheren Beschäftigung nach. Die Differenz, die ihm bleibt, gleicht dann auch die krisenbedingten finanziellen Einbußen aus.

Mit der Finanzkrise ist neben der Wirtschaft auch die Nachfrage nach edlen Fischen eingebrochen. Diejenigen, die sich einen Restaurantbesuch noch leisten können, greifen statt zur Dorade oder Seezunge lieber zu Sardellen oder Ährenfischchen. Die auch trotz Abwrackprämie nicht reichen Fischer sind hier die Leidtragenden.

Auch Perikles spürt die kulinarische Zurückhaltung der Griechen. Auf der Terrasse seiner Fischtaverne »To Neon«, die in bester Lage von Toló direkt am feinen Sandstrand zum Verweilen unter den Schatten spendenden Paradiesbäumen einlädt, ist es längst nicht mehr so überfüllt wie in den 1990er-Jahren. Seit 1950 existiert die authentischste Gaststätte des Ortes. Eine der ersten war sie, als Perikles’ Eltern sie seinerzeit errichteten. Vater Aristides war auch Fischer und er tat das, was er am besten konnte. Täglich landete nur der fangfrische Fisch in den Pfannen und Töpfen seiner Frau Vangelio. Und gemeinsam beherbergten sie in den wenigen Gästezimmern oberhalb des Gastraums jahrzehntelang mit unverfälschtem Filotimo, dem herzlichen griechischen Lebensgefühl, in- und ausländische Feriengäste. Nicht minder engagiert, freundlich und immer gut gelaunt führt Perikles heute mit seiner Schwester Irini das Geschäft. Ein Abend auf der schönsten Terrasse Tolós ist weit mehr als ein köstliches Abendmahl. Die »Taverna To Neon« ist immer auch ein Ort, an dem sich Freunde treffen, an dem man sich vom Alltag erholt und wo nicht selten auch philosophiert wird. Wahrscheinlich komme ich auch deshalb seit inzwischen 25 Jahren regelmäßig her. Ich erinnere mich an einen Besuch im April 2014, als ich gemeinsam mit Perikles über einer Platte herrlich duftender, frittierter Sardinen saß und wir über den Fischfang sinnierten. Seine Nichte Eleni brachte uns eine Karaffe mit kühlem Weißwein und einen Teller mit knackigem Salat. »Stin ygeia mas«, prosteten wir uns zu. Auf unser Wohl!

»Weißt du, die Sache mit der Abwrackprämie für Fischerboote geht mir nicht aus dem Kopf«, grübelte Perikles laut vor sich hin. »Wäre es nicht viel besser, die schönen Kajiks würden nicht zerstört, sondern in einer Art Freilichtmuseum ausgestellt?«

Buch-Cover: made in greece, Andreas Deffner

Ich griff zu einer weiteren Sardine. Ja, die echten, hölzernen Fischerboote der Tolóner werden allmählich so rar wie die Seezungen auf den Tellern der Tavernen. Eine Ausstellung oben auf dem Hügel, über den Dächern der Stadt, mit Blick auf die Bucht und die vorgelagerten Inseln wäre ein Traum. Ich musste wieder an unsere über zwanzig Jahre alte Idee denken: Eine Sesselliftverbindung aus dem Dorfzentrum den Berg hinauf, auf dessen Gipfel man sich in einem Ausflugslokal bei Frappé, Ouzo oder Bier die Zeit vertreiben könnte. Doch wer sollte in Krisenzeiten ein Museum oder gar eine Seilbahn finanzieren wollen? Zumal in einer Region, die für den Tourismus fälschlicherweise nicht mehr zu den Top-Destinationen zählt.

Als ich an diesem Abend in meinem Bett am Meer lag und dem seichten Wellenschlag lauschte, dachte ich: Wir brauchen ein EU-Förderprogramm für den Erhalt der authentischen, lebenswerten griechischen Alltagskultur!

Und als ich eingeschlafen war, sah ich im Traum ein Werbevideo. Eine sirenenartige Stimme säuselte dem Betrachter ins Ohr: »Besuchen Sie die »Taverna To Neon« in Toló! Die Seezunge unter den Fischtavernen. Und denken Sie immer daran, was wir Griechen sagen: Ich brauche keine Psychotherapie, ich brauche Griechenland, das Meer und die Sonne!«

Perikles würde ganz sicher heftig zustimmend nicken.

*Mehr über Käpt’n Stavros in Andreas Deffners Buch »Heimathafen Hellas«.

Text und Fotos: Andreas Deffner. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag aus: Andreas Deffner: Made in Greece. Abenteuer, Alltag und Krise in Griechenland. Frankfurt/Main, Größenwahn Verlag 2019. Der Text erschien in leicht abgewandelter Form erstmals im neaFoni-Magazin. Website des Autors: www.abenteuer-griechenland.eu.

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1 Gedanke zu „Toló – Von Kajiks und Plattfischen“

  1. Ein wunderschöner Text, wie so viele Texte des von mir hochgeschätzten Autors. Ein “Muss” für alle, die Griechenland ins Herz geschlossen haben. Einzig und allein: Der Begriff “Zigeuner” sollte, gerade im Blick auf die deutsche Vergangenheit des Wortes, nicht mehr verwendet werden.

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