Operation Umbenennung: Antike hui, Neuzeit pfui?

Ein Ortstermin mit Christian Gonsa, Historiker und Journalist

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Griechenland blickt auf eine lange Geschichte zurück. Aber was bleibt von ihr lebendig? Im Regelfall: die Ortsnamen. Aber die hat man in Griechenland geändert, man ist zur antiken Geschichte zurückgekehrt und hat damit das meiste, was dazwischen passierte, ausgelöscht. Der in Athen lebende Historiker und Journalist Christian Gonsa begibt sich für diablog.eu auf Spurensuche.

Eines Tages machte ich mich auf, das Schlachtfeld von Plataeae (lateinische Schreibung) zu besuchen. Ich fuhr mit dem Bus nach Theben und setzte mich dort in ein Taxi, um durch das böotische Hügelland zum nahen Schlachtfeld zu gondeln. Sanft fiel die Straße von Theben Richtung Asopos ab, links und rechts Lagerhallen, Betriebe und andere große Gebäudekomplexe. Der Fluss selbst, einst die Grenze zwischen Theben und dem im Altertum verfeindeten Plataiai (griechische Schreibung), war von der Straße aus nur eine dünne Linie von Bäumen in der Landschaft, die erst auf den zweiten Blick als Flussböschung erkennbar war. Meist überquerte man ihn, ohne es zu bemerken. Taxifahrer Dimitris schwelgte in Jugenderinnerungen. Damals gingen sie in der Marschlandschaft des Flusses auf Entenjagd. Plaudernd müssen wir auch den Mornos-Kanal passiert haben, der Trinkwasser aus den Bergen Zentralgriechenlands nach Attika führt. Ich bemerkte es nicht, denn ich konzentrierte mich auf die Geländelinien vor mir, um mir ein Bild davon zu machen, wo die Perser den Fluss überschritten haben könnten, als sie gegen die Griechen vorrückten. Vom Norden kommend fuhren wir durch die Hügellandschaft bis Erythres. Da erzählte er mir von den arvanitischen Dörfern: Hier in der Gegend hätten die meisten Siedlungen „zwei Namen“, wie Kriekuki-Erythres, Kokla-Plataies. Es gäbe noch viele Namen zu ergänzen, etwa Ntarimari-Dafni, Parapoungia-Lefktra, Pyli-Dervenosalesi, Chaironeia-Kopraina und so fort.

museumshof theben
Museumshof Theben, ©A. Tsingas

Da fasste ich mir ein Herz und nahm mir vor, Thukydides zu vergessen und Plataies so zu sehen, wie es war: Vor mir eine große, ruinöse Mauer und darinnen eine weite Wiesenfläche; vor allem aber ein paar hundert Meter weiter in den Ausläufern des Berges ein Dorf, das man im 20. Jahrhundert Plataies getauft, das aber bis dahin den Namen Kokla getragen hatte. Dort setzte ich mich ins Kaffeehaus und trank zwei Coca-Cola. Im Kaffeehaus von Kokla nun konnte ich wahrnehmen, dass ich über der Ebene, sozusagen auf einem Hochsitz, Platz genommen hatte. Dann lauschte ich den Menschen im Café. Zwei alte Männer sprachen in einer Sprache, die mir weder griechisch noch albanisch zu sein schien. Ich kam zum Schluss, dass es eine Mischung aus beidem war und hatte wohl recht damit – das Arvanitische ist stark vom griechischen Vokabular beeinflusst.

Es ist schwer zu sagen, wie sich die Mauern von Plataiai den Vorfahren der Arvaniten von Kokla präsentierten, die hier gegen Ende des 14. oder Anfang des 15. Jahrhunderts ein Winterlager einrichteten. Die Mauern werden wohl noch existent gewesen sein, ob Menschen innerhalb der Ummauerung siedelten, ist ungewiss. Der viel zu große antike Wall war schon im dritten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung als Steinbruch für eine geschrumpfte, hastig gebaute Verteidigungsanlage verwendet worden. Aus dem 6.-9. Jahrhundert gibt es keine Nachrichten. Der Name zumindest blieb erhalten, in Bischofslisten ist von „Platani“ zu lesen. Im 10. und 11. Jahrhundert entstanden im Schutt der Stadt kleine byzantinische Siedlungen, wohl Weiler zu nennen. Kirchlein sind im Gelände nachzuweisen. Waren die Weiler im 13. und 14. Jahrhundert, in der Zeit der fränkischen Herrschaft, bewohnt? Die Franzosen, Katalanen und Italiener konzentrierten sich auf die alten Dörfer, in denen sie oft Türme bauten, als Zeichen der Macht und als Sammelstellen für die abzuliefernden Steuern. Im Fall von Plataiai stand erst vier Kilometer weiter nördlich ein Turm, dieser Ort hieß denn auch Pyrgos, griechisch für „Turm“; der deutsche Geograf Philippson sah das Dorf noch und nannte es „Platzdorf“. Die große Pest und der folgende Geburtenrückgang riss schreckliche Breschen in die Bevölkerung aller europäischen Länder, Böotien inklusive.

landschaft mit hügel
Das böotische Hügelland, ©A. Tsingas

Als der Katalanenkönig Pedro IV. die Albaner um 1380 mit Steuererleichterungen nach Böotien locken wollte, da waren sie als Reiter bekannt, trainiert in Kämpfen für und gegen serbische, osmanische, byzantinische und fränkische Armeen. 1425 luden die Venezianer von Negroponte, heute Euböa, die kriegerischen Hirten ein, sich auf der Insel anzusiedeln, ausdrücklich unter der Bedingung, dass sie „cum equibus“ übersetzten. Byzantiner, Venezianer, Katalanen, Franzosen: Sie alle wollten das verödete, von der Pest heimgesuchte Land wiederbesiedeln und gleichzeitig die albanischen Reiter als Kämpfer gegen die Türken einsetzen, die immer weiter gegen Süden vorrückten. Bald wurden diese „Stradioti“, wie sie die Venezianer nannten, auch auf der Peloponnes eingesetzt, in Nafpaktos, in Nafplion, in Monemvasia, in Modon und Koron.

Eine lange Geschichte. Aber was bleibt von ihr lebendig? Im Normalfall: die Ortsnamen. Und die hat man in Griechenland geändert, man ist zur alten Geschichte zurückgekehrt und hat das meiste, was dazwischen passierte, ausgelöscht.

Einige dieser Stradioti sind uns bekannt – als Söldnerführer in Italien. Der bekannteste von ihnen ist Mercurio Bua, ganz im Geist der Renaissance, im Vollporträt, in schwarzer, italienischer Kleidung abgebildet; das Gemälde soll Lorenzo Lotto gemalt haben. Die albanischen Halsabschneider – die für jeden feindlichen Kopf einen Dukaten forderten – hatten sich in ihr griechisches und italienisches Umfeld integriert. Den Stradioti war es zu verdanken, dass die Orthodoxen in Venedig die Erlaubnis erhielten, ihre eigene Kirche zu bauen und die Messe in ihrem Ritus zu lesen. Die Kirche wurde denn auch dem heiligen Georg geweiht, dem Schutzpatron der Soldaten, noch heute stellt der Komplex eine der – vielen – architektonischen Perlen Venedigs dar.

löwendenkmal mit hund
Chaironeia, das antike Monument, ©Sawas Tsingelidis

Mit dem Namen Bua aber geht die Zeitreise von den Kriegsherren des 16. Jahrhunderts wieder zweihundert Jahre zurück zu den Hirten oberhalb der Prespa-Seen, die Anfang des 14. Jahrhunderts Richtung Süden in das griechische Pindosgebirge vordrangen und bald danach die Ebenen heimsuchten, das heißt Thessalien auf der Ostseite der Gebirgszüge und Epirus westlich davon. Für ihre Zeitgenossen waren die nomadisierenden Hirten bei ihrem Abstieg in die Winterweidegebiete der Ebene eine Heimsuchung. Ioannis Katakouzenos nannte drei der Stämme, die die Byzantiner in Thessalien bekämpften: die Bua, die Malakaser und die Mesariten. Die Bua wanderten weiter ins Tiefland nach Epirus und verschafften sich Zutritt zu Arta, wo Gjin Bua Spata als „Despot“ residierte. Der Familienverband der Shpata war eine Abspaltung der Bua, die Shpata führten den Hinweis auf die Ursprungssippe noch eine Zeit lang im Namen, obwohl sie sich bald spinnefeind waren. Längst sind die Familien, die diese Namen trugen, verschwunden, aber Malakasa und Spata sind als Orts- und Geländenamen immer noch präsent. Wer weiß schon, wenn er auf der Autobahn in die chronische Schlechtwetterzone von Malakasa am Nordosthang des Parnitha einfährt, dass Träger dieses Namens vor siebenhundert Jahren in die thessalische Ebene eindrangen und zunächst von den griechischen Byzantinern wie Teufel, Tod und Pest bekämpft wurden. Wer erinnert sich schon an Gjin Bua S(h)pata, wenn er mit dem Vorortzug zum neuen internationalen Flughafen Athens beim Ort Spata in Ostattika fährt?

Die Umsicht der osmanischen Steuerbehörden, die eine Inventur der Gebiete machten, die der Sultan eroberte, bietet die einmalige Gelegenheit, diese Menschen zu fassen, sie näher kennenzulernen. In den osmanischen Katastern des Jahres 1466 erfahren wir nicht nur, welcher Volksgruppe sie angehören und was sie produzieren – vor allem Schafwolle, und nur minimal Getreide: Wir müssen uns ja eine weitgehend brachliegende böotische Ebene vorstellen. Sogar die Namen der Familienoberhäupter sind zu lesen, denn nach ihnen sind die Dörfer benannt. Kokla, Kriekuki, Kaparelli und Parapungia werden 1466 erwähnt, doch wir lernen noch viele andere Namen und Dörfer kennen: Andreas Lykoures, Mitro Bouzourk, Pavlo Mouzaki, Martino Mouzaki, Gjin Mouriki, Nikola Sirtsi, Ilya Rapendos, Giorgi Mavrommati, Dima Kokkino und so fort. Die noch heute bestehenden, höchst griechisch klingenden Ortschaften wie Martino, Kokkino und Mavrommati gehen auf albanische Personennamen zurück.

Fabrikgelände am Meer
Larymna (ehem. Kastri, in der Nähe von Martino) mit Erzhütte, ©A. Tsingas

Ich fand es zum Lachen, als ich die Interpretation einiger Hobby-Etymologen las, dass der Name des Dorfes Kokla auf die Leichenberge der Perser zurückgehe, da das Wort vom griechischen Wort für Knochen, „kokalo“, herrühre. Ich war sehr unangenehm berührt, als ich feststellte, dass sie höchstwahrscheinlich zu einem guten Teil Recht hatten! Das Wort kommt nach vorherrschender Gelehrtenmeinung tatsächlich vom griechischen „kokala“, was vom „Knochen“ abgeleitet ist, hat allerdings mit verfaulten Persergebeinen nichts zu tun. Die Bedeutung war „fester Erdklumpen“ und ist so als kokel – kokla in den albanischen Sprachschatz übergegangen. Aus einem Gelände- und Ortsnamen wurde der Herkunftsname eines Menschen, der wiederum ganz anderswo einem Ort den Namen gab, und in weiterer Folge ein Nachname. Es gibt ein Örtchen in Albanien und vier Ortschaften in Griechenland, die den Namen Kokla oder Koklas tragen. In den venezianischen Archiven tauchen in den Mannschaftslisten der Stradioti Soldaten auf, die den Familiennamen Coclas trugen. Der Nachname hat sich bis heute erhalten. Auch ein beliebter griechischer Serienschauspieler heißt so, natürlich stammt er aus Zakynthos, wo die Stradioti seit dem 16. Jahrhundert belegt sind. Ich versuchte, mir diesen modernen Koklas mit Vollbart, Kastorhut und Wattemantel vorzustellen. Es gelang recht gut.

Einem aufrechten Griechen waren und sind solche Rekonstruktionen fremd. Für den Volkskundler Nikolaos Politis war Koklas nicht mehr als ein „unbedeutender Familienname“. Das Dorf Kokla hätte schon lange umbenannt werden müssen, da es ganz dicht an den Resten des ruhmvollen Plataiai lag, schrieb er 1920. Aber um diese Zeit hatten auch die Arvaniten selbst schon begonnen, eine immer schlechtere Meinung von ihrer Sprache zu haben. Als Griechen begriffen sie sich längst, sie hatten „griechisches Bewusstsein“, wie der Kommunist Vasos Georgiou aus Agioi Theodoroi im Saronischen Golf in seinen Lebenserinnerungen über die Bewohner seines Heimatdorfes schrieb, was immer das auch gewesen sein mochte im Lauf der Jahrhunderte. Das hinderte sie jedoch nicht daran, Hunderte von Jahren unbekümmert ihre Sprache zu sprechen. Sie nahmen sie nicht als Unterscheidungsmerkmal zu den restlichen Griechen wahr, weil in den meisten Dörfern rundum, in den Landgemeinden Attikas, über dem Berg in Böotien, auf den Inseln, in der Peloponnes dieselbe Sprache gesprochen wurde. Das änderte sich erst am Anfang des 20. Jahrhunderts: „Aber in diesen Jahren ging der Gebrauch des Arvanitischen immer mehr zurück, es wurde zu einer isolierten, kaum gebrauchten Sprache, weil die meisten Kinder begannen, in die Schule zu gehen und so verpflichtend Griechisch lernten, weil die jungen Eltern ihren Kindern verboten, Arvanitisch zu sprechen und schließlich weil mit den Hochzeiten, der Arbeit und dem Handel Menschen in den Ort kamen und sich niederließen, die nur Griechisch sprachen.“ Auch der Vater des 1910 geborenen Georgiou verbot seinen Kindern, Arvanitisch zu sprechen.

antikes theater mit vielen Menschen
Das Theater von Epidaurus (in der Nähe von Lygourio), ©K. Tsingas

Von der Pflege einer Minderheitensprache in der Schule war natürlich keine Rede. Im Gegenteil, gerade die Schule war die Hauptwaffe in der sprachlichen Homogenisierung der Bevölkerung. Ab 1909 machte die griechische Regierung dann aber neben der Hellenisierung der Bürger auch die der Landschaft selbst zum Programm, und zwar durch die Änderung der Ortsnamen. Sie richtete eine Kommission zur Prüfung und Änderung von Ortsnamen ein. Ihr Vorsitzender war Nikolaos Politis, der in München und Erlangen studiert hatte. Die Umschreibung der Geschichte wurde mit der Auffassung verbunden, dass die „fremden“ Namen, die die „alten“ ersetzten, für gebildete Patrioten die stummen Zeugen nationalen Unheils und nationaler Erniedrigungen waren; die barbarischen und übel klingenden Namen störten aber nicht nur das Sprachempfinden, sie „riefen auch einen falschen Verdacht über die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung jener Dörfer hervor, deren fremde Namen als Zeugen ihrer fremden Herkunft aufgefasst werden konnten“. Das war nicht nur eine späte Antwort auf den Provokateur Jakob Philipp Fallmerayer, der 1830 im ersten Satz seines Buches über den Peloponnes schrieb: „Das Geschlecht der Hellenen ist in Europa ausgerottet“, und der der Meinung war, Philhellenen und griechische Nationalisten jagten mit der Neugründung Griechenlands einem „leeren Phantom“ nach. Das war vor allem eine Antwort auf balkanische Nachbarvölker, allen voran die Bulgaren, die dieselben Teile des osmanischen Kuchens beanspruchten wie die Griechen.

Wer sich fragt, warum Griechenland daran ging, Ortsnamen zu ändern, muss sich nur an den unseligen, blutigen Мakedonischen Kampf um die Herzen und Zungen der Bewohner des noch osmanischen Makedoniens erinnern, der in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zwischen griechischen und slawischen Banden geführt wurde. Als ein großer Teil dieses Makedoniens nach den Balkankriegen 1912 und 1913 – und nach den Friedensverträgen am Ende des Ersten Weltkrieges – tatsächlich an Griechenland fiel, wurde dort den slawischsprachigen Kindern in der Schule die Muttersprache aus dem Kopf geprügelt, vor allem unter dem Diktator Ioannis Metaxas 1936-1941. Auch den muslimischen Albanern in Epirus, den Tschamen, wurde ihre Sprache verboten. Sie waren zum Politikum geworden, denn im Gegensatz zu den Arvaniten in Zentralgriechenland orientierten sie sich am neuen Nachbarn, der jungen Nation Albanien.

Nicht weniger als 1.805 „fremde“ Ortsnamen wurden in Makedonien geändert, im Epirus immerhin 454, in Mittelgriechenland inklusive Böotien 519, die Nennung der alten Namen bei Strafe verboten. Die Professoren der Kommission aber – unter anderen der Volkskundler Politis, die Archäologen Christos Tsountas, Panagiotis Kavvadias, der Historiker Dimitris Kampouroglou – dachten viel zu komplex für schnelle Entscheidungen. Bald beschränkten sie sich darauf, die Vorschläge der lokalen Träger des Griechentums – übereifrige Lehrer, Priester, Beamte und in den eroberten Gebieten Militärs – zu genehmigen, ihre absurden Fehlbenennungen mit Kopfschütteln zu kommentieren oder sich darüber lustig zu machen, wie Kampouroglou. Auch die Ebene von Plataies blieb von Fehlbenennungen nicht verschont: Kriekuki wurde in Erythres umbenannt, dessen antiker Vorläufer viel weiter östlich lag, bei Ntarimari-Dafni, wie schon der britische Offizier William Martin Leake feststellte.

Insgesamt wurden in Griechenland zwischen 1913 und 1996 exakt 4.413 Ortsnamen geändert. Kunstnamen vergab man aber auch später noch, im Rahmen der Gemeindezusammenlegungen 1996/1997 und 2010/2011, bei denen etwa zwei Drittel der Gemeinden von der Bildfläche verschwanden. Den neuen Großgemeinden verordnete man nicht selten antike, „abstrakt“ anmutende Kunstnamen, um die Gegensätze zwischen real existierenden Ortschaften auf lokaler Ebene nicht weiter anzuheizen. Wer die Beschreibungen mittel- und neuzeitlicher Reisender liest, könnte glauben, sie wären durch ein anderes Land gereist.

ortstafel ligourio
Das Ortsschild von Lygourio, ©Christian Gonsa

Oft sind Namensänderungen natürlich völlig freiwillig, etwa wenn sich eine Ortschaft nach seiner archäologischen, touristischen Hauptattraktion benennt. Dass es sich um so einen Fall handelte, dachte ich mir, als ich einst bei der Dorfeinfahrt von Lygourio im Peloponnes sehen musste, dass der Ort nun Asklipieio hieß, nach dem berühmten Heiligtum des Asklipeios mit dem antiken Theater sechs Kilometer weiter in Epidavros. Doch die Geschichte ist um vieles komplizierter und tatsächlich eine Folge der absurden Sturheit der griechischen Bürokratie; eine Art Schulbeispiel zur Funktionsweise von zum Selbstzweck gewordenen Apparaten. 1997, anlässlich der Gemeindezusammenlegung des Programms Кapodistrias, wurde als Sitz der Gemeinde Asklipieio die Siedlung Asklipieio bestimmt. Niemand in Lygourio wollte davon gewusst haben, es gab keinen Gemeinderatsbeschluss dazu noch eine Stellungnahme des Toponymen-Rats im Innenministerium, und dennoch musste man davon ausgehen, dass Lygourio nun Asklipieio hieß, denn so war es schließlich im Parlament beschlossen worden. So änderte man die Straßenschilder von Lygourio in „Asklipieio“ und die Einwohner nahmen den Kampf um ihren alten Namen auf. Alle Beschlüsse und Anträge blieben jedoch zunächst unbeachtet, weil der Toponymen-Rat, der für Änderungen zuständig ist, jahrelang nicht einberufen wurde. Und als er dann 2012 tagte und sich mit dem Thema befasste, wurde die Namensänderung abgelehnt. Warum? Weil es sich um keine Umbenennung, sondern eine Verlegung gehandelt hatte, wie der Rat beschied. Denn es gab tatsächlich eine Häuseransammlung mit dem Namen Asklipieio an der Ausgrabungsstätte des Heiligtums, die 1997 durch einen offensichtlichen Fehler zum Verwaltungszentrum der Gemeinde gemacht worden war, ohne ein einziges öffentliches Gebäude zu besitzen! So dachte man weitere drei Jahre nach, bis man 2015 eine Lösung fand. Man erließ folgenden Beschluss: „Der Sitz der Gemeinde Asklipieio wird nach Lygourio verlegt.“ Anstatt 1997 im Lauf von ein, zwei Wochen einen offensichtlichen Fehler zu korrigieren, hatte der Staat 18 Jahre gebraucht, um Lygourio wiedererstehen zu lassen, freilich ohne seinen Fehler zuzugeben, sondern unter der absurden Voraussetzung, dass die Gemeinde 18 Jahre quasi virtuell von woanders aus regiert worden war. Wobei noch die Frage zu klären wäre, ob es sich tatsächlich um ein Versehen gehandelt hatte oder gut vernetzte Gemeindepolitiker, Unternehmer oder Archäologen den Fehler bewusst in das Gesetz hineinschrieben ließen, um Lygourio im Windschatten des bekannten Heiligtums durch die Hintertür ebenfalls zu mehr Popularität und mehr Kundschaft zu verhelfen.

Text: Christian Gonsa. Lektorat: A. Tsingas. Fotos: A.&K. Tsingas, Christian Gonsa, Sawas Tsingelidis

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5 Gedanken zu „Operation Umbenennung: Antike hui, Neuzeit pfui?“

  1. Die Umbenennungen habe zweifellos einen nationalistischen Hintergrund. Indes ist das kein Privileg Griechenlands. Man denke etwa an den sog. Ortstafelstreit in Österreich, an Umbenennungen in der Türkei oder an die Germanisierung slawischer Ortsnamen in Deutschland usw…..

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    • Als Österreicherin habe ich den Ortstafelstreit in lebhafter Erinnerung, auch in Berlin und Ostdeutschland wurden ja viele Orte und Straßen umbenannt, das ist ganz bestimmt kein griechisches Phänomen. Das hat C. Gonsa gewiss auch nicht so gemeint, aber es ist ein heikles Thema in Griechenland.

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      • Aber natürlich hat es Herr Gonsa so gemeint.
        In der Umbenennung von Ortsnamen und dem Versuch, Sprachminderheiten zu assimilieren, ist Griechenland kein Einzelgänger oder eine Ausnahme – da waren ihm Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien weit voraus. Aber natürlich blendet man die eigene Geschichte gerne aus, wenn man man über Griechenland schreibt und ein gewisses Bild übertragen will, wie es so öfters in den deutschsprachigen Medien passiert. Nur hätte ich es leider von diablog.eu nicht erweitet. Anders gesagt: Geschiche hui, Propaganda pfui.

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  2. Ein äußerst interessanter und informativer Artikel, dem allerdings in meinen Augen die letzte Konsequenz fehlte! Wer Lefktra sagt, sollte auch Platees und Cheronia sagen! Der politische Hintergrund schlägt für mich in diesem Zusammenhang weniger zu Buche ( wie oben moniert ), mich interessiert – und das wurde erfüllt – eher der historisch-philologische, und natürlich inbegriffen der etymologische!

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