Isabella Mamatis: Meine verrückte Migrationsgeschichte

Die Theaterkünstlerin und Erfinderin der Langen Tafel erzählt

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Die Lange Tafel ist vielen ein Begriff: diablog.eu hat die Theaterkünstlerin Isabella Mamatis in Berlin-Kreuzberg getroffen, ihre außergewöhnliche Migrationsgeschichte aufgezeichnet und nachgefragt, wie sie schließlich auf die Idee kam, einen langen Tisch auf die Straße zu stellen und Menschen unterschiedlichster Herkunft beim Spaghetti-Essen zusammenzubringen. Die Lange Tafel ist eine Art neues Volkstheater, das mit seinen Inszenierungen eine interaktive Begegnung für den Dialog der Generationen, Religionen und Kulturen schafft und ermöglicht. Kaum einer weiß, dass die Idee dazu auf der Insel Imbros geboren wurde…

Die Großeltern aus Imbros

Die Umsiedlung der imbriotischen Griechen durch die Türken in den 20er-Jahren veranlasste meine Großeltern, nach Alexandria in Ägypten auszuwandern. Die meisten Griechen gingen nach den USA oder nach Ägypten. Mit ihnen kam auch mein Vater Dimitris als ältestes von fünf Kindern mit nach Alexandria. Mein Großvater gründete den ersten Selbstbedienungsladen nach amerikanischem Vorbild unter den sonst üblichen Kolonialwarengeschäften. Eines Tages erklärte der Lehrer meines Vaters, Dimitris solle doch studieren, weil er außergewöhnlich begabt sei. Nun hatte mein Großvater fünf Kinder und nur eins davon durfte studieren. Mein Vater wurde also ins Internat nach Salem geschickt, wo sich sehr viele Kinder von Großindustriellen aus der deutschen Wirtschaft befanden. Dort gelang es ihm, schon frühzeitig Netzwerke für sein späteres Unternehmen zu schaffen. Er hat bei der Ufa deutsche Filme aufgekauft und in den Orient gebracht. Damit hat er die erste deutschorientalische Kulturbrücke gebaut auf dem Gebiet der damals noch sehr jungen und im Aufstieg begriffenen Filmindustrie. Das war Ende der 20er-Jahre, Anfang der 30er-Jahre. Mit seinem Unternehmen mit Standorten in Beirut, Paris und Berlin, war er sehr erfolgreich, außerdem hatte er schon 3 Ehen hinter sich und zwei Kinder, meine Halbgeschwister.

Porträtfoto eines Mannes
Dimitris Mamatis

Leben in Westberlin und Hessen

Auf der Leipziger Messe lernte er 1953 meine blutjunge, blauäugige, großbusige, blonde Mutter kennen, die gerade Abitur machte. Sie heirateten und ich wurde 1955 in Westberlin geboren. Nach den Erzählungen war die Ehe nicht so einfach, denn meine Mutter wollte Sängerin werden. Ich komme mütterlicherseits aus einem sehr musikalischen Zuhause. Aber mein Vater wollte, dass sie seine Sekretärin ist. Daraus ergaben sich große Differenzen. 1957, also zweieinhalb Jahre nach meiner Geburt, starb mein Vater an Niereninsuffizienz und meine Mutter gab mich zu Verwandten. Ich wuchs dann in der Hessischen Kleinstadt Braunfels als ein kleiner griechischer Paradiesvogel auf, mit dunklen Locken und großen Augen. Damit war ich in jedem Klassenverband immer etwas Besonderes, ohne dass ich dafür etwas tun musste. Nur sprach ich überhaupt kein Griechisch, wer hätte es mir beibringen sollen, in der Nähe von Frankfurt am Main, in einem christlich-katholischen Familienumfeld? Das Haus war erfüllt von Kirchenmusik der feinsten Art – vor allem Bach, die Chöre und Orgelmusik. Diese Einflüsse haben eine große Wirkung auf mein künstlerisches Schaffen. Ich gehe immer mit einer ganz positiven, emotionalen Kraft in Bezug auf das Mensch-Sein an meine Kunst heran, ich mag keine selbstzermarternden Kopfkunstkonzepte. Die Idee der Langen Tafel beinhaltet auch den Aspekt des Abendmahls.

Die Jahre in der DDR

Meine Mutter hatte in Westberlin einen Holländer kennengelernt und geheiratet, dann sind sie zusammen in die DDR gegangen, weil der holländische Ehemann dort Sport studieren wollte. Das alles war noch vor dem Mauerbau, also vor 1961. Außerdem war mein Großvater mütterlicherseits als Komponist und überzeugte Linker ohne Parteiausschluss nach dem Krieg in die DDR berufen worden, um in Weimar die Kunsthochschule mit aufzubauen, am Beispiel, wie er es schon in Essen mit der Folkwangschule gemacht hatte. Ich lebte aber nicht mit meiner Familie, sondern hatte eine wunderschöne andere Familie, das waren meine Verwandten in Braunfels an der Lahn, mit einem großen Haus und einem herrlichen Garten, wie im Paradies bin ich da aufgewachsen. Als aber dann meine Pflegemama starb, kam ich zu meiner richtigen Mutter und ihrer neuen Familie nach Ostberlin. Das war auch nicht so einfach, denn es war Kalter Krieg und die politischen Verhältnisse machten eine einfache Migration von West nach Ost nicht möglich, nicht ohne Abstriche. So musste ich erst staatenlos werden, damit ich nicht nach meinem Staatenwechsel wie alle anderen DDR-Deutschen Ausreiseverbot bekommen hätte. Griechenland war im Kalten Krieg durch eine Militärmission in Deutschland vertreten, nicht durch eine Botschaft, so konnte mein Vater nach meiner Geburt keine griechische Staatsangehörigkeit für mich beantragen.

Letztendlich kam ich 1967 als Staatenlose nach Ostberlin zu meiner Familie. Ich hatte zu der Zeit ein hochkatholisches Menschenbild. Aber das irre war, ich war dort genau am rechten Ort. In der Pubertät wendest du dich nicht mehr so stark der Religion zu, sondern du willst die Welt begreifen. So begegnete mir in der DDR genau das Pendant zur katholischen Welt, mir begegnete der „Sozialismus“, wo alle gleich sein sollten, keine Armen-keine Reichen, jeder nach seinen Möglichkeiten,  und ich wollte helfen ihn umzusetzen. Dabei bin ich natürlich mächtig auf die Fresse gefallen, denn den Sozialismus, der mir vorschwebte, den wollte da keiner haben.

Anfang der 70er-Jahre habe ich aber dort auch ein paar griechische Flüchtlinge gefunden, die vor der griechischen Diktatur geflohen waren und in der DDR Asyl bekommen hatten. So kam ich mit jungen Griechen und Zyprioten zusammen und es entwickelte sich eine Herzenssehnsucht bei mir, diesen Menschen doch näher zu kommen, aber die Sprache war dann doch eine große Barriere. Als ich später in der DDR Schauspiel studieren wollte, war das aus politischen Gründen nicht möglich, denn ich war staatenlos.

In Ostberlin leben wir wie in einer Westenklave, du hast bei uns die Wohnungstür aufgeschlossen und warst im Westen. Es gab Westwaschmittel, Whisky, Colaflaschen, auf dem Tisch lagen Zeitschriften von Oswald Kolle, dem Sexualaufklärer der damaligen Zeit, der Spiegel, der Stern, die Bild-Zeitung neben dem Neuen Deutschland. Meine Eltern gingen zwischen Ost und West-Berlin ein und aus. Mein holländischer Stiefvater arbeitete als Dolmetscher für Französisch im Wirtschafts- und Kulturbereich der DDR, und so war bei uns Zuhause reger Verkehr von Vertretern aus Nordafrika, dem Libanon, Algerien, Marokko, Vietnam, Korea, also den Staaten, die dem russischen Sektor zugehörig waren und ihre Handelsabsichten vertraten. Mit 17, also ungefähr vier Jahre später, bin ich von zu Hause abgehauen und blieb noch ein bisschen in der DDR, verkehrte in Künstler- und Intellektuellenkreisen und führte ein Wanderleben zwischen den Wohnungen meiner Freunde. Ich machte eine Physiotherapie-Lehre am Klinikum Buch. Bei der Aufnahmeprüfung an der Ernst-Busch-Schauspielschule wurde ich abgelehnt mit der Begründung, ich sei zwar talentiert, aber als Staatenlose würde ich dann doch irgendwann die DDR verlassen und sie sähen nicht ein, warum sie einem Menschen mit solchen Möglichkeiten das Studium finanzieren sollten: Ein Schauspieler der DDR sei auch gleichzeitig immer ein Medium des Staates.

junge Leute, die sich unterhalten
©Lange Tafel

Übersiedlung in den Westen

Damit war mir klar, ich muss von dort wieder weg und so bin ich dann mit 18, als ich selbst entscheiden konnte, wo ich hingehe, nach Westberlin übergesiedelt. Hier habe ich noch eine Weile gejobbt und wollte die Welt der Arbeiter im Westen kennenlernen, ich habe am Fließband gestanden, habe geputzt und im Kaufhaus gearbeitet. Neben meinen künstlerischen Ambitionen habe ich immer die Nähe zur arbeitenden Bevölkerung gesucht, also zu einfachen Menschen, die nicht so kopflastig reden. Dann machte ich die Aufnahmeprüfung an der HdK. Da gab es 750 Anmeldungen und nur 13 wurden genommen, aber ich war eine von ihnen. Damit war mein Weg schon ziemlich vorgezeichnet. Nach dem Studium habe ich sehr interessante Rollen an verschiedenen Theatern mit Gastverträgen gespielt und lernte große Regisseure wie Peter Stein und George Tabori kennen. In der Zeit hatte ich keinen Kontakt zur griechischen Kultur. Eines Tages saß ich in der Kantine vom Schauspielhaus in Frankfurt am Main und wartete auf meinen Auftritt. Damals spielte ich die Rolle der Anstifterin eines Aufruhrs in einem Mädchenheim, im Stück „Bambule“ von Ulrike Meinhof. Am selben Tisch saß also jemand, der sagte, Mamatis, wer heißt denn hier Mamatis? Das ist ja interessant, denn mein bester Freund heißt Alexander Mamatis. Das war dann mein Halbbruder! Auf diese Weise wurde ein Treffen mit meinem Halbbruder Alexander arrangiert, der arbeitete hier in Deutschland als Reisemanager bei TUI. Inzwischen habe ich mich auch schon mehrere Male mit meinen Halbgeschwistern in Griechenland getroffen. Sie wohnen auf der Peloponnes am korinthischen Golf und gegenüber von Delphi, dem antiken Orakel.

Lange Reise zu sich selbst

Obwohl sich meine Odyssee ganz interessant anhört, stellte sich für mich bis vor zehn Jahren eine riesengroße Frage: Wo gehöre ich hin, wo sind meine Wurzeln, wer bin ich? Damit habe ich mich künstlerisch auseinandergesetzt, mit fehlten die starken, prägenden Strukturen, in denen die meisten anderen aufgewachsen waren.

Auch wenn ich in Griechenland war, habe ich mich nie wirklich Zuhause gefühlt, eher in Spanien oder Italien. Trotzdem habe ich mich künstlerisch mit der griechischen Kultur beschäftigt, z. B. habe ich eine Hörspiel-Serie zur Odyssee herausgebracht beim Schweizer Rundfunk. Im Zuge dieser Frage, wer ich bin und woher  ich komme, wollte ich auch den Geburtsort meines Vaters besuchen, wo er als Kind lebte, also Imbros, dem heutigen Gökçeada in der Türkei. Als ich 1995 mit meinem Lebensgefährten dort ankam, empfingen sie mich total herzlich, obwohl sie mich gar nicht kannten. Es gab ein großes Essen an einer langen Tafel, an der auch Deutsch gesprochen wurde, weil inzwischen türkische Gastarbeiter von Siemens und Mercedes wieder in die Heimat zurückgekehrt waren. Diese lange Tafel wurde von einem griechischen Auswanderer finanziert, der in die USA gegangen war und seinen Reichtum teilen wollte. Da habe ich nur gedacht, das möchte ich eines Tages auch mal an meinem Wohnort machen: alle einladen zu einer gemeinsamen Tafel.

2005, also zehn Jahre später, hatte ich dann im Rahmen eines großen Auftrags so viel Geld verdient, dass ich ein ganzes Jahr lang davon leben konnte, ohne arbeiten zu müssen – obwohl ich inzwischen schon eine Familie hatte. Gemeinsam mit den Kindern beschlossen wir damals, dass ich von diesem Geld die Lange Tafel finanzieren durfte.

junge Köche, die in die Kamera schauen
©Lange Tafel

Das Konzept der Langen Tafel

So kam dann 2006 die erste Lange Tafel auf der Bergmannstraße Berlin-Kreuzberg zustande. Inzwischen hatte ich aber auch einen Paradigmenwechsel hinter mir in Bezug auf meine Arbeit, ich wollte nicht mehr einfach das Format des klassischen Theaters bedienen, in dem ich sehr lange als Schauspielerin, als Regisseurin und als Autorin gearbeitet hatte. Das übliche Format unseres Theaters ist: Vorne spielen 5, hinten sitzen 500 und die müssen alle still sein, damit sie mitkriegen was diese 5 da vorne erzählen. Man darf nicht aufstehen und herumlaufen, Bemerkungen dazwischenzurufen gehört sich auch nicht. Das Theater unseres Bildungsbürgertums, wie es heutzutage abläuft, hat nichts mehr mit dem eigentlichen Theater zu tun. Zudem stört mich dieser Glamour, dieses Starbewusstsein und dieses Abgehoben sein des Schauspielers auf der Bühne. So habe ich nach einer neuen Form gesucht, nach einer demokratischeren Form, wie es möglich sein könnte, Kunst auch niedrigschwellig an die Menschen zu bringen. Dabei habe ich mir gesagt: Das Theater muss zu seinem Publikum kommen und nicht umgekehrt. Ich wollte aber auch nicht die Ästhetik des Straßentheaters bedienen, denn dort gilt ist ja wieder die Trennung von Schauspielern und Publikum.

Die Lange Tafel als Bühne für alle

Porträt einer Frau mit Brille
Isabella Mamatis

So wurde mir klar, dass es die Form der Langen Tafel ist, die in Zukunft meine Bühne sein wird, auf der sich Publikum und Akteure gegenübersitzen ohne eine Trennung zwischen ihnen: alle werden zu Akteuren. Der Schauspieler gibt eigentlich nur den Input, ich habe das Ganze dann zusammen mit meinem Kompagnon Ulf Mailänder „Dialoganimation“ genannt und eine Form entwickelt, die es dem Schauspieler trotz seiner Rolle ermöglicht, sich so transparent zu halten, dass der Gegenüber mit einsteigen kann. Die Lange Tafel, also die Bühne, ist 200 Meter lang, an der sich kleine Gruppen zusammenfinden, in denen dann das jeweilige Thema, unter dem die Lange Tafel steht, bearbeitet wird. Auf diese Weise kommen die Menschen nicht nur zu einem großen gemeinsamen Spaghettiessen zusammen, sondern es entsteht Kunst und Kommunikation im öffentlichen Raum. Jede Lange Tafel bringt regelmäßig einen Oral-History-Prozess über ein Thema in Gang. Das heißt, Zeitzeugen sprechen mit Schülern und es entsteht Geschichtsschreibung im Dialog der Generationen.

  • ein Mann mit Bouzouki an einem Tisch
    ©Lange Tafel

Die Lange Tafel geht um die Welt

Zur selben Zeit, als Zuckerberg davon sprach, dass er mit Facebook die ganze Welt vernetzen will, hatte ich die Fantasie, eines Tages geht die Lange Tafel um die ganze Welt. Und so ist es dann auch gekommen! Durch diese offene Form der Langen Tafel werden Menschen angezogen, die aus aller Herren Länder kommen. Diese Menschen haben die Lange Tafel dann in ihre Heimat gebracht, inzwischen ist sie in Los Angeles/USA, in Bobo-Dioulasso in Burkina Faso/Afrika, in Poona/Indien und in Maschhad/Iran vertreten. Also sind vier der fünf Kontinente – Europa, Asien, Afrika, Amerika – bereits mit einer Langen Tafel verbunden, 2019 kommt Australien noch dazu. Ein großer Wunsch von mir ist natürlich auch, die Lange Tafel nach Hause zu bringen, in die Heimat meines Vaters, Griechenland.

Text: Isabella Mamatis/aufgezeichnet von Michaela Prinzinger. Fotos: Lange Tafel, Meike Gieschen. Mehr Infos unter: www.langetafel-theater.de und www.denk-mal-fuer-migration.com.

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1 Gedanke zu „Isabella Mamatis: Meine verrückte Migrationsgeschichte“

  1. Liebe Michaela Prinzinger, vielen, vielen Dank für Deine schöne Sprache, mit kurzen Sätzen und kräftigen Aussagen für ein Thema, das ganz schön verschlungen miteinander ist: Migration – Gefühle und was du so alles machst, um dazu zu gehören….
    Ich danke Dir,
    Isabella

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